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»Tag der Befreiung?« Diese Rede Richard v. Weizsäckers zum 40. Jahrestag der Kapitulation von 1945 gilt als die bedeutendste seiner Amtszeit. Tatsache ist, dass v. Weizsäcker mit dieser Rede die Interpretation des 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ gesellschaftsfähig gemacht hat. Auch den Vertriebenen tat er offenkundig Unrecht. Mit Spannung war sie erwartet worden, die Rede des Bundespräsidenten zum 40. Jahrestag des Kriegsendes. Die Atmosphäre war schließlich spannungsvoll aufgeladen, als der damals schon Weißhaarige 65-Jährige im Bundestag ans Rednerpult trat. Einige hatten schon vorher ein Blick in das Manuskript werfen können und ihre Teilnahme abgesagt, so der damalige Bundestagsabgeordnete Lorenz Niegel (CSU). Für Hochspannung sorgte dann vor allen Dingen der Satz: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“ Nicht nur herausgerissen aus dem Zusammenhang der Rede sorgte er für Unruhe. Obwohl v. Weizsäcker klug genug war, den umstrittenen Satz in differenzierende Überlegungen einzubetten, wurde damit die Geschichte uminterpretiert. Bis weit in die 60er Jahre hinein war es allein Sache der Kommunisten von SED und KPD gewesen, den 8. Mai so einseitig als „Tag der Befreiung“ zu interpretieren, selbst die SPD unter Kurt Schumacher hatte für diese Deutung nur Verachtung übrig. Dass am 8. Mai eine grauenhafte Diktatur zu Fall kam und dieser Tag deswegen – jedenfalls im Westen Deutschlands und auch dort nach Jahren von Hungersnot und Besatzungswillkür – ein Stück Freiheit brachte, ist indessen weder neu noch umstritten. Schon der erste Bundespräsident Theodor Heuß sprach 1949 vom Kriegsende als einem „Tag der bitteren Niederlage und einem Tag der Befreiung“. Doch v. Weizsäcker verlagerte die Gewichte völlig. Vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 zog er eine gerade Linie. Am Anfang des Deutschland widerfahrenen Unrechts stünden demnach nunmehr freie Entscheidungen deutscher Wähler und Politiker in den Jahren 1932 und 1933. Dass die Machtergreifung ihrerseits eine Vorgeschichte hatte und dass viel alliiertes Unrecht selbst durch die deutsche Verantwortung für Hitlers Machtergreifung niemals zu rechtfertigen war und ist, ging bei v. Weizsäcker unter. Er zog die Linie von 1933 bis 1945 so dick, dass am Ende des Räsonierens eine deutsche Alleinschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges stand: Die „Initiative aber zum Krieg ging von Deutschland aus, nicht von der Sowjetunion“. Diese Einschätzung mutet nicht nur mit Blick auf die Friedensbedingungen von 1919 sonderbar an. Den Heimatvertriebenen kam v. Weizsäcker nur bedingt entgegen. Er gestand zu, dass ihnen „das Schwerste abverlangt wurde“ und betonte „Heimatliebe eines Vertriebenen ist kein Revanchismus!“ Doch das war schon mehrdeutig: War diese Heimatliebe womöglich dann revanchistisch, wenn sie nicht mit dem Verzicht auf jegliche Wiedergutmachung einherging? Die hoch gerühmte Rede ist für diese Interpretation völlig offen, und das übrige Handeln v. Weizsäckers, der zu den Autoren der umstrittenen Ostdenkschrift der EKD von 1965 gehört, macht diese Deutung sogar fast zwingend. Weitere Passagen der Rede waren Salz in die Wunden der Vertriebenen, etwa die Formulierung „Gewaltverzicht ... heißt, den widerstreitenden Rechtsansprüchen das Verständigungsgebot überzuordnen“. Dies ist zutiefst irreführend, weil es logisch gar nicht notwendig sein kann, gleich zwei konträre Rechtsstandpunkte zu opfern, um Verständigung zu ermöglichen. Polens „Rechts“standpunkt war und ist: Die Vertriebenen sollen auf alles verzichten, dann verständigen wir uns gerne. Genau diesem Standpunkt hat v. Weizsäcker hier das Wort geredet. Von zwei konträren Rechtsstandpunkten kann aber nur einer gültig sein, weil es auch nur eine Wahrheit gibt und aus der zutreffenden Tatsachenfeststellung die Rechtsfolge fast automatisch folgt. Deutlicher gesagt: Richard v. Weizsäcker hat am 8. Mai 1985 – wenn auch in geschliffenen und schwer angreifbaren Formulierungen – von den deutschen Vertriebenen nichts anderes als den Verzicht auf Wahrheit und Gerechtigkeit verlangt. Womöglich allerdings kannte und kennt der Altbundespräsident trotz aller intellektuellen Brillanz einige Tatsachen nicht. So erklärte er am 8. Mai 1985 über die Vertreibung: „Der erzwungenen Wanderschaft von Millionen Deutschen nach Westen folgten Millionen Polen und ihnen wiederum Millionen Russen.“ Von der verletzenden Formulierung „erzwungene Wanderschaft“ ist v. Weizsäcker später wieder abgerückt. Nie korrigiert hat er die falsche Tatsachenbehauptung über die „Millionen Russen“ auf Wanderschaft. Wahr wäre gewesen: „Den zwölf Millionen ost- und sudetendeutschen Vertriebenen folgten 1,2 Millionen polnische Zwangsumsiedler, außerdem etwa drei Millionen weitere polnische sowie rund 400.000 russische Siedler.“ Das sogenannte „Ostpolen“ war eben legitim weißrussisches und ukrainisches Gebiet, das keineswegs entvölkert war, nachdem die dortigen polnischen Minderheiten das Land verlassen hatten. Eine russische „Nachsiedlung“ war nicht nötig und fand nicht statt. Es ist erstaunlich, dass speziell dieser Punkt der frei erfundenen Wanderschaft von Millionen Russen in der anschließenden Diskussion keine Rolle gespielt hat. Es sagt allerdings auch etwas aus über den (damaligen) Zustand der deutschen Ostmitteleuropaforschung, die vier Jahre später, im Jahre 1989, ein unglaubliches Waterloo erleiden sollte.
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