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Ein „Lebensraum im Osten“ an Donau, Inn und MoldauDie Hoßbach-Niederschrift von 1937 gilt als Schlüsseldokument zu den Kriegszielen Hitlers: Eine Mischung aus Mythos und Wahrheit von Stefan Scheil Es gibt historische Dokumente, die haben einen geradezu legendären Ruf. Das kann so sein, weil sie einfach einen allgemein anerkannten, bedeutenden geschichtlichen Vorgang dokumentieren. Andere Gründe können in früherer oder gar fortdauernder politischer Brisanz zu suchen sein. Schließlich stellt sich bei manchen Dokumenten, auf die beides soweit zutrifft, zusätzlich noch die Frage: Ist das eigentlich echt? Vor achtzig Jahren, am 5. November 1937 begann ein solches Dokument zu entstehen. An diesem außenpolitisch sowieso ereignisreichen Tag versammelte Hitler den inneren Kreis der militärischen und politischen Führung. Er tat das, um seine Überlegungen zur militärischen, wirtschaftlichen und außenpolitischen Situation Deutschlands grundsätzlich vorzustellen. Anwesend war also folgerichtig Konstantin von Neurath, Außenminister und konservatives Kontinuum im Auswärtigen Amt seit Weimarer Zeiten. Dazu kamen Vertreter der drei Teilstreitkräfte. Die nationalsozialistische Prominenz und zugleich die Teilstreitkraft Luftwaffe vertrat Hermann Göring. Alles in allem fand also eine Besprechung im kleinen Kreis statt, weder Öffentlichkeit noch überhaupt Aufzeichnungen waren vorgesehen. Doch machte das Treffen intern sofort Furore und blieb schließlich auch im Ausland nicht unbemerkt. Und einer der Anwesenden, der spätere General und damalige Major Friedrich Hoßbach, fühlte sich berufen, auf eigene Faust trotzdem Gesprächsaufzeichnungen anzufertigen, eben die weltbekannte Hoßbach-Niederschrift. Churchill und andere schmückten Darstellung aus Nach 1945 zählte Hoßbachs Text als angeblicher nationalsozialistischer Fahrplan zur Welteroberung gewissermaßen zum Kernbestand dessen, was Wissenschaftler und Laien über die Zielsetzung der NS-Außenpolitik der Jahre 1938 und 1939 zu wissen glauben. Es konkurrierten wahre, halbwahre und frei erfundene Behauptungen über das, was am 5. November gesagt wurde. Mit der ihm eigenen Theatralik brachte etwa der spätere britische Premier Winston Churchill den Inhalt der Ansprache in seinen mit dem Literaturnobelpreis gewürdigten Erinnerungen zu Hitlers Plänen wie folgt auf den Punkt: „Am 5. November 1937 entwickelte er seine Zukunftsabsichten vor den Befehlshabern seiner Streitkräfte. Deutschland brauchte mehr ‘Lebensraum’. Dieser ließ sich am besten in Osteuropa finden – in Polen, Weißrußland und der Ukraine. Dieses Ziel erforderte einen großen Krieg und nebenbei die Ausrottung der in jenen Gebieten lebenden Bevölkerung.“ So klingt es, wenn Sieger nicht nur Sieger sein wollen, sondern obendrein Geschichte schreiben. Tatsächlich steht in der Hoßbach-Niederschrift nichts von alledem, weder von Eroberungszügen im Osten noch von der Ausrottung der dortigen Bevölkerung. Der damit von Churchill schon früh erzeugte Desinformationsstandard wurde dessen ungeachtet durch die Umsetzung dieser falschen Angaben in populären Sachbüchern potenziert. Dazu trug etwa die Hitler-Biographie Joachim Fests bei, der davon schrieb, es sei am 5. November der „Aufbau eines räumlich geschlossenen großen Weltreichs“ angekündigt worden. Henry Kissingers vielgelesene Abhandlung über die internationale Diplomatie als „Vernunft der Nationen“ ließ sich sozusagen auch nicht lumpen und erklärte, es sei damals „die Eroberung weiter Landstriche in Osteuropa und der Sowjetunion zum Zwecke der Kolonisation“ proklamiert worden. Diese Liste ließe sich umfassend erweitern. Der Umgang mit der Hoßbach-Niederschrift ist also geradezu ein Musterbeispiel für die Defizite der internationalen Zeitgeschichtsforschung. Übersehen wird dagegen regelmäßig, daß ausgerechnet die Hoßbach-Aufzeichnung gerade einen begrenzten Umfang der Ziele des deutschen Diktators offenlegt. In der Tat begründete er hier noch einmal ausführlich seine Meinung, das Problem Deutschlands sei grundsätzlich der Mangel an „Lebensraum“. Für „ein bis drei Generationen“ sei dieses Problem allerdings in durchaus räumlicher Nähe zu lösen, nämlich durch den Anschluß Österreichs und Böhmen-Mährens. Er sei der Ansicht, die Westmächte hätten die Existenz von Österreich und der Tschechslowakei sowieso abgeschrieben. Falls nicht und sich politisch nichts tue, dann sei in der Tat gegen beide Staaten Gewalt anzuwenden, etwa Mitte der 1940er Jahre. Man müsse aber vorsichtig vorgehen, da zum Beispiel Polen jede deutsche Schwäche sofort ausnützen würde, um gegen das Reich vorzugehen. In irgendeinem anderen Sinn kamen weder Polen noch ein anderer Staat Osteuropas an diesem Tag zur Sprache. Die Gedankenwelt der Hoßbach-Niederschrift läßt sich demnach in etwa als Plan eines Territorialrevisionismus mit dem Ziel der Wiederherstellung des 1806 aufgelösten deutschen Reichs unter nationalsozialistischen Vorzeichen beschreiben. Damit das auch öffentlich zum Ausdruck kam, wurden die Reichskleinodien von Lanze bis Apfel nach dem wenige Monate später erreichten Anschluß Österreichs auch von Wien zum traditionellen Aufbewahrungsort Nürnberg gebracht und dort prominent plaziert. Die Alliierten hatten ihrerseits verstanden und brachten sie nach Kriegsende zügig wieder zurück nach Wien. Eine Weltkriegskatastrophe später wirken diese Pläne befremdend. So gab es denn auch Fälschungsdiskussionen, als „die Kopie einer Abschrift“ der Hoßbach-Niederschrift auf den Tisch der Anklage des Nürnberger Prozesses gelegt wurde, zunächst einmal als allgemeiner Beweis für überhaupt bestehende deutsche Kriegspläne. Hoßbach selbst hatte den Krieg überlebt und konnte befragt werden. Er erkannte den Text sinngemäß als seinen eigenen an, wollte aber für den genauen Wortlaut nicht einstehen und erklärte, Teile des Dokuments seien in jedem Fall nicht von ihm. Ähnlich äußerten sich auch andere, etwa der Angeklagte Göring und Hitlers Adjutant Nicolaus von Below, dem Hoßbach das Original 1937 gezeigt hatte. Aus ganz anderer Quelle, nämlich der zeitnahen Stellungnahme des damaligen Generalstabschefs Ludwig Beck, wird dies bestätigt. Von der Lektüre einigermaßen niedergeschmettert, erkannte er in den Plänen das mögliche Verhängnis und beklagte eine völlige Überschätzung des Werts von Österreich und des böhmischen Beckens als Basis für die deutsche Großmachtstellung. Der Versuch, sich gewaltsam in deren Besitz zu bringen, könnte jederzeit einen europäischen Großkrieg provozieren, den Deutschland eigentlich nur verlieren könne. In der Summe kann deshalb gesagt werden, daß die heute überlieferte Mitschrift paradoxerweise tatsächlich sowohl eine Verfälschung des Ursprungstextes als auch eine sinngemäß weitgehend richtige Zusammenfassung darstellt. Dazugefügt wurden anscheinend die darin notierten Einsprüche der Militärs gegen Hitlers Ausführungen, von wem auch immer. Erhalten blieb die Konzeption. Nürnberger Anklage nutzte 1946 Hoßbachs Notizen Die Heftigkeit und Hartnäckigkeit, mit der die Nachkriegspublizistik und die Nürnberger Anklage diesen Inhalt zu Welteroberungsphantasien aufplusterten, wird man wohl einem einfachen Umstand zuschreiben müssen: Es finden sich in den 1945 und danach erbeuteten Dokumenten auch sonst nirgends solche Welteroberungspläne. Man werde sehr große Schwierigkeiten im Nürnberger Prozeß bekommen, erklärte US-Ankläger Robert Jackson im Sommer 1945. Sämtliche Dokumente des deutschen Auswärtigen Amts würden sich dahingehend äußern, daß die Alliierten den Krieg erzwungen hätten. So ist die Hoßbach-Niederschrift insgesamt ein
spektakuläres Dokument der „deutschen Frage“ überhaupt. Das Alte Reich war 1806
unter internationalem Druck aufgelöst worden. Keine Politik hatte seitdem daran
etwas ändern können, ob sie habsburgisch-revisionistisch, großdeutsch-liberal
oder zuletzt republikanisch nach Weimarer Art ausgerichtet war. Ein moderner
deutscher Staatsblock in den alten Grenzen zwischen Maas und Memel, Etsch und
Belt, er war international nicht zu vermitteln. Das galt überhaupt und wohl erst
recht für ein NS-Deutschland, führt aber über dessen Existenz deutlich hinaus.
Ob dies von fortdauernder politischer Brisanz hinsichtlich der politischen
Möglichkeiten auch eines demokratischen Deutschlands ist? Aber ja. Von der
Brisanz für ein zeitgeschichtliches Weltbild, das auf derartigen Irrtümern
beruht, ganz zu schweigen.
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