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Flüchtlingsschicksal Anfang 1945 flüchteten mehr als zwei Millionen Menschen über die Ostsee in den Westen. Die Rote Armee versuchte so viele Schiffe wie möglich zu versenken. Zu ihnen gehört kurz vor Kriegsende die "Goya". Der Frachter sank in sieben Minuten und riss 7.000 Menschen in den Tod - eine der größten Schiffskatastrophen der Geschichte. Es ist ein kalter Abend, dieser 16. April 1945. Sechs Grad Lufttemperatur, das Wasser der Ostsee drei Grad. Die Passagiere an Bord des Frachters "Goya" machen sich darüber keine Gedanken. Eng gepfercht sitzen die meisten von ihnen unter Deck in den finsteren Laderäumen des Schiffsbauchs. Sie sind froh nach wochenlanger Flucht aus Ostpreußen, Schlesien oder Ostpommern und nach wochenlangem Warten in Hela am Ausgang der Danziger Bucht einen der wenigen begehrten Plätze an Bord eines Schiffes gen Westen ergattert zu haben. Viele sitzen dem Irrglauben auf, jetzt endlich in Sicherheit zu sein. Schließlich soll sie die "Goya" nach Swinemünde auf Usedom bringen. In der Nacht zuvor war die "Goya" vor Hela vor Anker gegangen. Sie liegt draußen auf Reede, vom Pier gut sichtbar. Ein großes und modernes Schiff: Erst vier Jahre alt und mit seinen 18 Seemeilen Höchstgeschwindigkeit schneller als alle U-Boote. Tausende Menschen harren immer noch allein hier in Hela auf einen Platz an Bord eines Schiffes. Der Fluchtweg über Land ist von der Roten Armee abgeriegelt - und der will niemand in die Hände fallen. Die russischen Soldaten schlagen grausam auf den Feind ein - egal ob der in Zivil oder Uniform daherkommt - angestachelt durch die Hinterlassenschaften von Hitlers Russlandfeldzug: Verwüstete Landstriche, vernichtete Dörfer, deportierte Zwangsarbeiter, Millionen gefallene sowjetische Soldaten und schließlich Auschwitz. Den Rest erledigt die Propaganda. Die Zeit wird knapp Der zur Verfügung stehende Platz auf den Schiffen wird zuerst mit Soldaten und Verwundeten gefüllt. Bleibt noch Raum, dürfen auch Zivilisten an Bord. Doch die Flüchtlinge warten nicht mehr geduldig. Sie wissen längst: Die Zeit wird knapp. So stehen Tausende von ihnen an diesem Montagmorgen ungeduldig am Pier als um 7 Uhr 05 der erste Luftangriff auf Hela beginnt. Hier gibt es keine Deckung, keinen Schutz - nach Minuten zahllose Tote und Verwundete. Die "Goya" erleidet keine nennenswerten Schäden. Nur anderthalb Stunden später wiederholt sich der Horror: Erneut stößt eine Welle von Bombern aus den Wolken hervor. Dieses Mal hat die "Goya" weniger Glück. Eine Bombe durchschlägt das Oberdeck, zerstört die Minen-Eigenschutz-Anlage und das U-Boot-Ortungsgerät. Damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf, denn jetzt ist die "Goya" bei der Reise durch die Nacht auf Begleitschiffe angewiesen - und die sind viel langsamer als die "Goya". Am frühen Nachmittag prescht die dritte Bomberstaffel heran, aber es gibt keine weiteren Schäden an der "Goya". Den ganzen Tag über sind Flüchtlinge mit kleinen Schiffen vom Pier herüber gebracht worden. 6.000 Passagiere sollten an Bord genommen werden. Am Ende sind es mehr als 7.000, die genaue Zahl kennt niemand, es wurden keine Listen angelegt, keine Namen erfasst. Klar ist nur: Der größte Teil sind Soldaten und Verwundete, zudem sind ein paar hundert Zivilisten an Bord. Das Schiff ist vollgestopft mit Menschen. Kein Platz mehr unter Deck Rund tausend von ihnen bleiben an Deck. Im Bauch des Schiffes ist kein Platz für sie. Manche sind auch von dort unten wieder nach draußen geflüchtet. Zu groß ist das Gedränge, der Gestank im Schiffsbauch. Da es kein Passagierschiff, sondern ein Frachter ist, gibt es kaum Toiletten. Es fehlt an medizinischer Versorgung für die Verwundeten: Keine Ärzte, keine Schwestern an Bord. In die überfüllten Frachträume unter Deck hinab führen nur wenige behelfsmäßige Stiegen. Die Rettungswesten reichen nur für die Hälfte der Menschen an Bord und die Rettungsboote kaum für wenige hundert. Echte Sorgen macht sich nur die Mannschaft. Kapitän Plünnecke und seine Leute wissen: Sollte der Goya etwas zustoßen, sind die Menschen an Bord verloren. Die übrigen Schiffe des Geleitzuges sind genauso überfüllt, sie könnten kaum Schiffbrüchige aufnehmen. Im Schneckentempo nach Westen Um 19 Uhr setzt sich der Tross in Bewegung. Neben der Goya sind die "Kronenfels", die "Mercator" und der Wassertanker "Ägier" dabei. Insgesamt haben die vier Schiffe mehr als 15.000 Menschen an Bord. Gesichert werden sie von zwei Minensuchbooten. Der Dampfer "Kronenfels" bremst die Geschwindigkeit des Geleitzugs stark ab: Er schafft nur neun Meilen die Stunde. Ohne Beleuchtung schieben sich die Schiffe über die schwarze Ostsee gen Westen - selbst das Rauchen an Deck ist verboten, die roten Glutpünktchen könnten den Feind anlocken. Alles läuft nach Plan, bis der Verband um 22 Uhr 30 plötzlich stoppen muss: Die "Kronenfels" hat Maschinenschaden. Doch nach 20 Minuten geht die Fahrt weiter, mit Bordmitteln ließ sich der Defekt reparieren. Um 23 Uhr erhält der Zug einen neuen Befehl: Das Marineoberkommando in Kiel ordnet Kursänderung an. Ziel ist jetzt Kopenhagen in Dänemark statt Swinemünde. Die große Zahl der Flüchtlinge und der nur notdürftig reparierte Schaden der "Kronenfels" haben das MOK dazu bewogen. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer an Bord - und löst große Freude aus. Kopenhagen ist weit weg von der russischen Front, freuen sich die Menschen an Bord. Doch der Feind ist ihnen näher als sie ahnen: Nahe der Stelle, wo Ende Januar das Flüchtlingsschiff "Wilhelm Gustloff" mit 9.000 Menschen an Bord versenkt wurde, liegt das sowjetische U-Boot L-3 auf der Lauer. Der Kommandant weiß, dass die Schiffe aus Hela kommen werden. Er wartet seit Stunden. Er hat Zeit. Um acht Minuten vor Mitternacht ist es soweit. Kapitän Wladimir Konovalov hat sein Ziel im Visier: Das größte Schiff des Zuges, die "Goya". Zwei Torpedos durchpflügen die Ostsee.
Das erste trifft das Vorschiff, das zweite mittschiffs. Riesige Löcher klaffen in der Bordwand. Binnen Sekunden bekommt das Schiff Schlagseite nach Steuerbord. Viele werden durch die Einschläge getötet, die meisten ertrinken in dem hereinschießenden Wasser. Kaum einer schafft es, durch die Ladeluken nach oben zu gelangen. Aber selbst das garantiert nicht das Überleben. Hilferufe und Schreie, so berichten später Zeugen auf den anderen Schiffen, gellen durch die Nacht. Aber es gibt kaum eine Chance: Binnen sieben Minuten sinkt der Frachter auf den Grund der Ostsee. Tausende sind unter Deck eingeschlossen. Nur ein einziges Rettungsboot kann noch ins Wasser gelassen werden, aber es kentert sofort, weil sich zahllose Ertrinkende an der Bordwand festklammern. Auch die Rettungswesten helfen kaum: Im drei Grad kalten Wasser überlebt niemand lange. Binnen weniger Minuten ersterben die Hilfeschreie. Die Rettungswesten halten die erstarrten Körper über Wasser. Wer kann, versucht auf schwimmende Kisten, Planken oder die wenigen Rettungsflöße zu gelangen - die einzige Überlebenschance. Volle Fahrt nach Kopenhagen Die "Mercator" nimmt sofort nach den Torpedoschüssen volle Fahrt mit Kurs Kopenhagen auf - nur weg. Das Schiff hat selbst 5.500 Flüchtlinge an Bord. Das Sicherungsboot M328 nimmt die Verfolgung des U-Boots auf, um weitere Torpedoangriffe zu verhindern. Der Wassertanker "Ägier" und das zweite Sicherungsboot beginnen mit der Bergung der Schiffbrüchigen. Später kommt auch M328 hinzu. Doch am Ende bergen sie nur 177 Überlebende von den mehr als 7.000 Menschen an Bord. Zeit für Gedenken bleibt damals nicht. Sterben gehört zum Kriegsalltag. Die Evakuierung aus dem Osten, die viel zu spät begonnen hatte, wird mit Hochdruck fortgesetzt. Nahezu alles, was schwimmen kann, holt in jenen Tagen noch Menschen aus den eingekesselten Ostseehäfen. Drei Wochen später ist der Zweite Weltkrieg zu Ende. Erst 58 Jahre nach dem Untergang, am 17. April
2003 wurde das Wrack der "Goya" auf dem Grund der Ostsee vor der polnischen
Küste in 76 Metern Tiefe entdeckt.
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