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Die deutsche Rußlandpolitik
1890-1900 VorbemerkungAls der "Lotse von Bord" ging, zerfiel auch das sorgfältig geknüpfte außenpolitische Bündnis- und Vertragsgeflecht Bismarcks. Wirklicher Ersatz wurde nicht gefunden. Die deutsche Russlandpolitik im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stand im Zeichen des Niedergangs und der vertanen Chancen. Polenproblematik, Abrüstung, Zollpolitik, Orient- und Fernostfragen - trotz Bemühungen vermochten weder die Reichskanzler noch ihre Staatssekretäre die Beziehungen zu Russland auf eine langfristig tragfähige Basis zu stellen und die russische Annäherung an Frankreich aufzuhalten. Das Ergebnis dieser misslungenen Politik: die außenpolitische Situation des Reiches um 1900 hatte sich gegenüber 1890 deutlich verschlechtert. Das Thema wird auf breiter Quellen- und Literaturgrundlage dargestellt und in seiner Verknüpfung mit dem gesamteuropäischen Entwicklungsprozess betrachtet. Rezension
„Gut“ oder „schlecht“ ist normalerweise kein Kriterium historischen Urteilens. Und doch drängt sich bei der Betrachtung wilhelminischer Außenpolitik immer wieder der Eindruck auf, dass sich die deutsche Politik nicht zuletzt deswegen 1914 in einer so prekären diplomatischen Situation wiederfand, weil die Berliner Führung seit über zwei Jahrzehnten schlechte Außenpolitik betrieben hatte. Irmin Schneiders Mainzer Dissertation über die deutsche Rußlandpolitik 1890 - 1900 gibt diesem Eindruck einmal mehr Nahrung. Man sollte, darauf weist Schneider natürlich zu Recht hin, die Kraft des Rückversicherungsvertrages von 1887 nicht überschätzen, aber immerhin demonstrierte er der russischen Führung, dass Deutschland weiter Interesse an guten Beziehungen zu Russland hatte. Seine 1890 auf die deutsche Seite zurückgehende Nichtverlängerung signalisierte St. Petersburg dagegen Berliner Desinteresse an einer weiteren Pflege der beiderseitigen Beziehungen. Wenig später ließ sich die Reichsleitung auf einen veritablen Handelskrieg mit Russland gerade zu einem Zeitpunkt ein, als die Möglichkeit einer französisch-russischen Annäherung in ganz Europa diskutiert wurde. Und warum begann man Ende des Jahrhunderts mit einem stärkeren Engagement im Osmanischen Reich, obwohl man sich damit sehenden Auges in ein russisches (und englisches) Interessengebiet begeben musste? - Am Ende des Jahrhunderts war aus einer sicherlich prekären Freundschaft eine potentielle deutsch-russische Feindschaft geworden, die bereits auf den Kriegsausbruch von 1914 vorausdeutete. Warum aber misslang dem wilhelminischen Deutschland auch seine Russlandpolitik so gründlich? Irmin Schneider argumentiert auf verschiedenen Ebenen. Zunächst ist es natürlich nicht so, dass die Beziehungen zu Zeiten Bismarcks völlig unbelastet gewesen wären. Die Krieg-in-Sicht-Krise von 1875, die russische Einschätzung der deutschen Haltung auf dem Berliner Kongress, wirtschaftliche Differenzen und die Stellung Deutschlands zwischen Österreich-Ungarn und Russland hatten schon zuvor die Beziehungen zum Teil ganz erheblich belastet. Nach der Entlassung Bismarcks kam dann persönliches Unvermögen hinzu. Weder die beiden Nachfolger Bismarcks als Reichskanzler, Leo von Caprivi und Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, oder Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein als Staatssekretär im Auswärtigen Amt entwarfen eine eigene Russlandpolitik, die Bismarcks Strategie der kalkulierten Freundlichkeiten hätte ersetzen können. Die Politik des Kaisers ging über die eher ungeschickte Pflege der dynastischen Beziehungen und gelegentliche Kontinentalblockideen nicht hinaus, und im Apparat des Auswärtigen Amtes gab mit Friedrich von Holstein ein Mann den Ton an, der in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts mit Rücksicht auf eine Annäherung an England am liebsten ganz auf eine aktive Russlandpolitik verzichtet hätte und der „mindestens als problematische Persönlichkeit“ anzusehen war (S. 76). Unter diesen personellen Bedingungen - Bernhard von Bülow und Alfred von Tirpitz, die beide Ende der 90er Jahre in außenpolitische Spitzenämter aufrückten, bleiben bei Schneider merkwürdig blass - entwickelte die deutsche Außenpolitik während der gesamten 90er Jahre keine konsistente Russlandstrategie, ja über den größten Teil des Zeitraums ist eine Konzeption überhaupt nicht zu erkennen. Zum von Schneider zitierten „polykratischen Chaos“ (S. 84) und der Konzeptionslosigkeit der außenpolitischen Führung kam ein starres Festhalten an Einschätzungen der internationalen Lage noch hinzu, „deren Gültigkeit durch die Entwicklung im Verfall begriffen war“ (S. 311). Dazu gehörte die Vorstellung, dass England und Russland nie zu einem Interessenausgleich finden würden und im „Falle des unausweichlichen Konfliktes zwischen ihnen auf die Hilfe Deutschlands angewiesen“ seien, ebenso wie die, dass Frankreich und Russland ihre „Interessengegensätze im Orient und im Mittelmeer und den Widerspruch zwischen Autokratie und Republik nicht überwinden“ könnten (ebd.) oder dass sporadische Kooperation auf weltpolitischem Gebiet dem Reich das „Wohlwollen Rußlands“ ausreichend werde sichern können (S. 315). Aber Irmin Schneider argumentiert nicht nur auf der diplomatisch-politischen Ebene oder mit dem „Niveauverlust“ (S. 312) der deutschen Politik nach Bismarck. Vor allem in Kapiteln über den „politischen Wandel in Europa gegen Ende des 19. Jahrhunderts“, über „Das Grundverhältnis zwischen beiden Ländern“, über „Die Behandlung von Minderheiten“ und über „Die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen“ macht er grundlegendere Ursachen für die Verschlechterung der Beziehungen verantwortlich. Die beiden Länder entwickelten sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht nur politisch auseinander. Zu den veränderten Bedingungen gehörte vielmehr auch der zunehmend nationalistisch und rassistisch aufgeladene Blick aufeinander sowie auf die „germanische“ bzw. „slawische“ Minderheit im eigenen Land. Dazu gehörte laut Schneider auch der zunehmende Einfluss der solchen Strömungen anhängenden Massenpresse auf die Politik sowie die fundamentalen Veränderungen in den deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen. Hatten sich die beiden Länder wirtschaftlich bis in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts noch auf „glückliche Weise“ (S. 136) ergänzt, so kam es bald nach 1871 zu einem „Verfall der harmonischen Ausgewogenheit des gegenseitigen Güteraustausches“ (S. 137). Die nun verstärkt einsetzende Industrialisierung in Russland ließ den zuvor fraglos benötigten Import deutscher Industriewaren zunehmend als ärgerliche und übermächtige Konkurrenz erscheinen. Umgekehrt füllten im Reich die russischen Getreideimporte „nicht mehr nur eine Versorgungslücke aus, sondern wurden aufgrund verbesserter Transportmittel [...] zu einer Mengen- und Preiskonkurrenz für (ost)deutsches Getreide“ (ebd.). Hinzu kam ein weiterer Aspekt, der laut Schneider kaum oder gar nicht von der deutschen Politik zu beeinflussen war. Unter den veränderten Bedingungen von Politik im ausgehenden 19. Jahrhundert und durch die demographische Entwicklung und den überlegenen weltpolitischen Status ihres Landes in ihrem Selbstbewusstsein kaum zu erschüttern, war es die russische Führung, die sich nach der Ära Bismarck zunehmend von Deutschland abwandte. „Rußland war nach Ausdehnung, Selbstverständnis der führenden Kreise und politischer Programmatik eine Weltmacht“ (S. 87). Deutschland dagegen „war keine Weltmacht“ (S. 88). Das wirtschaftliche und militärische Gewicht des Reichs sowie die lange gemeinsame Grenze ließen Deutschland zwar zu einem wichtigen Akteur für die russische Außenpolitik werden, in Zeiten allgemeiner „Weltpolitik“ hatte das Kaiserreich jedoch wenig zu bieten, es kam „weder als ernsthafter Konkurrent noch als vollwertiger Partner in Frage“ (ebd.). Russland wandte sich schließlich den anderen traditionellen Weltmächten zu, Frankreich und England. Die Einbeziehung solch grundlegender, struktureller Aspekte und die gleichgewichtige Behandlung diplomatisch-politischer wie wirtschaftlicher Themen oder der Minderheitenproblematik (inklusive der „Polenfrage“) gehören zu den Stärken der Arbeit. Dagegen gerät die Analyse allgemeiner außenpolitischer Konzepte der Reichsleitung, in die dann auch die Russlandpolitik eingeordnet werden könnte, manchmal zu kurz. Die Vorstellung der „freien Hand“ erwähnt Irmin Schneider zum Beispiel nur ganz am Rande. Während er von einer fundamentalen Schwäche des Reichs im internationalen Kontext ausgeht, agierten Teile der Reichsleitung aus einem Gefühl großer Stärke heraus. Dieser Aspekt hätte zumindest bei der Suche nach Ursachen für das konstatierte Scheitern der deutschen Russlandpolitik zwischen 1890 und 1900 einbezogen werden müssen. (Ein Grund für solche Lücken könnte im übrigen sein, dass so manches Standardwerk in Schneiders Literaturliste fehlt.) Dessen ungeachtet bleibt nicht zuletzt die These von der relativen Schwäche des Deutschen Reichs bedenkenswert. Sie führt dazu, dass Irmin Schneider bei der Bewertung der deutschen Politik sorgsam zwischen solchen Faktoren unterscheidet, bei der Berlin ein Versäumnis vorzuhalten ist, und solchen, die im Kern dem deutschen Einfluss entzogen waren. Der Vorwurf, den er der deutschen Russlandpolitik macht, lautet denn auch genauer betrachtet, dass die Reichsleitung nicht oder nur unzureichend auf Veränderungen reagiert hat, deren Ursachen zum großen Teil nicht bei ihr zu suchen waren. Nicht alle Entwicklungen der internationalen Beziehungen
seit 1890, so könnte man resümieren, hingen ursächlich mit Berlin zusammen. Die
anderen Mächte - in letzter Zeit wird das vor allem für England oder auch Österreich-Ungarn
diskutiert - hatten auch jenseits der deutschen Politik Anlass, neu über ihre außenpolitischen
Konzepte nachzudenken. Folgt man Irmin Schneider, gilt für die russische Führung
Ähnliches. Auch St. Petersburg hatte ganz genuine Gründe, sich von Deutschland ab-
und Frankreich und Großbritannien zuzuwenden. Das Deutsche Reich wird auch bei Irmin
Schneider so ein Stück weit aus dem Zentrum der internationalen Politik vor 1914
vertrieben.
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