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Scheidemanns preußisches Pendant Im Zuge der Novemberrevolution wurde Paul Hirsch im Freistaat Preußen, was sein Parteifreund Philipp Scheidemann im Deutschen Reich wurde: der erste einer überschaubaren Reihe von Ministerpräsidenten. Als Folge der Novemberrevolution wurde wie im Deutschen Reich auch in dessen Bundesstaaten die Monarchie abgeschafft. Dem Kaiserreich folgte die Weimarer Republik und dem Königreich Preußen ein gleichnamiger Freistaat. Und so wie Philipp Scheidemann im nachrevolutionären Deutschland, übernahm Paul Hirsch im nachrevolutionären Preußen Regierungsverantwortung. Auch die Kürze ihrer Regierungszeit verbindet die beiden. Im Gegensatz zu Philipp Scheidemann wuchs Paul Hirsch allerdings nicht im westelbischen Preußen, sondern in der brandenburgischen Uckermark auf. Am 17. November 1868 kam der Spross einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Prenzlau zur Welt. Wie Scheidemann verlor Hirsch bereits als Kind seinen Vater. Anders als Scheidemann musste Hirsch seine schulische Laufbahn jedoch nicht aus finanzieller Not abbrechen. Vielmehr besuchte er nach dem Umzug der Familie nach Berlin dort von 1879 bis 1888 das Gymnasium zum Grauen Kloster. Der Gymnasialausbildung folgte standesgemäß ein Universitätsstudium. An der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität studierte er erst Medizin, wechselte jedoch später zu einem politischeren Fach, der Volkswirtschaftslehre. Er arbeitete in studentischen Reformgruppen mit und wurde schließlich in den 90er Jahren SPD-Mitglied. Ähnlich Scheidemann arbeitete auch er als Schriftsteller und Journalist. Ab 1896 gab er mit seinem Kollegen und Parteifreund Curt Baake die „Politisch-parlamentarischen Nachrichten“ heraus. Ähnlich wie Baake betätigte sich auch Hirsch ab 1899 als Stadtverordneter in der Kommunalpolitik Berlins. Parallel dazu gelang ihm 1908 der Sprung in die Landespolitik. Nach der Parlamentswahl vom 3. Juni jenes Jahres gehörte er mit sechs weiteren Genossen zu den ersten Sozialdemokraten, die in das preußische Abgeordnetenhaus einzogen. Dort brachte er es bis zum Fraktionsvorsitzenden. Im Ersten Weltkrieg versuchte Hirsch wie Scheidemann, ein Auseinanderbrechen der SPD über der Frage der Kriegsfinanzierung zu verhindern, und entschied sich, als dieser Versuch gescheitert war, für die Mehrheitssozialdemokratie. Während der Novemberrevolution bildete sich wie im Reich so auch in Preußen ein von Mehrheits- und Unabhängigen Sozialdemokraten dominierter Rat der Volksbeauftragten als Revolutionsregierung. Die Spitze war paritätisch besetzt. Neben dem Unabhängigen Sozialdemokraten Heinrich Ströbel wurde Hirsch einer der beiden Vorsitzenden. Zudem war der Mehrheitssozialdemokrat in dem Rat neben dem Unabhängigen Sozialdemokraten Rudolf Breitscheid für das Ressort Inneres zuständig. In dieser Funktion entließ Hirsch am 4. Januar 1919 den zum linken Flügel der Unabhängigen Sozialdemokraten gehörenden Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn, nachdem dieser sich geweigert hatte, gegen die im Stadtschloss untergebrachte Volksmarinedivision vorzugehen. Aus Protest gegen diese Entlassung verließen die Unabhängigen Sozialdemokraten den Rat der Volksbeauftragten und Hirsch blieb als alleinige Spitze und damit Regierungschef Preußens übrig. Am 13. März 1919 trat die verfassungsgebende preußische Landesversammlung, das preußische Pendant zur Nationalversammlung auf Reichsebene, zusammen und bestätigte sein Mitglied Hirsch als Regierungschef Preußens. Als Mann an Preußens Spitze hatte Hirsch vor allem damit zu tun, Zerschlagungsabsichten abzuwehren. Von jenen, die derartige Absichten hegten, seien hier drei Typen genannt. Da sind zum einen „Beutepreußen“ wie Konrad Adenauer aus den erst vergleichsweise spät zu Preußen gekommenen westelbischen Gebieten. Dann sind da jene, die, ähnlich wie die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg, Preußen vorwarfen, ein Hort des Militarismus zu sein. Als dritte Gruppe seien die Zentralisten genannt, denen ein Zentralstaat nach französischem Vorbild mit ungefähr gleichgroßen Verwaltungseinheiten vorschwebte. Gerade die Sorge vor Letzterem ließ die Lokalpatrioten in den vormaligen Königreichen Süddeutschlands – allen voran die Bayerische Volkspartei – zu maßgeblichen Verbündeten des preußischen Regierungschefs werden. Als Argument für den Erhalt Preußens führte der Sozialdemokrat dessen Tugenden an: „Preußens Aufgaben sind noch nicht erfüllt. Auf den Geist der Freiheit, der Ordnung und der Arbeit gestützt, soll es noch einmal der deutschen Nation und ihrer künftigen friedlichen Größe dienen. Preußens beste Eigenschaften, Arbeitsamkeit und Pflichttreue, braucht auch das Deutsche Reich zum Wiederaufbau.“ Außer dem Erhalt von Preußens Größe galt das Streben des alten Berliner Kommunalpolitikers auch der Schaffung eines Groß-Berlin. Auch bei diesem Großthema war Hirsch erfolgreich. Am 25. April 1920 beschloss der Preußische Landtag mit den Stimmen von Hirschs (Mehrheits-)Sozialdemokraten, der Unabhängigen Sozialdemokraten und der linksliberalen Deutschdemokraten das Groß-Berlin-Gesetz. Mit dessen Inkrafttreten am 1. Oktober des Jahres wurden die sechs kreisfreien Städte Berlin-Lichtenberg, Berlin-Schöneberg, Berlin-Wilmersdorf, Charlottenburg, Neukölln und Spandau sowie aus den umliegenden Kreisen Niederbarnim, Osthavelland und Teltow die Stadtgemeinde Cöpenick, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke eingemeindet. Die Bevölkerung Berlins verdoppelte sich dadurch auf 3,8 Millionen, das Stadtgebiet vergrößerte sich um mehr als das Zwölffache auf 878 Quadratkilometer. Zu dieser Zeit stand Hirsch allerdings schon nicht mehr an der Spitze Preußens. Er war trotz dessen schnellen Scheiterns ein verspätetes Opfer des Lüttwitz-Kapp-Putsches vom 13. März 1920 geworden. Nachdem ihm seine Partei mehrheitlich mangelnde Energie und Wachsamkeit während der kritischen Tage vorgeworfen hatte, trat er am 24. März des Jahres mit seiner Regierung zurück. Während heutzutage Spitzenpolitiker nach ihrem Sturz oder Rücktritt in der Regel ausgesorgt haben und sich als „Elder Statesman“ zumindest aus dem operativen Geschäft der Politik zurückziehen, war das bei Hirsch anders. Ähnlich wie Scheidemann machte er auf ungleich nachrangigeren Posten weiter. Vorerst blieb er in Berlin, arbeitete von Juli bis April 1920 als parlamentarischer Staatssekretär im preußischen Volkswohlfahrtsministerium und ab dem Februar 1921 als Stadtrat und stellvertretender Bürgermeister in Charlottenburg. 1925 wurde Hirsch dann als Bürgermeister nach Dortmund berufen. Unter dem seit 1910 amtierenden, also noch aus der Kaiserzeit stammenden, bürgerlichen Oberbürgermeister Ernst Eichhoff versuchte der Sozialdemokrat, seine Erfahrungen bei der Schaffung Groß-Berlins auf Dortmund zu übertragen. Das Gros der Eingemeindungen nach Dortmund erfolgte 1928/1929 und damit in der Amtszeit Hirschs als dessen Bürgermeister. Seine Planungen gingen von nachhaltigem
wirtschaftlichem Wachstum aus. Stattdessen kam die Wirtschaftskrise. Ebenfalls
1929 zog auch der erste Nationalsozialist in Dortmunds Stadtparlament ein. Vor
diesem Hintergrund ersuchte Hirsch 1932 um vorzeitige Pensionierung. Von seiner
Aufgabe in Dortmund entbunden, zog er zurück nach Berlin. Dort erlebte und
erlitt der sozialdemokratische Jude das Dritte Reich. Er verlor seinen
Pensionsanspruch und wurde mit seiner Frau in ein Zimmer eines nur für Juden
bestimmten Hauses eingewiesen. Am 1. August des Kriegsjahres 1940 starb der
71-Jährige an Schwäche und Unterernährung.
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