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Grenzenlos: Edouard Daladier packte Ende August 1939 der Zorn. "Narren" seien sie, "die Polen", "Sie werden weiter von den abgedroschenen Ideen Pilsudskis regiert," ließ der französische Regierungschef den englischen Kriegsminister Leslie Hore-Belisha wissen. In den Tagen zuvor habe nur lebhafter französischer Druck die polnische Regierung davon abgehalten, militärisch in Danzig einzumarschieren. Zwar sei dies im Prinzip in Ordnung und ganz besonders dann, wenn die Stadt ihre Zugehörigkeit zum Deutschen Reich proklamieren sollte, aber die günstige Zeit für solche Operationen sei inzwischen vorbei. Sie könnten sich negativ auf die Weltmeinung darüber auswirken, wer im kommenden Konflikt mit Deutschland eigentlich im Recht sei. Als es die französische und englische Regierung im vergangenen Frühjahr [1939] ins Belieben der Warschauer Verantwortlichen gestellt hatten, bei einem Angriff auf Deutschland zu jeder Zeit englische und französische Bündnispflicht einfordern zu können, hatte man in London und Paris nicht geglaubt, derart beim Wort genommen zu werden. Nun drohten die Dinge außer Kontrolle zu geraten. Die 'abgedroschenen Ideen' des zu diesem Zeitpunkt bereits vier Jahre verstorbenen früheren Diktators Pilsudski liefen, wie in diplomatischen Kreisen allgemein bekannt war, auf eine polnische Militäroffensive gegen Deutschland hinaus. Mit diesem Mittel gedachte er das Problem einer drohenden Revision der deutsch-polnischen Grenzen zu lösen, wie sie nach 1918 in Versailles gezogen worden waren. In Deutschland waren sie von keiner wichtigen Partei akzeptiert und von keiner deutschen Regierung bilateral gegenüber Polen anerkannt worden. Andererseits galten sie auch in polnischen Regierungskreisen als keineswegs befriedigend oder endgültig und müßten sehr wahrscheinlich zu gegebener Zeit durch eine weitere militärische Auseinandersetzung erst bestätigt, besser noch erweitert werden. Vor diesem Hintergrund hatten der polnische und französische Generalstab in den zwanziger Jahren einen gemeinsamen Kriegsplan gegen Deutschland ausgearbeitet, der in einer ersten Phase die Besetzung Danzigs sowie von Teilen Schlesiens und Ostpreußens durch polnische Truppen vorsah. Dann sollte die französische Armee falls nötig ebenfalls eingreifen und ein gegebenenfalls später abzuschließender Friede würde der Republik Polen eine weitere bedeutende und von Deutschland bilateral anerkannte Gebietserweiterung bescheren. "Zweimal im Jahr" fragte Pilsudski während des Bestehens der Weimarer Republik in Paris an, ob dort Rückendeckung für eine solche Aktion bestehen würde, so spöttelte Robert Vansittart später in seinen Memoiren, zu dieser Zeit der Amtschef des Außenministeriums und starker Mann der englischen Außenpolitik. Man rechnete in Berlin Ende 1920er Jahre durchaus mit einem solchen Schritt. Schlesien sollte in diesem Fall geräumt, Ostpreußen und Pommern hinhaltend verteidigt werden. Lediglich dem direkten Durchmarsch polnischer Truppen auf die deutsche Hauptstadt sollten sich deutsche Streitkräfte entgegenstellen. Da es aber aus Paris keine Rückendeckung für die Angriffspläne des polnischen Diktators gab, selbst als in Deutschland der Chef der Nationalsozialistischen Partei die Regierungsgeschäfte übernahm und da Pilsudski ein Mann des "Entweder-Oder" war, wie Vansittart feststellte, schloß er im Januar 1934 einen Nichtangriffspakt mit Deutschland. Pilsudskis Gedanken über einen deutsch-polnischen Konflikt waren Ausdruck der schwierigen inneren und äußeren Lage der 1918 wiedergegründeten Republik Polen. Sie fand sich in einem internationalen Beziehungsgeflecht wieder, dessen Struktur trotz des formellen Friedens von Versailles weiterhin keineswegs gefestigt war. Es war dieser permanente Schwebezustand, der Beobachter wie Winston Churchill nach 1945 davon sprechen ließ, in der Zeit seit 1914 einen "dreißigjährigen Krieg" erlebt zu haben. Die mitten in diesem Konflikt geschaffene neue polnische Republik hatte weder ihr staatliches Selbstverständnis gefestigt, noch galt sie als international anerkannte Größe. Über eine Phase von mehr als hundert Jahren hatte es keinen polnischen Staat mehr gegeben, seit er in der letzten polnischen Teilung durch Rußland, Österreich und Preußen gemeinsam liquidiert worden war. In dieser Zeit war in Polen darüber nachgedacht worden, warum sich eine solche nationale Katastrophe ereignen konnte, wie sie rückgängig zu machen und auf welche Weise sie für die Zukunft zu verhindern sei. Der hoffnungslosen Lage gemäß wurde in diesen Debatten radikal gedacht, zumal nachdem die verschiedenen Versuche gescheitert waren, mit der Parteinahme für Frankreich in den napoleonischen Kriegen oder Aufständen gegen die russische Herrschaft wieder eine polnische Unabhängigkeit zu erzwingen. Bonapartes Kommentar nach dem Fiasko seines Rußlandfeldzugs, er habe nichts verloren, denn es seien hauptsächlich Deutsche in seiner Armee gewesen, war insofern nicht zutreffend. Auch ein polnisches Expeditionskorps hatte die Große Armee begleitet und war nicht zurückgekehrt. Unter dem Eindruck dieser andauernden Mißerfolge entwickelte sich das besetzte Polen in den Folgejahrzehnten zu einem Laboratorium des aufkommenden neuen europäischen Nationalismus, mit seinem ausgedehnten Geschichtsbewußtsein, seinem kulturellen Überlegenheitsgefühl und seinen Feindbildern. Unter dem Einfluß romantisierenden Denkens wurde im 19. Jahrhundert nicht ohne Parallelen zur deutschen Romantik auch in Polen das Volk als Träger der Geschichte entdeckt. Herders Polenbild vom friedlich siedelnden und von aggressiven Nachbarn überwältigten Bauernvolk hatte nachhaltigen Einfluß auf das neue polnische Selbstverständnis. Allerdings öffnete unter anderem dieses Klischee die Tür zu den Behauptungen, dieses Bauernvolk würde eigentlich immer noch auf dem gesamten Boden Preußens leben und sei dort nur unterdrückt. Als 1808 mit dieser Begründung zum erstenmal die Oder-Neisse-Linie als polnische Grenze gefordert worden war, blieb dies die Stimme eines Außenseiters. Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurden jedoch auf diese Art zunehmend häufig Teile Deutschlands zum Gegenstand polnischer Ansprüche, die entweder niemals oder nur vor Jahrhunderten für kurze Zeit zum Königreich Polen gehört hatten. Es entwickelte sich ein ausgedehnter polnischer "Westgedanke". West- und Ostpreußen, Pommern und Schlesien waren die meistgenannten Ziele, aber auch Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen gerieten ins Blickfeld. Ja, vereinzelte Stimmen orteten gar das Rheinland und Schwaben als Bereiche polnischer Tradition. Dieses neue Selbstbewußtsein fand seine Entsprechung in Ideen über die kulturfördernde Sendung des polnischen Einflusses weiter im Osten, gegenüber der Ukraine und Weißrußland und dem traditionell in Personalunion mit Polen verbundenen Litauen. Hier waren Parallelen zum Selbstverständnis der deutschen Ostsiedlung unverkennbar, wie es zu dieser Zeit auf den Lehrstühlen mancher deutscher Historiker entwickelt wurde. Dies alles hätten akademische Blüten bleiben können, hätte nicht der Verlauf des Ersten Weltkriegs zu einer ungeahnten Konjunktur solcher Vorstellungen geführt. Statt kurz zu sein, wie es die Hoffnung aller Seiten gewesen war, dauerte er Jahre, zwang die Staaten zur Mobilisierung aller sozialen Schichten und ethnischen Gruppen und erschütterte sie langfristig durch sozial wie national motivierte Revolutionen eben jener Mobilisierten. Der deutsche Versuch, den polnischen Unabhängigkeitswillen mit der Proklamation eines Königreichs Polen zu eigenen Gunsten zu nutzen, fand wenig Resonanz. Eine "polnische Legion", die unter dem Kommando des späteren Staatschefs Pilsudskis zunächst als prodeutsches Unternehmen firmierte und in deren Reihen sich allerlei spätere Prominenz der polnischen Republik fand, darunter der Leiter der Außenpolitik von 1932-1939, Josef Beck, erwies sich als politisch undurchsichtig. Der polnische Staat konstituierte sich erst 1918, als alle drei Teilungsmächte nicht zum Widerstand fähig waren oder wie Österreich-Ungarn gar nicht mehr existierten. Erst in den Aufbau dieses Staates flossen die verschiedenen politischen Konzepte ein, die innerpolnisch entwickelt worden waren. Als Konsens in der Frage äußerer Grenzen hatte sich die historisch begründete Ansicht herausgebildet, mit gutem Recht das Territorium von 1772 verlangen zu können, dem Jahr der ersten polnischen Teilung. Das bedeutete einen Affront gegenüber den Westmächten, die unter den Vorzeichen der proklamierten nationalen Selbstbestimmung im Prinzip weniger eine historische als eine ethnische Grenzziehung im Sinn hatten. Der polnische Versuch, die Uhren eineinhalb Jahrhunderte zurückzustellen, stellte aber auch die Unabhängigkeitsansprüche von Litauern, Ukrainern und Weißrussen in Frage. Da die Grenzen von 1772 international nicht verhandelbar waren, blieb der Griff zur Waffe. Zwar geriet der polnische Angriff auf die Sowjetunion nur zum Teilerfolg, den Pilsudski 1920 mit dem Ziel einer Abspaltung von Ukraine und Weißrußland und deren Integration in eine Förderation unter polnischer Führung geführt hatte. Der Frieden von Riga ließ allerdings bedeutende Gebiete beider Länder bei Polen. Von der ukrainischen und weißrussischen Bevölkerung wurde in der Folgezeit radikal verlangt, ihr angeblich polnisches Kulturerbe anzuerkennen. Litauen blieb unabhängig, mußte jedoch eine dauerhafte polnische Besetzung des zur Hauptstadt proklamierten Wilna hinnehmen. Beides war ein Spiegelbild zu der immer wieder von der Agitation polnischer Interessenverbände vorgebrachten Behauptung, der überwiegende Teil der Deutschen östlich von Oder und Neiße seien eigentlich germanisierte Polen, beherrscht von einer schmalen eingewanderten deutschen Oberschicht. Solche Gedanken äußerten sich in zahlreichen Publikationen der Vor- und Zwischenkriegszeit. Sie schlugen sich in den zwanziger Jahren etwa in den Arbeiten des polnischen Generalstabsoffiziers Baginski nieder, die Einfluß gewannen, mehrere Neuauflagen erlebten und eine Kontinuität begründeten. Bald nach Kriegsausbruch bekam Baginski während des Winters 1940/1941 im Londoner Exil die Gelegenheit, sich erneut mit einer Übersetzung seiner Schriften zu Wort zu melden. So konnte nun auch die westliche Öffentlichkeit nachlesen, was nach polnischer Lesart schon seit den zwanziger Jahren zu tun war: "Es wird niemals Frieden in Europa geben, bis Preußen ausgelöscht ist und die deutsche Hauptstadt von Berlin, das auf slawischem Gebiet erbaut wurde, nach Frankfurt am Main verlegt sein wird. Deutschland kann nur harmlos werden, wenn seine slawischen Eroberungen rückgängig gemacht werden." Radikale Kräfte gibt es immer und überall. Wichtig an diesen Formulierungen aus den zwanziger Jahren war daher weniger, daß sie überhaupt geschrieben worden waren, als daß sie von einem aktiven und hohen Offizier stammten, der erst in den polnischen Generalstab versetzt wurde und bis 1939 dessen Mitglied blieb, nachdem er öffentlich die Eroberung Ostpreußens und die Verlegung der deutschen Hauptstadt gefordert hatte. Baginski stellte seine Forderungen zudem auf Basis der Theorie des "Dritten Europa" oder "Intermarium", die unter der Leitung von Außenminister Jozef (Josef) Beck in den dreißiger Jahren das Leitmotiv der polnischen Außenpolitik werden sollte. Nach dieser Theorie diente Polen analog zu Frankreich (Atlantik–Mittelmeer) und Deutschland (Nordsee–Adria) als dritte europäische Verbindung zweier Meere (Ostsee–Schwarzes Meer). Damit waren die polnischen Gebietsansprüche deutlich bezeichnet, auch deswegen, weil die Mündung der Oder üblicherweise als westliches Ende dieser Verbindungslinie galt. Der 1939 ausgebrochene Krieg überwand weitere Hemmungen und so nannte Baginski im englischen Exil dann die Elbe einen "großen slawischen Fluß" und gab eine Karte bei, auf der Polens "historische Grenzen" kurz vor Braunschweig endeten. Zwar erhielt der Rhein nicht das Prädikat eines slawischen Flusses, wurde aber als Grenze ins Auge gefasst, denn "im Großteil des heutigen Deutschland, bis hin zum Rhein, wohnten vor zweieinhalbtausend Jahren slawische Völker." In Bezug auf Ostpreußen war es mit der bloßen Eroberung ausdrücklich nicht mehr getan. Nur die Vertreibung der Bevölkerung wäre eine Endlösung für dieses dornige Problem. Dies war keine Publikation eines versprengten Radikalen, sondern eine Veröffentlichung aus polnischen Regierungskreisen, zu der mit Marian Kukiel der amtierende Verteidigungsminister das Vorwort geschrieben hatte. Baginski schrieb 1942 nichts wesentlich anderes als das, was er schon vor fünfzehn Jahren gesagt hatte. Dies deutete auf einen neuen Trend hin: Der Westgedanke und der Plan einer polnischen Ostexpansion begannen im neuen Konzept eines gigantischen polnischen "Dritten Europa" zu verschmelzen, das von Berlin bis Borodino und von Riga bis Odessa reichen sollte, ein Konzept, das allerdings erst nach Neugründung des polnischen Staates vollständig entwickelt wurde und das dann zeitgemäß den Anspruch einschloß, Kolonialmacht zu werden. Die daraus resultierende, schwer überbrückbare Differenz zwischen dem polnischen Selbstverständnis und seinem Bekanntheitsgrad im Westen führte jedoch bereits während der Versailler Friedensverhandlungen zum Stoßseufzer des italienischen Außenministers Sforza über die polnischen Verhandlungsführer: „Wenn es nach ihnen gegangen wäre, so wäre halb Europa ehemals polnisch gewesen und hätte wieder polnisch werden müssen“. In dieser Phase und auch später zeigte sich die Ambivalenz der politischen Haltung der siegreichen Westmächte England und Frankreich zu Ostmitteleuropa. Sie fanden sich zwar zur Gestaltung einer ganzen Reihe von neuen unabhängigen Staaten in der Region bereit, die zusammen den sogenannten "cordon sanitaire" gegenüber der Sowjetunion bildeten, und zu dem unter anderem auch Polen gehörte. Dieser Gürtel hatte aber, wie der Begriff schon andeutete, lediglich eine bestimmte Funktion innerhalb der westlichen Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion wie auch im Hinblick auf Deutschland. Er deutete nicht auf eine nähere Beschäftigung mit den Interessen und Wünschen dieser Staaten und der von ihnen repräsentierten Völker hin. Folgerichtig blieb Osteuropa in der Zwischenkriegszeit von wichtigen politischen Entwicklungen ausgeklammert, unter anderem etwa trotz aller Bemühungen namentlich Polens auch aus dem Locarno-Vertrag. Während sich Westeuropa an Modellen kollektiver Sicherheit versuchte, kam in Osteuropa die Macht weiterhin aus den Gewehrläufen. In dieser Situation blieb dem polnischen Staat wenig anderes übrig, als auf die erwartete Zuspitzung der schwebenden internationalen Situation zu warten und sie dann möglichst zu seinem Vorteil nutzen. Fünfzig Prozent des Staatshaushalts flossen in die Rüstung, um für den Fall der Fälle bereit zu sein. Um dieses Erbe zu wahren, setzte der alternde Pilsudski 1932 mit Josef Beck einen Vertrauen aus Kriegszeiten als Außenminister ein. Jozef (Josef) Beck exponierte sich in der Folgezeit wegen seiner offiziös deutschfreundlichen Politik und als derjenige, der gegen den Mehrheitswillen den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt unterzeichnet habe. Tatsächlich blieb er der Pilsudski-Linie im Prinzip stets treu, unter anderen im steten Bemühen um die westliche Genehmigung für einen Offensivschlag gegen Deutschland, den er der französischen Regierung trotz des bestehenden Nichtangriffspakts 1936 nach der Rheinlandbesetzung anbot. Gleichzeitig erklärte er die geopolitische Linie des "Intermarium" zum Leitfaden seiner Politik und Warschau somit zum Mittelpunkt der eigentlichen Ostpolitik. Insofern ging er mit der Zeit über Pilsudskis Vorgaben hinaus, für den Dinge wie eine Abspaltung Ostpreußens von Deutschland und der Erwerb Danzigs realpolitische Ziele gewesen waren, wie sie sich aus den Gegebenheiten ableiten ließen. Den Tiefenstrategien der Befürworter des Westgedankens stand Pilsudski skeptisch gegenüber, denn eine internationale Billigung für deren ethnische Säuberungsabsichten in bezug auf Ostdeutschland war nirgendwo in Sicht und ohne eine solche Stütze würden sie nie durchzusetzen sein. Hier schienen sich nach seinem Ableben jedoch unerwartete Möglichkeiten zu bieten, als Außenminister Beck die zunehmende Aversion erkannte, die in den westlichen Hauptstädten gegenüber dem Nationalsozialismus herrschte. Ein scheinbar prodeutscher polnischer Außenminister mußte hier zur richtigen Zeit für einen antideutschen Schwenk einen hohen Preis einstreichen können. Der Danziger Völkerbundkommissar Burckhardt durchschaute diese Strategie und sah ihre Konsequenzen schon im Sommer 1938, wie er im August des Jahres in einem Lagebericht aus Danzig schrieb. Beck spiele kein "deutsches Spiel", wie manche Franzosen und die polnische Opposition glaubten. "Es ist ein Spiel, bei welchem man für Polen auf den höchsten Gewinn hofft, einen Gewinn, der sich ergeben soll aus einer schließlichen und unvermeidlichen deutschen Katastrophe. Jetzt hofft man im stillen in Warschau nicht nur auf die bedingungslose Integration Danzigs in den polnischen Staatsbereich, sondern auf viel mehr, auf ganz Ostpreußen, auf Schlesien, ja auf Pommern. Im Jahre 1933 noch sprach man in Warschau vom polnischen Pommerellen, aber jetzt sagt man 'unser Pommern'. Beck macht eine rein polnische Politik, eine letzten Endes antideutsche Politik, eine nur scheinbar polnisch–deutsche Entspannungspolitik seit der Besetzung des Rheinlandes und der französischen Passivität bei Anlaß dieses Vorganges. Aber man bemüht sich, die Deutschen ganz methodisch in ihren Fehlern zu bestärken." Soweit es die offiziell fixierten völkerrechtlichen Verträge anging, hatte der polnische Außenminister Grund zu Optimismus. Wenige Wochen vor Burckhardts Bericht hatte ein Besuch Duff Coopers, des amtierenden Ersten Lords der englischen Admiralität, den Grundstein für das spätere englisch-polnische Bündnis von 1939 gelegt. Westliche Rückendeckung war dank der folgenden gemeinsamen britisch–französischen Garantie erheblich mehr gegeben als in den vergangenen Jahren durch das französisch–polnische Bündnis allein. Zudem hatte eine diplomatische Revolution stattgefunden. Zum ersten Mal in der englischen Geschichte sei es der Entscheidung einer auswärtigen Macht überlassen worden, ob England in den Krieg ziehen würde, erklärte das englische Außenministerium. Die Ehre, diese Macht zu sein, war Polen zuteil geworden. Sie wurde dadurch noch erweitert, daß die französische Republik eine vergleichbare, aber detailliertere Ermächtigung zum Einsatz polnischer Streitkräfte gegen Deutschland bei voller Unterstützungspflicht unterschrieben hatte. Da es Beck 1938 ebenfalls noch gelang, den Nichtangriffspakt mit der UdSSR erneuern zu lassen, schien auch aus dieser Richtung keine Gefahr zu drohen. Insofern hatte sich die militärstrategische Lage Polens in den letzten Jahren trotz der deutschen Aufrüstung nicht verschlechtert, sondern erheblich verbessert. Die bestehenden Verträge ermächtigten die polnische Republik unzweideutig zu militärischen Maßnahmen gegen Deutschland, die von den Westmächten bedingungslos zu unterstützen waren, während die UdSSR ungeachtet jeder denkbaren Entwicklung neutral zu bleiben hatte. Anfang August 1939 drohte die polnische Regierung in Berlin militärische Maßnahmen mit Formulierungen an, die fast wörtlich die Vertragsbestimmungen mit Frankreich zitierten. Entsprechend dieser Sachlage verhielten sich die polnischen Botschafter in den großen Hauptstädten während der Sommerkrise 1939. Edward Raczynski, den polnischen Vertreter in London, ließ die drohende Kriegsgefahr kalt. Optimistisch merkte er mitten in der größten Krise am 29. August 1939 an, die Lage sei keineswegs verzweifelt, im Gegenteil "alles gehe ganz hübsch voran." Raczynski tat denn auch nichts, um etwa noch vorhandene Spielräume für Kompromisse und Verhandlungslösungen auszuloten, wie es die englische Regierung Chamberlain gleichzeitig versuchte. Mit Erstaunen und Empörung hatte er zur Kenntnis nehmen müssen, wie Außenminister Halifax ihm nach der Unterzeichnung des englisch–polnischen Bündnisvertrags am 24. August neue Ideen für einen Kompromiß mit Deutschland unterbreitete. Raczynski tat daraufhin alles, um solchen Ideen ihren Reiz zu nehmen. In der letzten Vorkriegswoche verwandelte er sich vom polnischen Diplomaten zum englischen Oppositionspolitiker, wie er später schrieb. Wichtigster Verbündeter bei dem erfolgreichen Versuch, einen Kompromiß mit Deutschland zu verhindern, sei die Gruppe um Winston Churchill gewesen. Während in London auf diese Weise ein Tauziehen um die Frage stattfand, ob es Krieg oder Frieden geben sollte, gingen die Dinge in Berlin einen nicht unähnlichen Gang. Auch der dortige polnische Botschafter Lipski sah für Kompromisse keinen Spielraum. Er habe sich nicht für deutsche Angebote irgendwelcher Art zu interessieren, erklärte er schließlich am Morgen des 31. August, als ihm der deutsche Sechzehnpunkteplan überreicht wurde. Er kenne die Lage in Deutschland nach seiner fünfeinhalbjährigen Tätigkeit als Botschafter gut und habe intime Verbindung mit Göring und anderen aus den maßgebenden Kreisen. Er erklärte, davon überzeugt zu sein, daß im Fall eines Krieges Unruhen in diesem Land ausbrechen und die polnischen Truppen erfolgreich gegen Berlin marschieren würden. Innere Unruhen und die Unterstützung der Alliierten sollten den Weg in die deutsche Hauptstadt bahnen. Wäre die internationale Lage zu dieser Zeit der Gestaltung berechenbarer Politik günstiger gewesen, hätte diese Situation eintreten können. Es ist heute kaum umstritten, daß die zugesagte Offensive der Westmächte im Herbst 1939 zum Erfolg geführt hätte, hätte sie denn stattgefunden. Das galt zumal dann, wenn der Überfall der UdSSR auf Polen unterblieben wäre. Polens Außenminister Beck hatte seine Kalkulationen auf den polnischen Nichtangriffsverträgen mit der UdSSR und den verbindlichen Unterstützungsverträgen mit den Westmächten aufgebaut. Diese Verträge wurden nach Eintritt des Bündnisfalls innerhalb von wenigen Tagen von den Unterzeichnern gebrochen. Im Fall der beiden Westmächte ist bekannt, daß sie nie die Absicht hatten, sich daran zu halten. Die Ansprüche der Republik Polen, als vertragswürdiger Partner anerkannt zu werden, waren 1938/1939 nur scheinbar erfüllt worden. Der Graben zwischen der Selbstwahrnehmung der polnischen Elite und ihrer Wahrnehmung in der machtpolitischen Realität Westeuropas blieb unüberbrückt. Unter diesen Bedingungen "Pilsudskis Ideen" und den "Westgedanken" in praktische Politik umzumünzen, mochte in den großen Hauptstädten als eine närrische Ambition wirken. Zweifellos jedoch war es nicht die einzige, die in den späten Augusttagen 1939 wirksam war.
Stefan
Scheil, Historiker, 1963 in Mannheim geboren, Studium
der Geschichte und Philosophie in Mannheim und Karlsruhe, Dr. phil. 1997 in
Karlsruhe. Er ist Autor zahlreicher Buchveröffentlichungen zur Vorgeschichte und
Eskalation des Zweiten Weltkriegs, sowie zum politischen Antisemitismus in
Deutschland, träger des Gerhard-Löwenthal-Preises für Journalisten 2005,
verheiratet und Vater von zwei Kindern.
"Polens Ambitionen und Polens Weg zum Krieg 1939" _______________________________________________ Die Deutschen in Polen 1918-1939 - Vortrag von Prof. Hartmut Fröschle |