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Die Abrechnung von Nürnberg Als „Tribunal der Sieger“ bezeichnete der Historiker Werner Maser im Untertitel seines Buches „Nürnberg“ die Verfahren gegen die als Hauptkriegsverbrecher angeklagten Akteure des NS-Staates. Vor 70 Jahren, am 1. Oktober 1946, endete mit der Verkündung der Urteile der erste und größte Prozess. Seit Eröffnung des Verfahrens wird in Abrede gestellt, bei dem Prozess habe es sich um Siegerjustiz gehandelt. Doch wenn Sieger über Besiegte urteilen, dann ist es Siegerjustiz, gleichgültig, wie die Urteile ausfallen, welche Schuld die Angeklagten auf sich geladen haben. Der aus Heidelberg stammende, 1933 emigrierte Staats- und Verfassungsrechtler Otto Kirchheimer erklärt in seinem Standardwerk „Politische Justiz“, in politischen Prozessen vor Gerichten eines siegreichen Regimes seien „die Richter in gewissem Sinne Siegerrichter“. Der aus einer jüdischen Familie stammende Sozialdemokrat Kirchheimer war 1933 nach Paris und später nach New York emigriert. Dass die Sieger den geschlagenen Feind nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ungeschoren davonkommen lassen würden, war abgemachte Sache. Winston Churchill wollte kurzen Prozess machen, 100 Hauptkriegsverbrecher für „gesetzlos“ erklären und hinrichten lassen. Sein Verbündeter Josef Stalin schlug vor, „mindestens 50.000 deutsche Offiziere“ erschießen zu lassen. Man einigte sich auf den Vorschlag der USA, der ein rechtsstaatliches Internationales Militärtribunal vorsah. 24 Angeklagte sollten als Hauptkriegsverbrecher vor das Tribunal gebracht werden, letztendlich waren es 21 Politiker, Militärs und Personen der Wirtschaft. Viererlei wurde ihnen vorgeworfen: Gemeinsamer Plan oder Verschwörung (Machtübernahme und Diktatur), Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen (an der Zivilbevölkerung und Ermordung deutscher Juden auf polnischem Territorium), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (den Holocaust eingeschlossen). Diese Anklagen verstießen teilweise gegen den Rechtsgrundsatz nulla poena sine lege (keine Strafe ohne Gesetz). Zum Zeitpunkt der Tat, so argumentierten die Verteidiger vergeblich, sei noch kein Strafmaß für die Verbrechen festgelegt gewesen. Ebenso wenig ließen sich die Ankläger auf das Argument ein, auch auf alliierter Seite habe es Kriegsverbrechen gegeben, beispielsweise die Flächenbombardements gegen die Zivilbevölkerung. Die Ankläger hatten verabredet, keine Diskussion über alliierte Kriegsverbrechen zuzulassen. Vor dem Tribunal standen (in Klammern jeweils das Urteil): Karl Dönitz, Großadmiral, Oberbefehlshaber der Kriegsmarine und vom 1. bis zum 23. Mai 1945 Adolf Hitlers Nachfolger als Staatsoberhaupt (zehn Jahre Gefängnis); Hans Frank, Generalgouverneur in Polen (Tod durch den Strang); Wilhelm Frick, Reichsinnenminister und Reichsprotektor in Böhmen und Mähren (Tod durch den Strang); Hans Fritzsche, Journalist, Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (nicht schuldig); Walther Funk, Reichswirtschaftsminister (lebenslänglich Gefängnis); Hermann Göring, Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der Luftwaffe (Tod durch den Strang); Rudolf Heß, Adolf Hitlers Stellvertreter im Vorsitz der NSDAP bis 1941 (lebenslänglich Gefängnis); Alfred Jodl, Generaloberst, Chef des Wehrmachtführungsstabes (Tod durch den Strang); Ernst Kaltenbrunner, Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (Tod durch den Strang); Wilhelm Keitel, Generalfeldmarschall, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (Tod durch den Strang); Konstantin Freiherr von Neurath, Reichsaußenminister (1932–1938) und Reichsprotektor in Böhmen und Mähren (1939–1941) (15 Jahre Gefängnis); Franz von Papen, Vizekanzler im Kabinett Hitler, Gesandter und Botschafter in Wien und Ankara (nicht schuldig, 1947 jedoch als „Hauptschuldiger“ zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt); Erich Raeder, Oberbefehlshaber der Reichs- und Kriegsmarine (lebenslänglich Gefängnis); Joachim von Ribbentrop, Reichsaußenminister (Tod durch den Strang); Alfred Rosenberg, NSDAP-Chefideologe, Herausgeber des NS-Blatts „Völkischer Beobachter“ und Reichsminister für die besetzten Ostgebiete (Tod durch den Strang); Fritz Sauckel, Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz von Zwangsarbeitern (Tod durch den Strang); Hjalmar Schacht, Reichsbankpräsident und Reichswirtschaftsminister (nicht schuldig); Baldur von Schirach, Reichsjugendführer und Reichsstatthalter des Gaues Wien (20 Jahre Gefängnis); Arthur Seyß-Inquart, Reichskommissar für die besetzten Niederlande (Tod durch den Strang); Albert Speer, Architekt und Reichsminister für Rüstung (20 Jahre Gefängnis); Julius Streicher, Herausgeber des Blattes „Der Stürmer“ und Gauleiter in Franken (Tod durch den Strang). Drei Angeklagte erschienen nicht vor Gericht: Martin Bormann, Leiter der Parteikanzlei und „Sekretär des Führers“, war unauffindbar. In Abwesenheit wurde er zum Tod durch den Strang verurteilt. Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, angeklagt als Repräsentant der Industrie, die vom NS-Regime profitiert hatte, galt wegen angeschlagener Gesundheit als nicht verhandlungsfähig. Robert Ley, Reichsorganisationsleiter der NSDAP und Chef der „Deutschen Arbeitsfront“, hatte sich vor Prozessbeginn das Leben genommen. In Gesamtheit wurden die SS, die Geheime Staatspolizei (Gestapo), der Sicherheitsdienst (SD) und das Korps der NSDAP-Führer zu verbrecherischen Organisationen erklärt. 218 Tage dauerten die Verhandlungen. Die Dokumente umfassten 42 Ordner. Die Urteile wurden am 1. Oktober 1946 gesprochen. Die Todesurteile wurden in der Nacht vom 15. zum
16. Oktober in der Turnhalle des Nürnberger Justizpalastes vollstreckt, die Leichen
in derselben Nacht nach München gebracht und verbrannt. Die Asche schütteten US-amerikanische
Soldaten am folgenden Tag in den Conwentzbach, einen Seitenrinnsal der Isar. Die
angegebenen Namen sagten den Soldaten nichts. Sie ahnten nicht, dass „Abraham Goldberg“
die Asche des Antisemiten Julius Streicher war. Und dass sich hinter dem Aufkleber
„Georg Munger“ die Asche Hermann Görings befand. |