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Vertreibung Offenkundig sollte es ein Gegengewicht bilden zu dem Zentrum gegen Vertreibungen, das Erika Steinbach und Peter Glotz zusammen mit einer nicht geringen Zahl Prominenter vor fünf Jahren ins Leben riefen. Jetzt liegt die deutsche Übersetzung des vor eineinhalb Jahren in Polen erschienenen aufwendigen und dennoch preisgünstigen Bild-Atlasses „Illustrierte Geschichte der Flucht und Vertreibung. Mittel- und Osteuropa 1939 bis 1959“ vor, in dem – genau wie Steinbach und Glotz es planten – alle Vertreibungen in Osteuropa in eine Beziehung gesetzt werden. Es ist, wie der an der Universität Leipzig lehrende Stefan Proebst in einem Geleitwort formuliert, ein Gemeinschaftswerk von vier international vernetzten und polyglotten jüngeren polnischen Zeithistorikern, das in Kooperation mit einem kartographisch erfahrenen Warschauer Verlag in Rekordzeit realisiert sowie umgehend ins Deutsche übersetzt wurde. Verständlicherweise ist es ein betont polnisches Werk, doch geht es nicht nur um Polen, sondern genauso um Juden, Deutsche und Ukrainer als die von Flucht und Vertreibung am meisten betroffenen Volksgruppen. Die Vertreibungen vor 1939 bleiben unberücksichtigt Aber auch Weißrussen, Litauer, Tschechen und Slowaken sowie kleinere ethnische Gruppen werden berücksichtigt. Sie alle werden als Opfer ein und desselben mahlstromartigen apokalyptischen Geschehens eingeordnet, was, wie Proebst befürchtet, in Deutschland als politisch unkorrekt angesehen werden dürfte. Und so wird denn auch der Massenmord an Juden und ihre vorangehenden Deportationen ins Gesamtgeschehen eingeordnet, soweit es sich um polnische Juden handelte. Wenn der Leipziger Historiker aber Johannes Rau zitiert, der einmal meinte, man solle Flucht und Vertreibungen gemeinsam neu bewerten und auch ihre Ursachen verständlich machen, dann hat das offenbar nicht in der Absicht der Initiatoren gelegen, denn von der politischen Vorgeschichte – oft über Versailles 1919 hinaus – ist kaum die Rede. Das hätte wohl auch den Rahmen gesprengt. Beim Durchblättern stößt man immer wieder auf das der Propaganda entlehnte Wort vom deutschen „Überfall“ auf Polen und muß daher zunächst befürchten, daß sich das Buch von der bisher gängigen Geschichtspolitik nicht unterscheidet, bedeutet doch „Überfall“ im Strafrecht einen unvorhergesehenen Angriff, auf den sich der Angegriffene nicht rechtzeitig einstellen kann – wovon beim Ausbruch des deutsch-polnischen Krieges nicht die Rede sein kann, hatte doch Polen bereits im Frühjahr 1939 mit der Teilmobilisierung begonnen und dann am 29. August die Generalmobilmachung angeordnet. Man wird aber bald eines Besseren belehrt. Werk aus polnischer Perspektive Von der immer wiederholten Behauptung, Polen sei stets nur Opfer gewesen, findet man in dem Buch nichts. Auch Ereignisse, die für Polen kein Ruhmesblatt sind, wie die Massenmorde bei den „wilden Vertreibungen“ aus Ostdeutschland im Sommer 1945, das fürchterliche Geschehen in den polnischen Internierungslagern 1945/46 sowie das brutale Vorgehen des polnischen Militärs bei der Vertreibung der Ukrainer 1947, werden nicht verschwiegen. Das sorgfältig ausgestattete und modern gestaltete Buch teilt das Geschehen in Ost- und Ostmitteleuropa nach Zeitabschnitten und betroffenen Völkern auf, was allerdings einen Gesamtüberblick erschwert. Ein klares Bild der Verlustzahlen gewinnt man ebenfalls nur schwer, weil auf Tabellen zu diesem Thema verzichtet wurde und die Zahlen von Vertriebenen, Deportierten, zu Tode Gekommenen lediglich im Fließtext vorkommen. Dennoch ist das Werk aus polnischer Perspektive geschrieben, und daher verwundert es nicht, wenn ein Deutscher einiges vermißt. So erfährt man nichts über die zwischen den beiden Weltkriegen aufgrund der Drangsalierungen aus Polen geflohenen Deutschen und Juden, immerhin einige hunderttausend. Das Schicksal der zwischen 1939 und 1959 geflohenen bzw. vertriebenen (es wird übrigens unverschleiert von „Vertreibungen“ gesprochen, was bisher in den Ohren der Polen einen schrillen Klang hatte) Volksgruppen wird unverzerrt dargestellt, wobei das Kapitel über die Polen das umfangreichste ist, obgleich Flucht und Vertreibung der Deutschen die größte „ethnische Säuberung“ der Weltgeschichte war. Pharisäertum ist gewichen Durch das Buch erfährt man in Deutschland wohl zum ersten Mal etwas über das Martyrium, dem die Ukrainer ausgesetzt waren. Als die Westukraine 1920/1921 von Polen mit Waffengewalt erobert und Polen angeschlossen worden war, wehrten sich die Ukrainer, die die Mehrheit der Bevölkerung bildeten, auch mit Gewalt gegen die Polonisierung. Nach 1945 fiel die Westukraine an die UdSSR. Ukrainische Siedlungen, die sich auf dem Boden Polens befanden, wurden nun mit militärischer Gewalt von Polen zerschlagen und die Bevölkerung zwangsweise in die eroberten deutschen Gebiete umgesiedelt. Wie vergiftet das Verhältnis war und offenbar noch ist, mag auch daraus hervorgehen, daß in dem Buch Ukrainer stets als „Banditen“ bezeichnet werden. In vielen Fragen werden Deutsche und Polen sicherlich unterschiedlicher Meinung sein. Endlich aber ist das Pharisäertum gewichen, das es fast unmöglich machte, mit polnischen Stellen über Flucht und Vertreibung in ein aufrichtiges Gespräch zu kommen. Das Buch könnte der Beginn einer fruchtbaren Zusammenarbeit werden – vorausgesetzt, daß sich von deutscher Seite Wissenschaftler finden, die nicht von der politischen Korrektheit geleitet werden oder sich nicht scheuen, polnischen Wissenschaftler mit ihrer oft allzu national geleiteten Lesart der Geschichte zu widersprechen. Witold Sienkiewicz, Grzegorz Hryciuk, Stefan Troebst: Illustrierte Geschichte der Flucht und Vertreibung. Mittel- und Osteuropa 1939 bis 1959. Sonderausgabe für die Verlagsgruppe Weltbild. Augsburg 2009, gebunden, 256 Seiten, Karten, Abbildungen, 14,95 Euro
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