Seit 1945 in Polen
Das geistige Tagebuch der Deutschen Von Klaus-Dieter Lehmann (*)
Die
Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin ist heute der größte Kulturkomplex in
Europa, mit siebzehn Museen, der Staatsbibliothek, dem Preußischen Staatsarchiv
und einer Reihe von Forschungsinstituten. Am Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 aber
lagen die meisten Gebäude in Schutt und Asche, die Sammlungen waren teils vernichtet,
verschleppt oder zerstreut. In einem geteilten Berlin begann der allmähliche Wiederaufbau.
Die große Chance kam mit der Wiedervereinigung. Sie
schuf die Voraussetzung für eine Zusammenführung der Sammlungen und die Wiederherstellung
und Vollendung der Gebäude. Mit den großen Museen und Bibliotheken dieser Welt gibt
es seitdem zahlreiche gemeinsame Projekte. So ist es selbstverständlich, dass die
Stiftung auch die enge Zusammenarbeit mit Polen als unmittelbarem Nachbarn Deutschlands
sucht. Mit der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau besteht ein umfassender Kooperationsvertrag,
zwischen den Museen ein reger Leihverkehr von Kunstwerken. Leihgaben befinden sich
in Posen oder Warschau, gemeinsame Ausstellungen wie „Polenbegeisterung - der Novemberaufstand
1830“ oder „Von Luther zum Bauhaus“ zeigen das gegenseitige Interesse.
Zusammenarbeit und Aufarbeitung
Gute Nachbarschaft zwischen Polen und Deutschland
bedarf aber mehr als einer professionellen Zusammenarbeit. Sie bedarf auch einer
gegenseitigen Aufarbeitung der schwierigen neueren Geschichte, damit sie nicht wie
ein Schatten zwischen unseren Ländern steht. Dass alles Deutsche den Polen seit
dem Angriff auf ihr Land durch Hitler als feindlich erschien, war nach den Erfahrungen
des Krieges nicht verwunderlich. Diese Erfahrungen führten auch dazu, dass in den
neuen Westgebieten Polens, also im früheren Pommern und Schlesien, zunächst eine
völlige kulturelle Polonisierung angestrebt wurde. Bis in die neunziger Jahre hinein
gab es faktisch keinen Erinnerungsort, der an die deutsche Bevölkerung und ihr Wirken
anknüpfte.
Aber
die Menschen, die neu hier angesiedelt worden waren, die zum Teil aus jenen östlichen
Landesteilen stammten, die der Sowjetunion zugeschlagen wurden, hatten Fragen. Sie
wollten nicht in einem Niemandsland leben, sondern die Geschichte der Landschaften
und Orte kennen. So veränderte sich allmählich die Haltung gegenüber jener Zeit,
die vor ihrer Zeit lag - die Zeit der Deutschen. Es gibt ein wunderbares, 1998 erschienenes
Buch von Olga Tokarczuk, 1962 in Warschau geboren und im polnischen Grenzgebiet
zu Hause, mit dem Titel „Taghaus, Nachthaus“. Darin schildert die Autorin Menschen,
die in einem Umfeld, einem Ort leben, dessen Herkunft tabuisiert ist. So glaubt
ein Mädchen im Buch, die deutschen Inschriften auf den Gräbern seien deshalb auf
Deutsch, weil das zum Ritual der Bestattung gehöre, so wie wir dafür auch die lateinische
Sprache benutzen. Von den Deutschen selbst weiß sie nichts.
Es geht nicht um Beutekunst
Heute aber nimmt man sich des deutschen Erbes aktiv
an, unternimmt Anstrengungen, es zu erhalten, und interessiert sich für die damit
verbundenen Geschichten. Auf diese Weise wird es zu einer besonderen Art von Gedächtnis
für die Menschen, die jetzt im Westen von Polen leben. Polen und Deutsche können
so durchaus ein gemeinsames Bild von Geschichte bekommen.
Dennoch
bleibt die Kulturgüterrückführung ein schwieriges Kapitel. Polen hat nicht wie die
Sowjetunion mit Trophäenkommissionen aktiv Kunstbeute gemacht. Es geht also nicht
um Beutekunstverhandlungen. Es geht auch nicht um Kulturgüter aus den ehemaligen
deutschen Ostgebieten - sie sind Teil der abgetretenen Gebiete. Es geht bei den
Rückführungsfragen um Kulturgüter, die nicht zu den Landschaften und Orten dieser
heute polnischen Westgebiete gehören, sondern sich zufällig und ohne organischen
historischen Bezug bei Kriegsende in Schlesien oder Pommern befanden.
Beethoven, Bach, Dürer, Luther, Goethe und andere
Den Kern dieser Sammlungen bildet die sogenannte
Berlinka. Zwischen 1941 und 1944 wurden die Sammlungen der Preußischen Staatsbibliothek
zu Berlin, um sie vor den Luftangriffen der Alliierten zu schützen, ausgelagert.
Um Verlust- und Zerstörungsrisiken möglichst zu minimieren, verteilte man die Sammlungen
auf verschiedene Standorte im damaligen deutschen Staatsgebiet. Ostdeutsche Auslagerungsorte
wurden bevorzugt, weil die alliierten Bomber sie nicht so einfach erreichen konnten.
Insgesamt gab es elf Auslagerungsorte in Schlesien und Pommern, die sich nach 1945
auf heute polnischem Staatsgebiet befanden. Von besonderer Bedeutung unter den ausgelagerten
Beständen der Staatsbibliothek waren jene Sammlungsteile, die seit 1944 in die Zisterzienserabtei
Kloster Grüssau in Niederschlesien kamen. Bis Mai 1946 wurden die Berliner Kisten
dort von den Mönchen behütet, dann wurden die Klosterbewohner gemeinsam mit der
deutschen Bevölkerung des Ortes vertrieben. Anschließend wurde das ausgelagerte
Kulturgut nach Krakau verbracht.
In den Kisten befanden sich unter anderem 590 Musikhandschriften,
Sammelhandschriften und Nachlassteile von Beethoven, Bach, Haydn, Telemann, Schubert,
Mendelssohn-Bartholdy, Brahms, Bruckner und weiteren Komponisten. Die Sammlung Autographa
mit rund 210.000 Einzelstücken enthält Briefe von Dürer, Luther, Leibniz, Kant,
Goethe, Kleist, den Brüdern Grimm und Hoffmann von Fallersleben, von Wilhelm und
Alexander von Humboldt und vielen anderen. Diese Briefe waren vor dem Krieg aus
den Nachlässen herausgelöst und in die Autographensammlung eingearbeitet worden;
sie sind aber wissenschaftlich ohne den in Berlin noch vorhandenen Kontext wichtiger
und aussagefähiger Teile beraubt. Hinzu kommen 2500 Musikdrucke und Libretti, 1400
abendländische mittelalterliche und neuere Handschriften, 19.000 orientalische und
ostasiatische Handschriften und Drucke sowie 100.000 Druckschriften mit wertvollen
historischen und thematischen Beständen.
Eine Verweigerung von deutscher Seite gibt es nicht
Es ist nicht mehr und nicht weniger als das geistige
Tagebuch der Deutschen. Darin liegt die maßgebliche Bedeutung der Berlinka. Was
das Literaturarchiv in Marbach heute für Autographen und Nachlässe ist, war vor
allem die Berliner Staatsbibliothek für die Zeit vor 1945. Diese in Polen aufbewahrten
Bestände der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek sind fraglos im Berliner Sammlungszusammenhang
entstanden und haben in ihrer Gesamtheit eben nicht den Bezug zu den ehemaligen
deutschen Ostgebieten, die heute polnisch sind.
Die Alliierten hatten bereits kurz nach Kriegsende
in ihren deutschen Besatzungszonen vorgefundene polnische Kriegsgüter restituiert.
Es ist selbstverständlich, dass polnische Kulturgüter, die sich heute immer noch
in Deutschland befinden, Polen zurückgegeben werden. So wurde beispielsweise 1992
der Posener Goldschatz, der sich damals in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz
befand, restituiert. 73 Deutschordensurkunden und ebenso die derzeit noch in München
liegenden Pontifikale aus Plock/Weichsel sowie weitere wenige Einzelstücke sind
für eine Rückgabe vorbereitet. Polnische Wissenschaftler haben freien Zutritt zu
Archiven und Sammlungen in Deutschland, um dort zu recherchieren. Die deutschen
Bibliotheken und Museen wurden Mitte der neunziger Jahre zu Suchaktionen in ihren
Häusern aufgerufen. Es sind nur wenige Einzelstücke identifiziert worden. Diese
wurden von den Sonderbotschaftern Kowalski und Eitel bereits erörtert. Es gibt also
keine Verweigerung in Deutschland.
Gemeinsamkeiten als Teil unseres Lebensgefühls
Polen und Deutschland haben eine jahrhundertealte
gemeinsame Geschichte. Phasen des friedlichen Neben- und Miteinanders wechselten
sich mit Zeiten der Feindschaft ab. Wir haben heute alle Chancen, ein gemeinsames
Europa zu bauen und die Gemeinsamkeiten zu einem Teil unseres Lebensgefühls zu machen.
Wenn wir das über die Mauern unserer Institute in die Öffentlichkeit tragen, dann
ist viel gewonnen. Damit beantworten wir vielleicht nicht alles, was offen ist.
Zur Kultur gehört aber auch die Respektierung jener Fragen, die noch nicht beantwortet
werden können, die nur nachdenklich oder - im Fall von Polen und Deutschland - hoffnungsvoll
stimmen.
Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist an einer
engen Zusammenarbeit mit polnischen Kultureinrichtungen außerordentlich interessiert.
Sie betreibt bereits jetzt eine aktive Kooperation auf den verschiedensten Gebieten.
Diese Zusammenarbeit weiter zu stärken ist unser Ziel.
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Klaus-Dieter Lehmann ist Präsident der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz. Im April 2008 wird er Präsident des Goethe-Instituts.
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