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Die Vertreibung der Deutschen
aus den Gebieten Die jüngst durch eine Fernsehserie, eine „Spiegel"-Reihe und durch Günter Grass' Novelle „Im Krebsgang" wieder ins Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit gerückte Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges und danach aus den früheren deutschen Reichsgebieten jenseits von Oder und Neiße, aus dem Sudetenland sowie aus den Siedlungsgebieten in Mittelost-, Ost- und Südosteuropa war zweifellos ein historisch gravierender Vorgang, von dem viele Millionen Reichs- und Volksdeutsche betroffen waren. Meist wird von zwölf bis vierzehn Millionen Vertriebenen ausgegangen, von denen bei Flucht und Vertreibung, auch als Folge von Vertreibungsverbrechen, ca. zwei Millionen – immerhin etwa ein Sechstel – ums Leben gekommen sind. Es sind Zahlen – auch wenn sie womöglich nach unten revidiert werden müssen –, hinter denen sich ungeheures Leid verbirgt. (1) Unter dem Begriff „Vertreibung" — dies ist bedeutsam im Hinblick auf die Verarbeitung des Phänomens – wird ein mehrschichtiger, regional unterschiedlicher, mehrere Phasen umfassender Prozess gefasst, zu dem u. a. im vorherrschenden Verständnis gehören: die Evakuierungen seit Herbst 1944, die allgemeine Flucht im Frühjahr 1945 mit Trecks oder über die See, die teilweise Rückkehr in die Wohngebiete, die Deportationen in die Sowjetunion, die Einrichtung von Internierungslagern und die Ausweisung. Die Maßnahmen gegen diesen Teil der Bevölkerung resultierten teils aus „wilden" oder gezielten Aktionen anderer nationaler Gruppen, die unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten, teils aus massiven Ausschreitungen der vorrückenden russischen Truppen gegen die Zivilbevölkerung, teils aus alliierten Beschlüssen, die nicht selten bereits geschaffene Tatsachen legalisierten oder zu weiteren Vertreibungsmaßnahmen führten. Hier soll es um die „Aufarbeitung" und „Verarbeitung" des Geschehens gehen, und zwar sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der öffentlichen Diskussion in Deutschland. Dies schließt die Frage ein, welche Rolle die Erinnerungen der Vertriebenen im kollektiven Gedächtnis gespielt haben und spielen. Die Erinnerung an die Vertreibung war bei den Betroffenen mit der Erinnerung an die alte Heimat verbunden, und die Bedeutung, die beide Komplexe für diesen Personenkreis hatten, war wiederum mit der Frage der Aufnahme der Vertriebenen im übrigen Deutschland, mit ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft verknüpft, ohne indes als eine bloße Funktion dieser gesellschaftlichen Prozesse aufgefasst werden zu können. Wie ging und geht die deutsche Gesellschaft mit den Vertriebenen und ihren Erfahrungen um? Diese Frage kann nicht beantwortet werden, ohne die Nachkriegsentwicklung in Deutschland – in den Westzonen, der Ostzone, später in der Bundesrepublik und in der DDR (und deren Verhältnis zueinander) – zu berücksichtigen. Zu fragen ist ferner, wie sich die Veränderungen in der Politik und dem politisch-gesellschaftlichen Klima auswirkten; auch die Frage der Wirkung wachsender zeitlicher Distanz ist zu stellen. Wir untersuchen den Übergang, die Transformation des kommunikativen Gedächtnisses der „Erlebnisgemeinschaft" in das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft, zwischen denen gleichsam eine fließende Lücke, ein Floating Gap, zu herrschen pflegt. (2) Sowohl auf der Ebene des tatsächlichen Geschehens als auch auf der Ebene seiner wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Verarbeitung kann nicht von der nationalsozialistischen Politik, ihren einzigartigen Verbrechen, ihren Umsiedlungsaktionen und vor allem nicht vom Holocaust abgesehen werden. Deshalb ist hier zu fragen: In welches Verhältnis werden die NS-Politik und die NS-Verbrechen auf der einen Seite sowie die Vertreibung und die Vertreibungsverbrechen auf der anderen Seite im deutschen kollektiven Bewusstsein — in seiner öffentlichen wie in seiner geschichtswissenschaftlichen Dimension — gebracht? Ich gehe in fünf Punkten im Wesentlichen chronologisch vor, wobei angesichts des Umfanges des Themas vieles nur angedeutet werden kann. I. In der frühen Nachkriegszeit, in der die unter dem Begriff „Vertreibung" zusammengefassten Ereignisreihen teilweise noch liefen, stand für die Deutschen in den verschiedenen Zonen die Bewältigung elementarster Probleme im Vordergrund, zu denen auch die Aufnahme von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen gehörte. Angesichts der gravierenden Wohnungsnot und der Ernährungsschwierigkeiten stellte die Unterbringung dieser Gruppe die Alliierten und die deutschen Verwaltungen vor riesige Probleme, die z. T. auch zu Spannungen mit der einheimischen, häufig ausgebombten oder der evakuierten Bevölkerung führten. Die Vertriebenen waren keineswegs überwiegend willkommen. Manches spricht dabei für die von Hans Georg Lehmann aufgestellte These, dass aufgrund einer vergleichsweise rigorosen Politik der Sowjets und der SED in den ersten Nachkriegsjahren die „Aufnahme und Lebensbedingungen der Vertriebenen in der Sowjetzone" im Vergleich mit den Westzonen wohl „noch am besten" abschnitten. (3) Es gab in der SBZ/DDR zeitweilig gegenüber den Westzonen und der Bundesrepublik einen Vorsprung hinsichtlich materieller und sozialer Integrationshilfen. Erst das vom Bundestag 1952 verabschiedete Lastenausgleichsgesetz veränderte die Situation grundlegend; es führte „zu jenem massiven bundesrepublikanischen Vorsprung in der vertriebenenbezogenen Sozial- und Entschädigungspolitik, den die DDR seither weder konzeptionell noch materiell wieder einholen konnte" (4). Die Lastenausgleichspolitik wurde zum Symbol einer zunehmend erfolgreichen Integrationspolitik, deren Hintergrund der wirtschaftliche Aufschwung war; sie ist nicht nur als politischer, sondern auch als gesamtgesellschaftlicher Prozess zu werten. Zunächst hatten die Vertriebenen Mühe, ihre Anliegen in der Öffentlichkeit zu artikulieren. Früh entstanden Zusammenschlüsse, die vor allem als Suchdienste arbeiteten, doch verboten die Alliierten 1946 Koalitionen von Vertriebenen — ein Verbot, das schrittweise gelockert und 1948 in den Westzonen aufgehoben wurde. (5) Die Vertriebenen organisierten sich in Landesverbänden, die sich schon 1949 zu einem Zentralverband der vertriebenen Deutschen vereinigten. Auch wurden nach Aufhebung des Koalitionsverbots Landsmannschaften gegründet, welche sich vor allem die Pflege des kulturellen Erbes zum Ziele setzten und sich partiell zu einer Art „Ersatzheimat" entwickelten. Landsmannschaften und Zentralverband rivalisierten miteinander, 1957 verschmolzen sie schließlich. Verboten waren durch die Alliierten zunächst auch parlamentarische Interessenvertretungen, doch versuchten die großen Volksparteien, sich auch um die Anliegen der Vertriebenen zu kümmern; zweifellos trug dies zur politischen Integration bei. Gleichwohl wurde 1950 in Schleswig-Holstein eine Vertriebenenpartei gegründet — der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) —, der bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein immerhin 23,5 Prozent der Stimmen erhielt. (6) 1953 zog diese Partei (GB/BHE) mit einem Stimmenergebnis von 5,7 Prozent bei den Bundestagswahlen in den Bundestag ein. Die Partei trat sogar in die zweite Regierung Adenauer ein, in der sie zwei Minister — unter diesen mit Theodor Oberländer auch den Vertriebenenminister — stellte. Allerdings ging die Partei 1955 in die Opposition; Meinungsverschiedenheiten über das Saarstatut hatten zu einer Spaltung der Partei geführt, 1957 scheiterte sie bei den Bundestagswahlen an der Fünf-Prozent-Hürde. Bei den Wahlen zu den Landtagen und zum Bundestag waren die Vertriebenen während der fünfziger Jahre — nicht nur wegen der Existenz des BHE — eine umworbene Gruppe. Alle Parteien — mit Ausnahme der KPD — forderten von einem Friedensvertrag die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937. Auch Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler, vertrat nachdrücklich diese Forderung, obgleich er sich klar darüber war, dass die Gebiete jenseits von Oder und Neiße für die Deutschen verloren waren und er mit dieser Forderung auf den Widerstand der Hohen Kommissare stoßen musste. (7) Maßgebliche Persönlichkeiten der Bundestagsparteien sprachen auf Treffen der Heimatvertriebenen und unterstützten das Recht der Vertriebenen auf Heimat. „Dreigeteilt – niemals" war die Parole eines bekannten Plakates des Kuratoriums „Unteilbares Deutschland". Kennzeichnend für die fünfziger Jahre waren auf der einen Seite beachtliche Bemühungen um die gesellschaftliche Integration der Vertriebenen, die offensichtlich selbst davon ausgingen, dass mit einer Rückkehr in die verlorenen Gebiete auf absehbare Zeit nicht zu rechnen war; auf der anderen Seite gab es die Unterstützung der Rechte der Vertriebenen und ihrer Forderungen, die eine Verurteilung des Unrechts der Vertreibung selbstverständlich einschloss. Man mag in dieser doppelten Politik einen Mangel an Konsequenz sehen, gleichwohl kann man fragen, ob sie nicht doch zur Integration der Vertriebenen und zur Paralysierung des Heimatvertriebenenproblems beitrug. Allerdings war dieser Politik doch auch die Förderung von Illusionen bei den Heimatvertriebenen immanent. Diese hatten bemerkenswerterweise in einer Charta, die 1950 in Stuttgart verkündet wurde und Forderungen nach sozialer und wirtschaftlicher Gleichstellung sowie politischer Vertretung der Vertriebenen enthielt, ausdrücklich auf Rache und Vergeltung verzichtet und versprochen, „jedes Beginnen mit allen Kräften zu unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können" (8). Gleichwohl hatten die Forderungen der Vertriebenen selbstverständlich die Revision der faktisch bestehenden Grenzen zum Ziel, weshalb sie in der Propaganda des Ostens als „Revanchisten" bezeichnet wurden. Anders als die Bundesrepublik Deutschland erkannte die DDR 1950 im Görlitzer Vertrag die Oder-Neiße-Grenze an. In der SBZ/DDR war der Begriff „Vertriebene" frühzeitig durch den der „Übersiedler" substituiert worden, später wurde auch dieser tabuisiert und das Problem der Vertriebenen offiziell ignoriert. Wilhelm Pieck, der erste Präsident der DDR, erklärte im Oktober 1950 in seiner geteilten Heimatstadt Guben: „Wir haben unsere engere Heimat verloren, aber wir haben die große Heimat des Friedens, die Heimat eines demokratischen friedliebenden Deutschlands gewonnen." (9) Die Beurteilung der Frage der Ost-Grenze, der Vertriebenenproblematik und der Vertreibung insgesamt unterschied fortan die beiden deutschen Staaten. Dies führte dazu, dass der Fragenkomplex in der Ära des Kalten Krieges instrumentalisiert wurde. In der Bundesrepublik wurde die Vertreibung eine wichtige Komponente in der antikommunistischen Propaganda. II. Berichte über die furchtbaren Geschehnisse bei Flucht und Vertreibung wurden früh von den Betroffenen erzählt; sie litten vielfach unter den traumatischen Erlebnissen. Auch im Kontext von Berichten über die Kriegsgeschehnisse tauchte der Aspekt auf, fand auch seinen Niederschlag in der Literatur. Das große Thema der Nachkriegsliteratur war der Krieg mit seinen Folgen. Selbstverständlich wurde das Geschehen der Vertreibung als schreiendes Unrecht aufgefasst. Meist wurde es eher isoliert betrachtet, doch konnte die publizistische Schulddiskussion an Flucht und Vertreibung nicht vorübergehen. So publizierten Walter Dirks und Eugen Kogon schon 1947 in den Frankfurter Heften einen bemerkenswerten Aufsatz unter dem Titel „Verhängnis und Hoffnung im Osten. Das Deutsch-Polnische Problem", in dem sie eher vorsichtig versuchten, das Geschehen, das sie selbst nur zurückhaltend andeuteten, einzuordnen. (10) In manchen Berichten werde deutlich, dass die Opfer deutscher Untaten zurückschlügen, sei doch im Namen der Deutschen Furchtbares geschehen. Doch fügten die Autoren hinzu, dass diejenigen Deutschen, die nun ihrerseits Opfer wurden, keineswegs die besonders Schuldigen waren: „Die armen Opfer in Schlesien und Ostpreußen leiden stellvertretend für die wahren Schuldigen, und es ist ein Zufall, dass nicht wir es sind, du und ich, die stellvertretend leiden und sterben müssen." (11) Zudem sei das Geschehen nicht nur als Reaktion auf deutsches Tun erklärbar, eine andere Erklärung sei die der „Ansteckung". Kogon und Dirks ließen keinen Zweifel daran, wo sie die eigentlichen Urheber des Unglücks sahen. Nachdrücklich betonten sie, dass es „nicht erlaubt" sei, „jene Vorgänge zu isolieren" (12). Keine Frage, die von Dirks und Kogon vertretene Position war sicherlich nicht die vorherrschende, verbreiteter war die des Aufrechnens, doch gab es sie immerhin. In der frühen Nachkriegszeit waren bei vielen Menschen die Leid-Erfahrungen noch zu unmittelbar, als dass sie mental in der Lage gewesen wären, eine konkrete Schulddiskussion zu führen und auch die Leiden der anderen mitzusehen. Zwar war die Mehrzahl erschüttert über das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen, doch stand daneben das konkrete eigene Erleben, der Verlust von Heimat und Eigentum, der Tod zahlreicher nahe stehender Menschen. Existenziell hatte man den Krieg und die Kriegsfolgen durchlitten, der Krieg war nicht nur Hitlers Krieg gewesen. (13) III. Die deutsche Geschichtswissenschaft hat — so urteilte Hellmuth Auerbach 1985 retrospektiv (14) — früh damit begonnen, das Thema Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten zu erforschen. Seit Mitte der fünfziger Jahre erschienen Bücher, die sich mit dem Schicksal der Vertriebenen befassten und die versuchten, die historischen Hintergründe auszuleuchten und die Ereignisse historisch einzuordnen. Von grundlegender Bedeutung war und ist dabei die Dokumentation und Darstellung der Vertreibung aus den Ostgebieten, zu der bereits in den frühen Nachkriegsjahren Vorarbeiten begannen und die schon kurz nach Gründung der Bundesrepublik als wissenschaftliches Großprojekt in Angriff genommen wurde. (15) 1951 berief der Bundesminister für Vertriebene, Hans Lukaschek, eine wissenschaftliche Kommission, die den Auftrag erhielt, die Vertreibung umfassend zu dokumentieren, wobei das Motiv leitend war, Materialien zur Abstützung der deutschen Position bei künftigen Friedensverhandlungen zusammenzutragen. (16) Die Kommission bestand aus angesehenen „führenden" Historikern. Geleitet wurde sie von Theodor Schieder; ihr gehörten außerdem an Peter Rassow, Rudolf Laun und Hans Rothfels sowie Adolf Distelkamp vom Bundesarchiv, nach einiger Zeit kam als weiteres Mitglied Werner Conze hinzu. Mitglieder des wissenschaftlichen Arbeitskreises waren u. a. Hans Booms, der spätere Direktor des Bundesarchivs; Martin Broszat, der spätere Direktor des Institutes für Zeitgeschichte, und Hans Ulrich Wehler, seit Ende der sechziger Jahre einer der führenden deutschen Sozialhistoriker. Unterstützt wurde die Kommission vom Statistischen Bundesamt, dem Johann-Gottfried-Herder-Institut in Marburg, der Arbeitsgemeinschaft für Osteuropaforschung in Göttingen und vom Münchener Institut für Zeitgeschichte. Alles in allem ein für die damalige Zeit sehr großes wissenschaftliches Unternehmen, welches das besondere Interesse an dem Forschungsgegenstand erkennen lässt. Für die Historiker trat das ursprüngliche politische Motiv bald in den Hintergrund, woraus Gegensätze zum Auftraggeber erwuchsen. Leitend für die Herausgeber war — wie sie in der Einleitung betonten — „die Sorge, Geschehnisse von der furchtbaren Größe der Massenaustreibung könnten in Vergessenheit fallen, die abschreckenden und aufrüttelnden Erfahrungen aus dieser europäischen Katastrophe könnten für die Staatsmänner und Politiker verloren gehen" (17). Die an dem Projekt beteiligten Wissenschaftler — so betonen die Herausgeber weiter — fühlten sich bei der Erarbeitung der Dokumentation nur an das Ethos der wissenschaftlichen Forschung gebunden. Darüber hinaus seien sie dem „politischen Grundsatz" des Verzichts auf Rache und Gewalt verpflichtet, wie er in der Charta der Heimatvertriebenen niedergelegt sei: Die Herausgeber „wollen mit der von ihnen betreuten Veröffentlichung nicht dem Willen Vorschub leisten, der diesem Verzicht entgegensteht, nicht Empfindungen auslösen, die selbstquälerisch im eigenen Leid wühlen". Es folgt der bedeutsame Satz: „Dazu sind sie (die Herausgeber) sich zu sehr des deutschen Anteils an den Verhängnissen der letzten beiden Jahrzehnte bewusst." (18) Keine Frage, die Herausgeber waren sich der deutschen Schuld bewusst, was im Hinblick auf den Leiter des Projektes, Theodor Schieder, der — wie wir heute wissen — an der Konzipierung von Umsiedlungsaktionen großen Stils, die sich schließlich im Generalplan Ost verdichteten, beteiligt war, und auf Werner Conze, der zur bevölkerungswissenschaftlichen Fundierung der NS-Politik beitrug, durchaus auch eine persönliche Komponente besaß; wobei wir bislang nicht so recht wissen, ob sie sich auch persönlich für mitverantwortlich hielten. (19) Jedenfalls wurde eine Reihe der beteiligten Wissenschaftler, indem sie das Geschehen vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte zu betrachten begannen, „buchstäblich von der eigenen Vergangenheit eingeholt" (20). Die Herausgeber drückten ihre Hoffnung aus, „dass durch die Arbeit die Einsicht gestärkt wird, dass sich Ereignisse wie die Vertreibung nicht wiederholen dürfen, wenn Europa noch eine Hoffnung haben soll. Sie hoffen auf eine Neuordnung der Völkerbeziehungen in dem Raume, der zuletzt ein Inferno der Völker geworden war" — eine Hoffnung, die etwas abstrakt klingt, doch gerade die Erfahrungen der Vergangenheit zum Ausgang haben soll: „Nicht aus einem Vorbeisehen an der jüngsten Vergangenheit, sondern nur aus der verantwortungsbewussten Auseinandersetzung mit ihr kann eine neue moralische Kraft geboren werden, um die Spannungen zwischen den Völkern des östlichen Mitteleuropas, ganz Europa zu überwinden, damit das unsagbare Leid unserer Generation nicht ganz sinnlos bleibt." (21) Themen der fünf umfangreichen Bände (darunter mehrere Doppelbände) sind die Evakuierungsvorgänge, Flucht- und Kriegsereignisse, die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Bevölkerung, die Austreibung der Bevölkerung. Die Bände über die südosteuropäischen Staaten beziehen sich auf die Geschichte der Deutschen in diesen Gebieten, ihre Schicksal während des Krieges, Umsiedlungen, Zwangsrekrutierungen zur SS, Auswirkungen der russischen Besetzung, Verschleppung zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion, Enteignungen, Internierungen und Ausweisungen. Basis des Unternehmens war eine systematische Befragungs- und Sammelaktion unter den Vertriebenen, durch die eine große Fülle dokumentarischen Materials zusammengetragen wurde: zum überwiegenden Teil Erlebnisberichte, dann Befragungsprotokolle, private Briefe, Tagebücher, auch amtliche Schriftstücke. Die Sichtung, Beurteilung und Verarbeitung des Materials sowie die Zusammenstellung für die Edition warf vielfältige methodische Probleme auf, die insbesondere Martin Broszat und Theodor Schieder in methodologischen Beiträgen zu klären versuchten. (22) Das Forscher-Team unterwarf die Masse neuartiger „subjektiver" Quellen einem Verfahren der „Authentifizierung" und „Verifizierung" d. h., die Historiker stellten Vergleiche zwischen den Quellen an und prüften die Plausibilität, die Aussagefähigkeit der Dokumente. Bei der Auswahl bemühten sich die Historiker, ein möglichst repräsentatives Bild zu liefern, d. h. alle Regionen, Bevölkerungsgruppen, Vorgänge — etwa auch die Lager — und Schicksale zu berücksichtigen. Die nicht in die Edition aufgenommenen Dokumente — etwa 10.000 Erlebnisberichte und weitere Materialien — werden im Bundesarchiv aufbewahrt. Die nüchterne, sorgfältige Analyse der Dokumente führte — ähnliche Probleme gab es auch bei anderen Opfergruppen der jüngsten Geschichte — zu erheblichen Spannungen zwischen den Vertriebenen und Vertriebenenfunktionären auf der einen Seite sowie den Historikern und Archivaren auf der anderen Seite. Hans Rothfels stellte zu den massiven Angriffen von Organen und Organisationen der Vertriebenen — zu denen der Vorwurf gehörte, die Dokumentation sei „in wesentlichen Punkten nach dem Geschmack der Vertreiber ausgefallen" — u. a. fest: „Bei aller Bereitschaft des Historikers, von ,Zeitzeugenberichten` zu lernen, kann ein Zensurrecht der Beteiligten nicht wohl anerkannt werden." (23) „Eine reine Erlebnishistorie" — so schrieb Theodor Schieder in seinem methodologischen Aufsatz — wäre „keine wissenschaftliche Historie" mehr. (24) In der Tat waren die Wissenschaftler — wie die Einleitungen zu den Bänden zeigen — sehr um eine behutsame Einordnung der Einzelvorgänge bemüht; zweifellos ist das Unternehmen eine beachtliche Leistung. Zur Gesamteinordnung wurde die Frage aufgeworfen, ob die Vorgänge vorrangig als Schlussakt des Krieges, in dem die Vernichtung ganzer Völker beabsichtigt war (wobei sich der deutsche Anteil wahrlich präziser hätte kennzeichnen lassen), oder im Kontext der seit dem 19. Jahrhundert geführten Nationalitätenkämpfe in der östlichen Völkermischzone Europas zu sehen sei. (25) Bis in die Gegenwart bildet dieses Werk, dessen Ergebnisband damals wohl aus politischen Gründen nicht mehr erschien, die wichtigste Grundlage für die Erforschung des Erlebens und Erleidens — also auch der subjektiven Ebene — der Vertreibung. Keine Frage, dass die Lektüre noch heute erschüttert. So bedeutsam das Werk war, zu seiner Popularisierung wurde von offizieller Seite nicht viel getan. In den achtziger Jahren erschien eine Taschenbuchausgabe. Allerdings nutzten einige Autoren das Werk als Steinbruch, wobei sie nicht selten besonders grausame Geschehnisse auswählten. (26) Eine Ergänzung der Dokumentation bildet der vom Statistischen Bundesamt herausgegebene Band „Die deutschen Vertreibungsverluste 1939/50" (27). Gemessen an diesem umfangreichen Dokumentationswerk war der übrige wissenschaftliche Ertrag in den fünfziger und sechziger Jahren eher sekundär. Eine Reihe bemerkenswerter, auch für den Historiker aufschlussreicher Tagebücher und Berichte erschien, auch wurden chronikartige Zusammenstellungen des Kriegsgeschehens mehr publizistischen als wissenschaftlichen Charakters veröffentlicht, die das Kriegsgeschehen mit seinen Auswirkungen auf die Bevölkerung im Osten zum Thema hatten. (28) Erwähnenswert ist, dass in der deutschen Zeithistorie fast gleichzeitig mit der Vertreibung bereits die nationalsozialistische Polenpolitik in den Blick kam, was zweifellos zwingend war, denn die NS-Politik plante ihrerseits gewaltige Umsiedlungsaktionen und führte sie mit brutalen Mitteln durch. Schon 1961 erschien Martin Broszats Arbeit über die „Nationalsozialistische Polenpolitik 1939-1945", (29) andere Arbeiten folgten in den sechziger Jahren. Auch unternahm die Zeithistorie beachtliche Anstrengungen, um die Frage der Verantwortlichkeit der Täter zu klären. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass die deutsche Zeithistorie die Erforschung des Holocaust – anders als die der Vertreibung – aus der Sicht der Opfer zunächst kaum versuchte. (30) Eine Bedeutung für die Bewältigung von Flucht und Vertreibung hatte die moderne Literatur, in der nicht nur die Ereignisse am Ende des Krieges, sondern auch die Erinnerung an die verlorene Welt zum Thema gemacht wurden. Hingewiesen sei hier auf die Werke von Günter Grass, Siegfried Lenz, Arno Surminski, Christine Brückner und anderen, in denen Flucht, Vertreibung, die alte und neue Heimat im Spiegel menschlicher Schicksale dargestellt und damit auch ein Stück weit „bewältigt" wurden. IV. In den sechziger Jahren schritt die Integration der Heimatvertriebenen – ungeachtet hier und da insbesondere im ländlichen Raum noch vorhandener Spannungen – weiter voran; sie partizipierten in ihrer großen Mehrheit an der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung. Zwar hatten sie keine eigene parlamentarische Interessenvertretung mehr, doch kandidierten führende Vertriebenenfunktionäre auf sicheren Listenplätzen der CDU, der CSU und auch der SPD (so Wenzel Jacksch, Präsident der Vertriebenen 1964–1966, oder Herbert Hupka, der Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen, der 1969 für die SPD in den Bundestag einzog und 1972 zur CDU übertrat), wobei insbesondere sozialpolitische Fragen die Brücke zur SPD bildeten. (31) Doch veränderte sich das politische Klima in den sechziger Jahren in einer Weise, die für die Vertriebenen zunehmend ungünstiger wurde. Das Agieren der Heimatvertriebenenfunktionäre fand verstärkt Kritik, sie galten nun häufig bereits als „Gestrige". Einer der Hintergründe war gewiss, dass sich das politische Koordinatensystem zunächst unmerklich, dann verstärkt nach links verschob und die linksliberale Presse an Einfluss gewann. Das Problem der Ostgebiete wurde zunehmend nunmehr als eine Angelegenheit der unmittelbar Betroffenen angesehen. In der öffentlichen Meinung erhoben sich Stimmen, welche die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze forderten. Die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) ging mit ihrer Denkschrift voran, auch die Sozialdemokratie – in der vorher schon vereinzelt, etwa von Carlo Schmid und Fritz Erler, in dieser Richtung plädiert worden war – forderte seit 1966 eine Respektierung der Grenze. Hinter dieser Forderung stand der Wunsch, mit dem Osten, namentlich mit Polen, zu einem Ausgleich zu kommen. Willy Brandt sprach auf dem Nürnberger Parteitag der SPD 1968 von einer „Anerkennung bzw. Respektierung" der Oder-Neiße-Linie bis zur friedensvertraglichen Regelung – eine Formel, die in eine mit großer Mehrheit verabschiedete Entschließung einging. (32) Diese Forderung passte in ein Konzept der Entspannungspolitik, war aber zugleich tief moralisch begründet. In den sechziger Jahren rückte die NS-Zeit und in diesem Kontext die verbrecherische Politik gegenüber Polen und den Völkern der Sowjetunion, vor allem auch der Holocaust, in das Zentrum der politisch-kulturellen Diskussion. Es war die Zeit der großen NS-Prozesse, der Verjährungsdebatten des Bundestages und der in Literatur und Theater zunehmend intensiv behandelten NS-Zeit – erinnert sei an Peter Weiss' „Ermittlung", an Rolf Hochhuths „Stellvertreter". Auch die Zeithistorie beschäftigte sich inzwischen mit beträchtlichem Aufwand und bedeutsamen Ergebnissen mit der NS-Politik und ihren Verbrechen. (33) Etwas pointiert wird man sagen können, dass die Vertreibung zunehmend in den Schatten des Holocausts und der anderen NS-Verbrechen geriet. Die generationellen Verschiebungen trugen dazu bei, dass diese veränderte Sicht der jüngsten Vergangenheit an Boden gewann, was zugleich auch dadurch gefördert wurde, dass die eigenen Kriegserfahrungen allmählich verblassten und die Wunden zu vernarben begannen. Auf der politischen Ebene bildete die Installierung der Regierung der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt für die Vertriebenen einen weiteren Einschnitt. Die Koalition löste das Vertriebenenministerium auf; seine Abteilungen wurden Teil des Innenministeriums. Für die Pflege des kulturellen Erbes des deutschen Ostens erhielten die Vertriebenenorganisationen jedoch auch weiterhin Bundesmittel: Einrichtungen der Vertriebenen – Archive, Museen etc. – wurden nach wie vor mit öffentlichen Mitteln gefördert. Vor allem machte die neue Bundesregierung mit der Entspannungspolitik ernst. Im Rahmen der „neuen Ostpolitik" wurden Verträge mit der Sowjetunion, mit Polen, der CSSR und der DDR sowie ein Berlin-Abkommen ausgehandelt. Mit den Verträgen erkannte die Bundesrepublik die Grenzen in Europa, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden waren, im Kontext von Gewaltverzichtabkommen im Sinne ihrer Respektierung an, was weder ihre friedliche Veränderung noch ihr Durchlässigmachen ausschließen sollte. Auch versuchte man, Ausreisemöglichkeiten für die in diesen Ländern noch lebenden Deutschen zu vereinbaren. Die Vertriebenenverbände haben die Verträge, die a la longue zusammen mit dem KSZE-Prozess zur Erosion kommunistischer Herrschaft beitrugen, erbittert bekämpft. Willy Brandt, Egon Bahr und Walter Scheel wurden als „Verzichtspolitiker" angegriffen. Allerdings gehörten zu den entschiedensten Protagonisten der „neuen Ostpolitik" auch Publizisten wie Marion Gräfin Dönhoff oder Christian Graf von Krockow, die aus dem Osten stammten. Die Verbandsfunktionäre sprachen nur sehr bedingt für die Vertriebenen insgesamt. Unter den Vertriebenen war inzwischen das gesamte politische Spektrum vertreten. Im Umkreis der Vertriebenenverbände und im rechten politischen Spektrum erschienen in den siebziger und achtziger Jahren eine Reihe von Büchern über die Vertreibung, die eine Tendenz zur Aufrechnung der deutschen Verbrechen mit den Verbrechen an Deutschen enthielten. (34) Dies verstärkte die wachsende Distanz zwischen Mehrheitsgesellschaft und Vertriebenenorganisationen und war selbst Ausdruck zunehmender Isolierung dieser Organisationen. Die Vertriebenen registrierten einen schmerzlichen Rollenwechsel: Seit den sechziger Jahren waren sie „vom Patenkind zur Unperson" geworden. (35) Mit Bildung der CDU-FDP-Koalition unter Helmut Kohl 1982 schöpften die Vertriebenenverbände noch einmal Hoffnung, dass ihr politisches Gewicht wieder wachsen würde; teilweise wurden diese Hoffnungen auch bewusst genährt – so wurde jetzt der 1974 entstandene, aber nicht zugängliche Bericht des Bundesarchivs über Vertreibungsverbrechen publiziert –, auf längere Sicht aber wurden sie enttäuscht: Helmut Kohl, dessen CDU zusammen mit den Vertriebenen die Ostverträge bekämpft hatte, setzte nach 1982 die Deutschland- und Ostpolitik Willy Brandts und Helmut Schmidts bei nur unwesentlich veränderter Semantik fort. Die Bedeutung der Vertreibung wurde 1984/85 noch einmal diskutiert im Kontext der Debatte über den 8. Mai 1945, den ein Teil der Öffentlichkeit als Tag der Befreiung, ein anderer vorrangig als Symbol der Niederlage deuten wollte. In diesem Kontext wiesen die Vertriebenen auf ihr Schicksal hin, das aus ihrer Sicht bei der Interpretation des Datums zu berücksichtigen war und dessen Kennzeichnung als Befreiung nicht zuließ. Schließlich würdigte Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede zum 8. Mai 1985 das Schicksal der Vertriebenen mit den versöhnenden Worten: „Bei uns selbst wurde das Schwerste den Heimatvertriebenen abverlangt. Ihnen war noch lange nach dem 8. Mai bitteres Leid und Unrecht widerfahren. Um ihrem schweren Schicksal mit Verständnis zu begegnen, fehlt uns Einheimischen oft die Phantasie und auch das offene Herz." (36) Ungeachtet unterschiedlicher Schicksale waren die Vertriebenen in ihrer großen Mehrheit gesellschaftlich längst integriert, als sich die Frage der definitiven völkerrechtlichen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze im Kontext der Wiedervereinigung 1990 noch einmal stellte. Nach einigem Zögern Helmut Kohls in dieser Frage, das zu deutsch-französischen Irritationen führte, hat die Bundesrepublik unter Führung der konservativ-liberalen Bundesregierung die Oder-Neiße-Grenze als definitive deutsche Ostgrenze im „Zwei-plus-Vier-Vertrag" anerkannt. Die historische Entwicklung war über die politischen Positionen der Vertriebenenverbände hinweggegangen. V. Seit den siebziger Jahren wurde die Integration der Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft zu einem Thema der sozialgeschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Forschung. Die Vertriebenenfrage wurde zu einem Teilaspekt der Geschichte der Gesellschaft der Bundesrepublik. Zu diesem Themenkomplex wurden eine Reihe von Studien vorgelegt, so z. B. von Marion Frantzioch und Helga Grebing mit ihrem Team. (37) Die unter dem Begriff „Vertreibung" zusammengefassten Vorgänge fanden demgegenüber in der zeithistorischen Forschung nur verhältnismäßig geringes Interesse, insbesondere wenn man andere, demgegenüber ungemein intensiv behandelte Themen-komplexe der Geschichte des Dritten Reiches vergleichend heranzieht. Dieses Defizit wurde von verschiedenen Beobachtern kritisiert und bedarf tatsächlich der Erklärung. Andreas Hillgruber konstatierte 1986, dass die „Katastrophe des deutschen Ostens" zu den Forschungsfeldern gehöre, auf denen es einen Stillstand gebe oder die Forschung gar nicht in Gang gekommen sei. (38) Zu den Ursachen dieses Befundes stellte Hillgruber keine Überlegungen an; dies hatte aber schon wenig vorher Alfred Heuß getan. 1984 veröffentlichte der angesehene Althistoriker Alfred Heuß ein Buch mit dem Titel „Versagen und Verhängnis" und dem bezeichnenden Untertitel „Vom Ruin deutscher Geschichte und ihres Verständnisses", in dem er über den Verfall geschichtlichen Bewusstseins in Deutschland Klage führte. (39) Charakteristisch schien dabei für ihn der Umgang mit der Katastrophe des deutschen Ostens. Siebenhundert Jahre deutscher Geschichte seien damals annulliert worden, „so ziemlich die einzig bleibende Leistung, in der sich das gesamte deutsche Volk in den siebenhundert Jahren seit Ausgang des Mittelalters verkörperte. Damit fanden deutsche Volksstämme, ohne die das Bild Deutschlands ein halbes Jahrtausend hindurch unvorstellbar war, ihren Untergang". Auch Städte wie Königsberg, Danzig, Breslau, Stettin hätten ihren Untergang gefunden, ohne die der kulturelle und soziale Hintergrund der deutschen Geschichte unvollständig wäre. (40) Der historische Bildungsstand in Deutschland sei derart heruntergekommen, dass sich kaum jemand klar mache, was mit der Vertreibung der Deutschen wirklich geschah: „die Dezimierung der Substanz des deutschen Volkes, bei der es nicht nur um eine Unsumme grausamer Einzelschicksale geht, sondern um einen nicht regenerierbaren Verlust, um ein Phänomen also, das man in Analogie zu Genozid mit der Bezeichnung ,Phylozyd` (Stammestötung) belegen müsste, denn es gibt von nun an keine Schlesier, Pommern, Ostpreußen, Sudetendeutsche usw. mehr. Ihre Sprache bzw. Dialekte, wichtige Bestandteile des deutschen Sprachkörpers, haben aufgehört zu existieren und müssen in ,historisch` gewordenen Wörterbüchern (sofern es welche gibt) nachgeschlagen werden." Das Wissen aber um die Kultur des Ostens gehöre „zum Wissen von uns selbst", und ebenso sollte dazu auch die Erkenntnis gehören, dass sich hierin Hitlers Verbrechensprinzipien gegen die Deutschen selbst kehrten". (41) Heuß sparte nicht mit einer kritischen Beurteilung der angelsächsischen Mächte, ihrer Politik der „Bevölkerungsverschiebungen", insbesondere der Ermöglichung bzw. Hinnahme der Vertreibungspraxis. Bei seiner Kritik stützte er sich auf die Veröffentlichungen des amerikanischen Völkerrechtlers Alfred-Maurice de Zayas, der 1977 ein auch in Deutschland beachtetes Buch mit dem Titel „Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen" publiziert hatte. (42) Dass die Vertreibung von der Zeithistorie völlig ignoriert wurde, ist indes nicht ganz zutreffend. Wie bereits gesagt, wurde die große Dokumentation erneut aufgelegt. Auch brachte z. B. Wolfgang Benz 1985 ein Taschenbuch mit dem Titel „Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen" heraus, in dem die Vorgeschichte – u. a. auch der Generalplan Ost – dargestellt, die politischen Hintergründe beleuchtet, einige Erlebnisberichte abgedruckt und die Auseinandersetzung mit dem Thema bis in die Gegenwart thematisiert wurde. (43) Auch fanden in der Historiographie die außenpolitischen Entscheidungsprozesse während des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit ein gewisses Interesse. Gleichwohl wird man einräumen müssen, dass alles in allem das Thema kein bevorzugter Gegenstand der Zeithistorie und der Publizistik in den achtziger Jahren war. 1986 veröffentlichte Andreas Hillgruber einen schmalen Band „Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums", das einer der Auslöser von Jürgen Habermas' Attacke auf „revisionistische" Historiker war, durch die der sog. „Historikerstreit" initiiert wurde. (44) In dieser Schrift, die aus zwei Studien – „Der Zusammenbruch im Osten 1944/45" und „Der geschichtliche Ort der Judenvernichtung" – besteht, vertrat Hillgruber die Ansicht, dass „der Mord an den Juden im Machtbereich des nationalsozialistischen Deutschland in den Jahren 1941 bis 1944 und die unmittelbar folgende Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa und die Zertrümmerung des preußisch-deutschen Reiches 1944/45" zusammengehören; gleichwohl hätten sie unterschiedliche Vorgeschichten: Der Mord an den Juden sei ausschließlich eine Konsequenz aus der radikalen Rassendoktrin gewesen, die mit Hitler zur Staatsideologie wurde. Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten und die Zerschlagung des Deutschen Reiches hingegen seien „nicht nur eine Antwort auf die – während des Krieges noch gar nicht in vollem Maße bekannt gewordenen – Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" gewesen, sondern sie hätten schon vorher „erwogenen Zielen der gegnerischen Großmächte, die während des Krieges zum Durchbruch gelangten", entsprochen. (45) Den Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Politik der Bevölkerungsverschiebung und den dabei angewandten Mitteln erwähnte Hillgruber nicht. Hillgruber verteidigte nachdrücklich den deutschen Verteidigungskampf im Osten, obgleich er den Krieg sicherlich verlängert und damit das Morden in den Vernichtungslagern fortgesetzt habe. Hillgrubers Thesen wurden im Historikerstreit von der Mehrzahl der Historiker und Publizisten abgelehnt. (46) Man wertete sie als eine Verteidigung nationalsozialistischer Politik und als eine Relativierung des Holocaust. Tatsächlich sind sie überaus anfechtbar und riskant, doch hat die sehr scharfe Kritik an Hillgruber wohl auch den Tatbestand zur Voraussetzung, dass der Holocaust seit den sechziger Jahren im deutschen Geschichtsbewusstsein zunehmend in den Mittelpunkt der Geschichte der NS-Zeit gerückt ist und als einzigartig und unvergleichlich qualifiziert wird, während die Vertreibung gleichzeitig immer mehr aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt und lediglich als Sache der Betroffenen angesehen worden war. Sicherlich spielten bei der zunehmenden Ausblendung der Vertreibung im kollektiven Bewusstsein politische Neuorientierungen in der deutschen politischen Öffentlichkeit eine gewisse Rolle. Die deutsche Öffentlichkeit wollte ganz überwiegend den Ausgleich mit Polen und den anderen osteuropäischen Völkern. 1972 bis 1976 hatte sich eine deutsch-polnische Kommission auf gemeinsame Empfehlungen für Schulbücher der Geschichte und Geographie geeinigt, welche die jüngste Geschichte durchaus nicht ausklammerten und sowohl die nationalsozialistische Besatzungspolitik charakterisierten als auch die „territorialen Veränderungen" und „Bevölkerungsverschiebungen" am Ende des Zweiten Weltkrieges benannten, die einzelnen Phasen unterschieden und auch die Integrationsleistung der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit würdigten – in Formulierungen, die beiden Seiten akzeptabel schienen, freilich bei den Vertriebenen auf Widerstand stießen. (47) Zwischen westdeutschen und polnischen Historikern bildeten sich erste Kommunikationsstrukturen heraus. Einige andere Momente spielten bei dem Zurücktreten der Erinnerung an die Vertreibung eine nicht unwichtige Rolle:
VI. Ist mit der Vereinigung, dem Zwei-plus-Vier-Vertrag und dem deutsch-polnischen Vertrag vom 14. November 1990, der die deutsche Ost- und die polnische Westgrenze festschreibt und die erweiterte Bundesrepublik zum Nachbarn Polens macht, eine neue Konstellation im Hinblick auf das deutsche Geschichtsbewusstsein entstanden? Zwar begann sich das Geschichtsbewusstsein zu verändern, doch war zunächst im Hinblick auf die vorherrschende Tabuisierung von Flucht und Vertreibung keine grundlegende Umkehrung des Gesamttrends festzustellen. Allerdings mehrten sich bald Anzeichen dafür, diesen Komplex, der angesichts nicht mehr in Frage gestellter Grenzen an Brisanz verloren hatte, nicht weiter auszuklammern. Auch gab es seit 1989/90 neue Möglichkeiten für die historische Forschung, die Ereignisse auf der Basis neu zugänglicher Quellen aufzuarbeiten und mit den bisherigen Ergebnissen zu vergleichen. Und diese Forschung begann man zu einem Teil in kooperativen Formen zwischen deutschen und polnischen Historikern durchzuführen, womit eine neue Phase der Forschung begann. Was das deutsche Geschichtsbewusstsein anbetrifft, so erschien jedoch noch 1995 im Deutschland Archiv ein Aufsatz mit dem Titel: „Verlieren wir das historische Ostdeutschland aus dem Geschichtsbild?" (49) Der Autor Karlheinz Lau glaubte diese Gefahr sehr deutlich zu sehen und wollte ihr mit seinem Beitrag entgegentreten. Tatsächlich schienen mit den vor dem Kriege aufgewachsenen Generationen Geschichte und Kultur des deutschen Ostens in erheblichem Maße aus der Erinnerung zu verschwinden; das Gleiche galt für die Vertreibung. Sie waren nur bedingt im kollektiven kulturellen Gedächtnis aufgehoben, auch wenn zuweilen das Thema in der Publizistik auftauchte (50) und nach wie vor eine Kulturstiftung der Vertriebenen, Archive und Museen sowie Verlage existierten, die auf Themen des früheren deutschen Ostens spezialisiert waren, deren Bücher ihr Publikum fanden, was darauf hindeutet, dass das Interesse an die nächst folgenden Generationen von „Betroffenen" weitergegeben worden ist. (51) Dieses Interesse richtete sich nicht mehr nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart und drückte sich nicht nur in Reisen in die früheren deutschen Ostgebiete aus, sondern teilweise auch in dem Bedürfnis nach Kommunikation mit den Menschen, die heute in diesen Regionen wohnen. In jüngster Zeit aber ist ein Wandel erkennbar. Zu nennen ist die Diskussion um ein „Zentrum gegen Vertreibungen", das die Vertriebenenverbände in Berlin errichten möchten, das sich polnische Intellektuelle auch in Breslau vorstellen können und bei dem manches dafür spricht, die Vertreibung der Deutschen nicht nur mit der Vorgeschichte, sondern auch mit den Zwangsmigrationsprozessen im 20. Jahrhundert in Beziehung zu setzen. Bedeutsam sind in diesem Kontext auch die Veröffentlichung von Günter Grass' Novelle „Im Krebsgang" und die Resonanz hierauf in der Öffentlichkeit sowie die Serie des „Spiegels" sowie die Fernsehserie über die Vertreibung und die Vertriebenen. (52) Auch widmen sich Historiker erneut den Geschehnissen am Ende des Krieges und in der frühen Nachkriegszeit. (53) Vieles deutet darauf hin, dass Flucht und Vertreibungs-Geschehnisse nicht mehr ausschließlich national interpretiert werden. Gegenwärtig gibt es in Deutschland jedenfalls kaum Anhaltspunkte für die Restauration eines traditionellen nationalen Geschichtsbewusstseins. Allerdings erscheint es möglich, dass sich im Hinblick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts das Gedenken erweitern wird. Mit Peter Steinbach kann man fragen, ob es wirklich richtig ist, „wichtige Bezugspunkte kollektiver Erinnerung an erfahrenes Leid aus Furcht vor ,falschen Reaktionen' oder den ,Beifall von der falschen Seite' in den Hintergrund des historischen Bewusstseins" zu schieben und „aus der gemeinsamen Erinnerung auszuklammern" (54). Diese Frage stellt sich — zumal nach den bestürzenden Erfahrungen mit Vertreibungen in Südosteuropa in den letzten Jahren — unbestreitbar nicht nur für die deutsche, sondern auch für die europäische Ebene, auf der es die verschiedenen nationalen Erinnerungskulturen zu verknüpfen gilt. (55) Darin ist eine wichtige geschichtspolitische Aufgabe der nächsten Jahre zu sehen. Bernd Faulenbach Dr. phil., geb. 1943; Stellv. Direktor am Forschungsinstitut Arbeit, Bildung, Partizipation in Recklinghausen (Institut an der Ruhr-Universität) und Professor an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum; Mitglied einer Reihe von Gremien an der Schnittstelle von Geschichtswissenschaft und Politik. Anschrift: Forschungsinstitut Arbeit, Bildung, Partizipation, Münsterstr. 13-15, 45657 Recklinghausen. E-Mail: faulenbach@freenet.de Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Heinrich Potthoff) Sozialdemokraten und Kommunisten nach Nationalsozialismus und Krieg, Essen 1998; (Hrsg. zus. mit Helmuth Schütte) Deutschland, Israel und der Holocaust, Essen 1998; (zus. mit Annette Leo u. Klaus Weberskirch) Zweierlei Geschichte. Lebensgeschichte und Geschichtsbewusstsein in West- und Ostdeutschland, Essen 2000; (Hrsg. zus. mit Heinrich Potthoff) Die deutsche Sozialdemokratie und die Umwälzung 1989/90, Essen 2001. ____________
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