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"Guardian":
Polen nur wenig besser als Hitler-Deutschland
London
- Nicht nur Russland, sondern auch Polen kämpft seit geraumer Zeit um seine
Version der Geschichte der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts und gerät
hierbei immer mehr unter Druck, denn Klagen nehmen zu und mit ihnen auch die
Zahl seriöser internationaler Historiker, die große Teile der polnischen
Geschichte, welche auch in Sowjetzeiten nach der damals üblichen Doktrin
geschrieben wurde, in Frage stellen.
Erst heute meldete sich zu diesem Thema
sogar der eigentlich bisher sehr polonophile britische Historiker und Buchautor
Norman Davies erstmals recht negativ gegenüber Polen zu Wort und räumte ein,
dass Polen vor dem zweiten Weltkrieg sehr autoritär regiert wurde: "In diesem
Land war die Demokratie beschränkt.
Mit brutalen Methoden ging man gegen
Minderheiten vor und vor allen Dingen nach 1935 verriet sich Polen mit klaren
national-chauvinistischen Tendenzen gegenüber den Juden und Deutschen. Der
britische "Guardian" ging erst vor wenigen Tagen noch einen Schritt weiter und
zitierte in diesem Zusammenhang, unter der Headline "Polen unterschied sich nur
wenig von Hitler-Deutschland", aktuelle Berichte des weltbekannten
Harvard-Professor und Historikers Niall Ferguson.
National-chauvinistische Tendenzen
Die Aussage von Norman Davies über Polens brutalem Umgang mit seinen
Minderheiten vor dem zweiten Weltkrieg, kam kurioserweise durch den Niall
Ferguson Artikel im "Guardian" zustande. In diesem ging es in erster Linie
darum, dass zuletzt von russischer Seite Polen angeklagt worden war mit Hitler
gemeinsame Sache in der Vorkriegszeit gemacht zu haben und Stalin sich danach
gezwungen gesehen habe, den
Molotow-Ribbentrop Pakt gutzuheissen. Davies sah
sich nun ebenfalls genötigt hierauf in derselben Zeitung zu reagieren. Er zeígte
sich nicht einverstanden mit dem Vorwurf des Harvard-Professor "Polen war nur
wenig besser als Hitlerdeutschland" und wies seine Anschuldigung zurück. Davies
bezeichnete es als "historischen Mißbrauch" wenn man Polen in der Zeit vor dem
zweiten Weltkrieg in die gleiche Kategorie von totalitären Staaten wie seine
Nachbarn einordne. "Ja, das war zwar ein autoritär-regiertes und brutales Land
mit klaren national-chauvinistischen Tendenzen gegenüber Juden und Deutschen,
aber die damaligen antidemokratischen Tendenzen (!) waren aber nicht gleichen
Standards wie die Praktiken totalitärer kommunistischer und faschistischer
Regime wie in Russland und Deutschland" - versuchte Davies im "Guardian" zu
vermitteln.
Polnisches Aussenministerium empört
Das polnische Aussenministerium in Warschau und die Botschaft Polens in London
sind über den Artikel des Historikers Niall Ferguson sehr aufgebracht, Warschau
setzte offiziell eine Beschwerde, bzw.
Gegendarstellung in den "Guardian".
Unterdessen haben sich auch weitere Historiker zu diesen Themen zu Wort
gemeldet. Hierunter auch Orlando Figes, der schon den
Molotow-Ribbentrop-Pakt
gar als "Lizenz zum Holocaust" bezeichnet hatte. Er ist sich mit Ferguson auch
dahingehend einig, dass im Jahre 1939 als der Krieg ausbrach, Stalin der
Diktator mit den bei weitem blutigsten Händen war und Hitler als Aggressor um
nichts nachstand. Polens historische Rolle vor, während und nach dem Krieg, wie
z.B. in der Frage um die grausamen Vertreibungen der Deutschen aus dem
Nachkriegspolen mit bis zu 2 Millionen Todesopfern, dem Partisanenkampf und den
Übergriffen und Pogromen an Juden, ist ebenso Bestandteil vieler weiterer
aktueller Diskussionen. Was die Verbrechen während der Vertreibungszeit
betrifft, kann man ebenso unzweifelhaft davon ausgehen, dass es die Sowjets
waren welche nicht nur den Tätern Schutz boten, sondern auch diesen Völkermord
ideell gefördert hatten. Dies scheint auch der Grund zu sein, warum russische
Archive auch über diesen Zeitraum keine Informationen herausgeben.
Geheimdienste machen Überstunden
Polen und Russland stehen ohne Zweifel unter historischem Dauerfeuer. Beide
Staaten haben ihre Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bisher kaum
oder garnicht aufgearbeitet. Beide Nationen, vor allen Dingen aber das
sowjetische Russland, hatten in jener Zeit Verbrechen und Völkermorde begangen
die den Grausamkeiten der SS im Osten Europas um nichts nachstanden und bis
heute ungesühnt sind. So weit es ging wurden derartige Taten damals und noch
heute den Deutschen in die Schuhe geschoben, die sich nach dem Kriege kaum
aufgrund der eigenen Verbrechen hiergegen wehren konnten. Polnische und
russische Geheimdienste, Diplomaten, Journalisten und Historiker machen schon
seit Monaten Überstunden um die von der Sowjetdoktrin erhaltenen
Geschichtsbilder ihrer Länder zu erhalten. Einige hiervon sitzen sogar in den
Redaktionen deutscher Tageszeitungen wie z.B. bei der "Welt" und publizieren
heute noch angebliche Verbrechen der deutschen Wehrmacht, welche nachweislich
durch polnische, sowjetische oder ukrainische Partisanen begangen wurden.
Kaczynski-Brüder wollen polnisch-russische Beziehungen einfrieren
Auch russischen Medien fielen bereits über Polen her und berichten seit Wochen,
dass man den Hitlerfaschismus unterstützt habe. Dies ist aber unübersehbar nur
ein Manöver, um von den gigantischen Verbrechen der eigenen Nation abzulenken.
Die Kaczynski-Brüder fordern deshalb eine Überprüfung der Geschichte des Zweiten
Weltkriegs sowie eine Debatte über den Jahrestag des
17. September 1939, an
welchem nach Hitler auch Stalin im damaligen Polen einmarschierte. Ebenso soll
das Massaker von Katyn als Völkermord durch die Sowjets deklariert werden und
die polnisch-russischen Beziehungen eingefroren werden. Das staatliche russische
Fernsehen beklagt am Dienstag auf seiner Website dass Lech und Jaroslaw
Kaczynski eine Kampagne entfesselt haben, um den Beginn des Zweiten Weltkrieges
zu revidieren. Das Verhalten der Kaczynskis gegenüber Moskau ist durchaus
angemessen. Was verschleierte polnische Verbrechen jener Zeit betrifft, halten
sich die Herren allerdings zurück und drohen jedem der die "polnische Version
der Geschichte verfälscht" mit dem Staatsanwalt.
Über Davies, Ferguson und Figes aus Wikipedia
Norman Davies ist ein britischer Historiker. Sein
Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Geschichte Polens. Die deutschen Kollegen
warfen Davies eine "polonophile" Haltung vor. Laut bestimmten deutschen Autoren
neigt er in der Darstellung der Konflikte Polens mit den Nachbarstaaten
Russland, Litauen, Ukraine, Preußen bzw. Deutschland oder den einheimischen
Minderheiten, insbesondere Juden, dazu, polnische Standpunkte zu rechtfertigen
oder Kritik an ihnen zu relativieren. Er machte sich den polnischen Standpunkt
zu eigen, wonach in der Darstellung des Zweiten Weltkriegs der Holocaust einen so
zentralen Platz einnähme, dass das Leiden der Polen im Vergleich dazu
bagatellisiert und diese darüber hinaus fälschlich des Antisemitismus
beschuldigt würden. Diese teilweise polemisch vertretene Position brachte Davies
selbst den Vorwurf des Antisemitismus ein, und führte dazu, dass ihm 1986 eine
bereits vertraglich vereinbarte feste Professur an der Stanford-Universität
kurzfristig wieder entzogen wurde.
Niall Ferguson ist ein britischer Historiker und derzeit
Laurence A. Tisch-Professor of History an der Harvard University. Er
unterrichtete unter anderem auch am Jesus College der Universität Oxford und an
der Universität Stanford. Sein Hauptarbeitsgebiet ist der Imperialismus. Er gilt
außerdem als ein Spezialist für Finanz- und Wirtschaftsgeschichte und für
die
Familiengeschichte der Rothschilds. 1998 sorgte er mit seinem Buch The pity of
war (dt. 2001: Der falsche Krieg) für Furore, in dem er die Ursachen für den
Ausbruch des Ersten Weltkriegs untersuchte. Dabei kam er zu dem Schluss, dass
nicht, wie auch von vielen deutschen Historikern (etwa Wolfgang J. Mommsen)
vermutet, Deutschland, sondern das Britische Empire für die Eskalation im Sommer
1914 hauptverantwortlich sei. Nach Ferguson forcierte der britische
Außenminister Edward Grey die Spannungen. Hätte sich England aus dem Krieg
herausgehalten, so wäre das Ergebnis nach Ferguson ein deutscher Sieg gewesen,
aber auch ein prosperierendes Nachkriegs-Europa, in dem es zu Demokratisierung
gekommen wäre, also faktisch zu einer Art „Europäischen Gemeinschaft“ unter
deutscher Hegemonie, während England weiterhin ein intaktes Empire gewesen wäre.
Nach Ferguson, der sich dabei der Methodik der Virtuellen Geschichte bedient
(Ferguson gilt als einer ihrer Hauptbefürworter), hätte auch der
Nationalsozialismus keinen Nährboden mehr gefunden, da er laut Ferguson nur
eine
direkte Folge des „Großen Krieges“ sei. Stattdessen sei durch den Kriegseintritt
Großbritanniens der Krieg eskaliert – und doch sei das Ergebnis heute so, dass
Deutschland die wirtschaftliche Vormacht in Europa ist. Ebenso bestreitet er,
dass es einen deutschen Sonderweg gegeben habe.
Orlando Figes ist Professor für Geschichte am Birkbeck College,
University of London. Er ist Autor zahlreicher Bücher über die russische
Geschichte, von denen das letzte ist Die Flüsterer: Private Life in Stalins
Russland (2007). Seine Bücher wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt.
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weitere Informationen: / Further Information:
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05. Sept. 2009: Niall Ferguson:
Why did the second world war begin?
www.guardian.co.uk/world/2009/sep/05/second-world-war-background-causes;
05. Sept. 2009:
Why did the second world war begin?
www.u.tv/News/Why-did-the-second-world-war-begin/f42f317b-bebc-4d3a-84f2-49c2ca6b3828;
05. Sept. 2009: Why did the second
world war begin?
http://www.buzzle.com/articles/304249.html;
11. Sept. 2009:
Ferguson's take on Polish history
http://www.guardian.co.uk/world/2009/sep/11/poland-war-fascism;
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