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Die Darstellung der
Prußen im Werk Agnes Miegels
von Bärbel Beutner
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„Sieben Jahr sollst du um Tote klagen,
Die befreundet Dir und lieb gewesen,
Zwanzig Jahr sollst du um jene trauern,
Die aus gleichem Blut wie du geboren,
Hundert Jahre aber soll ein Volk
Seines letzten Fürsten Tod beweinen.
Hundert Jahre bald schläft Herzog Samo.
Bald am Stamme jener Trauerbirke
Werde meine Harfe ich zerschmettern.
Nie mehr werde ich die Kunde singen
Von des Herzogs Samo stolzem Sterben,
Schweigen wird mein Mund und mit mir schweigen
Wird das Volk, das seinen Tod beweinte.
Mit des Herzogs Namen wird verklingen
Jene Sprache, die um ihn geklagt.“ 1
„Herzog Samo“, eine Ballade aus dem Jahre 1900, schildert
den Tod des Prußenherzogs Samo, der sich schließlich der Übermacht der Ritter
ergeben muss.
„Mit des Schneesturms Schnelle durch die Heide
Flog ein Kriegervolk in weißen Mänteln.“ 2,
und gegen die eiserne Rüstung sind „Preußenpfeil und
Weidenspeere“, machtlos. Sie besiegen die Prußen, wollen jedoch den Herzog und
die Seinen in ihre Reihen aufnehmen. Der Herzog soll sich unterwerfen und taufen
lassen, und seine Söhne werden in die Kaiserpfalz kommen, seine Töchter Grafen
frein und seine Enkelkinder werden Kronen tragen. Die Antwort des Herzogs auf
dieses Angebot: er tötet sich und seine Familie; seine Gattin und seine sieben
Kinder folgen ihm freiwillig in den Tod. Der älteste Sohn fühlt sich sogar
gekränkt, als der Vater Abschied von den Kindern nehmen will, die im Leben
zurückbleiben sollen. Er verweist auf die alte prußische Sitte:
„Jeder Häuptling unseres alten Volkes
Heißt im Sterben seine Diener sterben,
Heißt die Hunde töten, die ihn liebten,
Heißt den Hengst erdolchen, der ihn trug,-
Herzog Samo geht und heißt uns bleiben!“ 3
Am nächsten Morgen finden die Boten der Ritter die ganze
Familie am kalten Herde „tot wie erfrorne Saat“.
Diese Ballade schrieb die 21jährige Agnes Miegel, und auch
hier zeigt sich das Phänomen dieses dichterischen Werkes: das Frühwerk hat die
gleiche Sprachgewalt, die gleiche Ausdruckskraft wie spätere Dichtungen. Mit
derselben Intensität und Genauigkeit geht Agnes Miegel hier auf die Lebensweise
und die Mentalität der Prußen ein wie in ihrer Erzählung „Die Fahrt der sieben
Ordensbrüder“ über 20 Jahre später, wenn natürlich das Prosastück auch noch ganz
andere Möglichkeiten der Beschreibung eröffnet. Doch auch in der Ballade findet
der „Prußenkundige“ manche Details der prußischen Lebensweise.
Das Volk der „Prusai“, das zum ersten Mal um 300 v. Chr.
von dem römischen Kaufmann und Geographen Pytheas unter dem Namen „Ostiaer“
erwähnt wird, wird von dem römischen Geschichtsschreiber Tacitus „Aestii“
genannt und ausführlicher beschrieben. Ein Zeitraum von 400 Jahren liegt
zwischen diesen beiden Zeugen. Pytheas unternahm 300 v. Chr. eine Reise von
Massilia, dem heutigen Marseille, ins Nordland, wo er diesem Volk östlich der
Weichsel an der Ostsee nicht begegnet, sonder auf Jütland von diesem Volk hört.
4 Auch Tacitus hat dieses Volk nie besucht, als er ungefähr 100 n.
Chr. seine „Germania“ schreibt, doch berichtet er neben fragwürdigen, später
revidierten Details interessante Einzelheiten, die mit anderen Berichten
übereinstimmen. Danach baute dieses Volk Getreide und Feldfrüchte an, war
bewaffnet, aber selten mit Eisenwaffen, mehr mit Knüppeln, verehrte eine
Göttermutter und sprach eine Sprache, die der brittanischen glich. 5
Besonders fasziniert scheint Tacitus aber von dem Bernstein zu sein, den dieses
Volk sammelt und verkauft. „Aber auch das Meer durchsuchen sie, und sie sind die
einzigen von allen Germanen, die den Bernstein selbst ´glesum´ nennen, im
Umkreis seichter Stellen und am Strande selbst sammeln... Sie selbst verwenden
ihn überhaupt nicht, roh wird er aufgelesen, unverarbeitet in den Handel
gebracht, und staunend nehmen sie den Kaufpreis entgegen“. 6
Dass die Prußen den Bernstein nicht zu verarbeiten
verstanden, ist jedoch fraglich, und mehr noch wird die Zuordnung der „Aestii“
zu den Germanen zurückgewiesen 7 . Doch die sachkundige Beschreibung
des Bernsteins, die Tacitus vornimmt, ist heute noch aktuell. „Dass es sich
jedoch um das Harz von Bäumen handelt, sieht man leicht, weil sehr oft
mancherlei auf der Erde kriechende und selbst umherfliegende kleine Tiere durch
die Bernsteinmasse hindurchschimmern; sie verfingen sich im Harz und sind nun,
nachdem es zu festem Stoff verhärtete, darin eingeschlossen. Prüft man den
Bernstein auf seine Zusammensetzung und bringt ihn mit der Flamme in Berührung,
dann brennt er wie Kienspan und entwickelt eine qualmende und stark duftende
Flamme“. 8
Um 170-180 n. Chr. gibt der römische Geograph Ptolemäus die
Wohngebiete der Aestii ziemlich genau an und nennt auch die Namen zweier ihrer
Stämme: die Galinder und die Sudauer 9 Jahrhunderte später berichtet
Einhard, der Geschichtsschreiber Karls des Großen, ebenfalls über die Aestier,
und der Wikinger Wulfstan mach um 880 eine Fahrt zu den Aestier ins Samland und
zu den Pomesaniern nach Truso, dem Haupthandelsplatz der Aestier, wo später
Elbing entstand 10. Von hier aus unternahmen prußische Schiffe ihre
Handelsfahrten nach Birka, dem schwedischen Ostseehafen.
Als erster verwendet der Priester und Pfarrherr Helmold von
Bosau am Plöner See, ein Zeitgenosse Barbarossas, in seiner Slawenchronik die
Bezeichnung „Prußen“ 11. Ausführlich, aber nicht immer treffend
berichtet dann der Ordenschronist Peter von Dusburg 1326 mehr über die Prußen.
Er sieht in den Prußen vor allem ein Volk, das sich gegen die Christianisierung
wehrt und folglich „des Teufels“ ist. Im Jahre 1326 übergibt er dem Hochmeister
Werner von Orseln seine „Chronicon terrae Prussiae“, in der er mit der
Schilderung von Ereignissen des Jahres 1280 beginnt und das Hauptgewicht auf die
Taten des Ordens legt 12. Doch kommen auch die Lebensverhältnisse der
Prußen zur Sprache, denen er allerdings ihren Kampf gegen die fremde Macht der
Christen nicht verzeihen kann 13.
Auch polnische Schreiber gibt es, wie Jaroslav, Domherr in
Ploczk in Masovien oder Vinzenz Kadlubek, Bischof zu Krakau 14. Eine
von albrecht von Brandenburg, dem späteren Herzog Albrecht, in Auftrag gegebene
Geschichte der alten Preußen wurde von Lukas David, 1503 in Allenstein geboren,
geschrieben, der in Leipzig die Rechte studiert hatte und dort auch als Dozent
tätig war. Er war ursprünglich als Rat des Hofgerichts in Königsberg vorgesehen,
wurde aber von Herzog Albrecht von diesem Amt entbunden, um die Geschichte des
Landes und des Volkes nach den Archiven in Thorn, Danzig und Elbing
aufzuzeichnen. 1576 muss er mit der Reinschrift begonnen haben. Bis zu seinem
Tode 1583 hatte er zehn Bände fertiggestellt, bis zur Schlacht bei Tannenberg
1410 15. Weitere Zeugen sind noch der Geograph Kaspar Henneberger und
Professor Christoph Hartknoch, der 1684 die Geschichte „Altes und neues Preußen“
herausgab 16. In der neueren Zeit ist noch Professor Johannes Voigt
zu nennen, der 1827 eine detaillierte „Geschichte Preußens“ vorgelegt hat, und
der Preußenforscher Heinrich Gerlach mit dem Werk „Nur der Name blieb“ 17.
Die unterschiedlichen Zeugnisse über die Prußen stimmen
doch in recht vielen Einzelheiten überein. Einen zentralistischen Staat hatten
sie nicht, sie lebten in Stammesverbänden unter einem Fürsten 18. Ein
Pruße konnte bis zu drei Frauen heiraten. Dazu bringt Heinz Georg Podehl
anschauliche Beispiele in seinem buch „Prußische Geschichten“. Den „vergessenen
Völkern“ ein Denkmal zu setzen, hat er versucht, die Sagen und Märchen seiner
prußischen Vorfahren ans Licht zu holen 19. Eine dieser Geschichte
ist „Die Sage von den unzufriedenen Frauen“. Erst hat der wohlhabende Jäger
Wiltut nur eine Frau, die alles besitzt, um zufrieden zu sein –nur ein Kind hat
sie noch nicht. Und junge prußische Ehefrauen müssen bis zur Geburt des ersten
Kindes einen Kranz mit weißem Tuch tragen. Ein geheimnisvolles Männlein im Wald
rät dem reichen Jäger zu einer zweiten Frau, schließlich zu einer dritten- und
erst dann stellt sich der Kindersegen ein, und die jungen Frauen können die
Kränze abnehmen, „die sie doch arg gedrückt hatten“ 20.
Ackerbau wurde betrieben mit einer schon weit entwickelten
Vorratswirtschaft, die weiträumigen Scheunen waren ein besonderes Merkmal
21. Sehr ausgeprägt war die Pferdezucht, die vom Orden übernommen und
weitergeführt wurde. Wollarbeiten und Flachsspinnen waren bekannt, ebenso die
Schafzucht. Eine große Bedeutung hatte das Jagen und das Angeln 22.
In der Ballade von Herzog Samo finden sich nun eine Reihe
authentischer Details. Die Töchter des Herzogs tragen „dunkelbraune
Bernsteinperlen“, die Knaben tragen „weiße Leinenhemden“ („Die Kleidung war
einfach, zumeist von weißer Leinwand“, heißt es bei Karl Baumann, der sich dabei
auf Wulfstan beruft, der kurz vor Ende des 9. Jahrhunderts eine Reise an die
Küste des Prußenlandes unternahm und eine Zeitlang unter den Prußen weilte und
ihr alltägliches Leben beobachtete) 23.
Die Söhne des Herzogs sprechen von ihrem bogen, ihrer
Angel, ihrem Pferd. Auf die Frage des Vaters, ob sie ihr Leben lieben, antworten
sie:
„Ja, mein Vater, lieb ist mir das Leben´,
Sprach der Älteste, ´als wie mein Bogen.´
Sprach der Zweite, ´wie die Angelrute´,
Sprach der Dritte, ´wie mein blankes Messer´,
Sprach der Vierte, ´wie mein braunes Pferd!“ 24
Die Heimat der Prußen war das Land der Wälder und Seen, und
Jagd und Fischfang waren demnach Künste, in denen alle von Kind an unterwiesen
wurden. Wild, gebraten und mit frischen oder getrockneten Kräutern gewürzt, galt
als besondere Delikatesse, und aus der Jagd ergaben sich Pelzverarbeitung und
Pelzhandel. „Es waren vor allem Felle von Bären, Wölfen, Luchsen, Mardern und
Iltissen, die von ihnen zu wohlduftenden Pelzen verarbeitet wurden.“ und die sie
dann „gegen andere von ihnen begehrte Waren eintauschten“ 25,
recherchiert Karl Baumann. Und die Bedeutung der Reitkunst ging so weit, dass
die Hinterlassenschaft eines Toten durch ein Wettreiten verteilt wurde. Die
bewegliche Habe eines Verstorbenen wurde in fünf oder sechs Teile geteilt und
diese etwa eine Meile voneinander entfernt niedergelegt, der größte als erster
Haufen. „Alle, die Anspruch an das erbe des Toten hatten, konnten sich bei einem
Mal versammeln. Auf ein für alle gültiges Zeichen sprengten sie los, und der
schnellste gewann den ersten und größten Haufen, und die folgenden die jeweils
kleineren. Es ist nur, natürlich, dass bei solchem Brauchtum viel Wert auf das
Züchten schneller und ausdauernder Pferde gelegt wurde und über
Erbstreitigkeiten infolge des Hinscheidens eines Familienoberhauptes ist bei den
Prußen nichts bekannt geworden“ 26.
Die Ballade „Herzog Samo“ schildert, wie die Erzählung „Die
Fahrt der sieben Ordensbrüder“, den Zusammenprall der prußischen Lebensweise mit
der Eroberungspolitik des Ordens. Das 13. Jahrhundert bedeutete Krieg und Kampf
zwischen den Einwohnern des Landes und dem von Konrad von Masowien
herbeigerufenen Orden, der unter Hermann von Salza den Ordensstaat anstrebte.
Die goldene Bulle von Rimini (1226) sicherte dem Orden die Rechtsgarantie des
Kaisers zu, das Kulmer Land und alles weitere von ihm eroberte Land als
endgültigen Besitz ansehen zu dürfen. Bestätigt wurde diese Zusicherung
zusätzlich durch die päpstliche Bulle von Rieti 1234. Land, das von einem
heidnischen Volk bewohnt war, galt als herrenlos 27. Was für den
Orden rechtmäßige Besitznahme des Landes ist –auch Konrad von Masowien bestätigt
dem Orden in einer Urkunde vom 29. Mai 1226 den Besitz des Kulmer Landes und
allen noch zu erobernden Landes in Preußen und leistet damit Verzicht auf das
Land 28- ist für die prußischen Einwohner Raub und Verlust ihrer
Freiheit, wogegen sie sich mit Waffengewalt wehren. Was den Eroberern als „Prußenaufstände“
gilt, ist für die Einwohner ein Befreiungskampf. Wo die christllichen Ritter die
Überbringung der Heilsbotschaft auch mit Gewalt durchsetzen wollen, erleben die
Prußen die Zerstörung ihrer Kultur, ihrer Sitten und ihrer Naturreligion und
ihres Götterglaubens.
In Agnes Miegels Ballade sind die Prußen diesem
„Kriegervolk in weißen Mänteln“ unterlegen, denn:
„Schrecklich war ihr Antlitz erzverkleidet,
An dem Eisen ihrer Rüstung sprangen
Kraftlos Preußenpfeil und Weidenspeere.
Furchtbar wie der Hagel gingen sie
Durch die Gerstenfelde und die Triften.“ 29
Herzog Samos Krieger sind gefallen, und nun wenden die
Ritter eine andere Taktik an. Sie bieten dem Herzog die Taufe an, aber nicht mit
Drohungen, sondern mit Versprechungen. Diese Taktik des Ordens ist authentisch.
so ist im Jahre 1263 ein Kampf in der Nähe von Königsberg mit schweren Verlusten
auf Seiten der Samländer und auf Seiten des zu Hilfe gerufenen
Kreuzfahrer-Heeres und der Ordensritter bezeugt, wobei der Orden besonders die
Edlen der Prußen für sich gewinnen will 30. „Er (der Orden) bediente
sich in dieser für ihn so krisenreichen Zeit der List und der vorausschauenden
Klugheit, indem er unablässig versuchte, so viele wie möglich aus der Schicht
der Edelleute und angesehenen Vornehmen auf seine Seite zu ziehen. Es gelang
ihm, diese Mit Verlockungen und Verleihungen zu ködern...“ 31. Bei
Herzog Samo und den Seinen gelingt es den Rittern nicht, obwohl sie mehr
anbieten als „Einkünfte aus Landbesitz“ oder „Befreiung von Ablieferung des
Zehnten“ 32.
„Herzog Samo, höre unsre Rede:
Beug dich unserm Schwert und unserm Gotte,
Unserm greisen Führer schwöre Treue
Am Altare des, zu dem wir beten!
Deinen schweren Schwur wird er belohnen,
Wie ein Christ des Christen Treue lohnt,
Wie ein Fürst der Welt der andern Fürsten,
Der im Kampf mit ihm den Schild zerspellte.
Auf den weißen Rossen, die wir bringen,
Werden deine Söhne westwärts reiten
In die stolze Pfalz des deutschen Kaisers.
Tanzen werden sie mit Königstöchtern,
Mit des Kaisers greisen Räten tafeln,
Mit Prälaten in die Messe schreiten.
Unsre Blutsverwandten werden kommen
Von den Burgen her, von Rhein und Saale,
Werden frein um deine blonden Töchter.
Deine Enkel werden Grafen sein,
Deine Kindeskinder Kronen tragen.“ 33
Wie sich die herzogliche Familie nicht von Versprechungen
gewinnen lässt, wird sie sich auch nicht von den Drohungen im „Christburger
Vertrag“ schrecken lassen. Nach der Unterwerfung der Gaue Pomesanien, Pogesanien,
Sassen, Warmien, Natangen und Barterland wurde ein Friedensschluss in Christburg
unterzeichnet, der im Wesentlichen von dem späteren Papst Urban III. formuliert
worden war. Darin hieß es u.a.: „Wer die christliche Taufe ablehnt, wird von
seinem Eigentum verjagt.“ – „Wer die alten Feste noch feiert oder Heidenpriester
versteckt, wird mit dem Tode bestraft“ 34.
Ob die Ritter mit Drohungen oder Versprechungen kommen –die
Gastfreundschaft der Prußen wird ihnen zuteil. „Ruhet aus im Frieden meines
Hauses“, sagt der Herzog zu den Boten der Ritter, „Auf dem duft´gen Heu in eurer
Kammer“ 35. Alle Chronisten bezeugen einmütig die Gastfreundschaft,
die so weit ging, dass der Gast trunken sein musste bei dem ihm zu Ehren
veranstalteten Festessen und dass ihm auch eine Frau des Hauses angeboten wurde
36. Der Gast galt „als ein von den Göttern gesandtes Glück“ 37.
„Gastfreundlich zu sein galt als selbstverständliche Tugend, die von Arm und
Reich gleichermaßen geübt wurde“ 38.
Herzog Samo trinkt mit seiner Familie den Giftbecher, eine
Todsünde nach christlichem Verständnis, eine Geste der Barmherzigkeit im sinne
der Prußen. Todkranke, für deren Leiden keine Besserung zu erwarten war, wurden
im Einverständnis mit ihren Angehörigen vom Priester erstickt 39. Ein
Leben in Unfreiheit und vor allem die Aufgabe der prussischen Identität ist für
den Herzog schlimmer als der Tod. Seine Kinder denken wie er, obwohl er ihnen
das Leben als getaufte Christen in den herrlichsten Farben schildert:
„Ruhm und Reichtum wird es für euch haben
In dem Land der blonden Christenritter.
Jagen werdet ihr mit goldnen Bogen,
Fischen werdet ihr mit Silberangeln,
Edelsteinbesetzte Dolche tragen,
Zelter reiten wie ein Göttersohn.
Meine Töchter werden Mäntel tragen,
Faltig wie die Göttin jener Fremden,
Werden wandern in den großen Gärten,
Die des Westens Sonne bunter färbte,
Werden eines Königs Kinder wiegen“ 40
Dass die Mädchen „bebend“ diese Herrlichkeit zurückweisen,
wird bei näherem Hinsehen verständlich: sie wäre unter „Fremden“, denen sie sich
angleichen müssten in ihrer äußeren Erscheinung, und sie glichen gar einer
„fremden Göttin“. Diese fremde Religion ist ein wesentlicher Auslöser von
Abwehr. Die erzwungene Religionsausübung und der vorangetriebene Kirchenbau
müssen schon den Widerstand hervorrufen. „Verlangt werden: Regelmäßiger
Kirchenbesuch, Heiligung der christlichen Feiertage, Teilnahme an der
Beichte...“ 41, heißt es im „Christburger Vertrag“. Mehr noch trifft
die Prußen der Verlust ihrer Naturreligion die ihnen ein Leben im Rhythmus der
Jahreszeiten und im Einklang mit den Naturgesetzen gab. Neben den drei
Hauptgöttern Perkunos (Gott des Donners, des Sonnenscheins, des Regens und des
Windes), Potrimpos (Gott der Jugend, der Daseinsfreude), Pikollos (Gott des
Todes) gab es den vierten, den Kurcho, den Gott des Feldes, der Fruchtbarkeit,
der Nahrung. Eine Fülle von göttlichen Wesen gewährte zudem Schutz für das Haus,
für die Kranken, für die Blumen, für die Neugeborenen und für die Wanderer.
Heilige Bäume, heilige Wälder und Seen prägten die Umgebung, bösartige Wesen
sorgten für allerlei Unheil und mussten versöhnt und besänftigt werden.
Nun tritt ein Gott auf, der den Prußen Angst macht. Sein
Wahrzeichen ist ein schwarzes Kreuz auf den Mänteln und Schildern der Eroberer,
und schlimmer noch:
„Und ein Kreuz, daran ein Toter hing,
Ragte düster über ihrem Haufen.“ 42
Die Fremden predigen von einem unsichtbaren Gott, verehren
eine nur schwer einzuordnende Frau, legen großen Wert auf das Benetzen mit
Wasser, verbieten jahrhundertealte Bräuche wie mehrere Ehefrauen, Tieropfer,
Verbrennung des Leichnams –Missverständnisse und Unvereinbarkeiten sind gegeben.
Doch in ihrem Schrecken beim Anblick des unheimlichen Toten erahnen die Prußen
die eigentliche Botschaft des Christentums, indem die Krieger des Herzogs Samo
fallend rufen:
„Weiche, Herzog, jener Mann am Kreuz,
Jener Nackte mit der blutigen Stirne,
Ist das Abbild deines armen Volks!“ 43
Als die Todesstunde für den Herzog kommt, ist es für ihn
und seine Gattin eine fraglose Übereinkunft, dass sie gemeinsam sterben. Auf
seine Worte:
„Meines Glückes lachende Gefährtin,
Meiner Unglückstage stolze Freude,
Beuge nieder dich zu deinen Kinder,
Küsse ihre Stirn zum letzten Male.
Die du einst mit mir zum Leben gingst,
Heute gehst du mit
mir in den Tod“,
antwortet die Gattin:
„Lass mich dankbar deine Hände küssen
Für die Freuden dieser zwanzig Jahre.
Selig wie ich dir ins Brautbett folgte,
Folge ich dir heute in den Tod.“ 44
Die Ehe galt bei den Prußen als heilig; Ehebruch wurde
streng bestraft. Die Witwe heiratete nach dem Tod des Mannes in der Regel nicht
wieder, gelegentlich kam sogar die Selbsttötung der Witwe vor 45. Die
Zusammengehörigkeit des herzoglichen Paars bis in den Tod ist also eine
Erfüllung alter preußischer Sitte. Den Kindern wird die Entscheidung
anheimgestellt, aber die Familienbindung bestimmt ihre Entscheidung. Auch hier
mögen die preußischen Rechtsverhältnisse mitwirken. In der Ehe geborene Kinder
galten als Eigentum des Mannes 46, nur der männliche Nachkomme hatte
nach dem Tod des Vaters Erbansprüche, die Töchter mussten mit der Freigebigkeit
ihrer Brüder rechnen, sofern sie nicht verheiratet waren, und es war die Pflicht
des herangewachsenen Sohnes, mit dem Vater alle Freuden und Leiden zu teilen
47. Doch in Agnes Miegels Ballade zeigen die Kinder des Herzogs
tiefere Motive für ihren Todeswunsch. Ihr Volk würde ihrer nicht mehr in ehren
gedenken können, wenn sie sich den Fremden zuwenden und Verrat an ihrer Kultur
begehen würden, während ihre Eltern Treue bis in den Tod zeigten. Dann
„müssten an den Lauten,
Die in unserm Land von Herzog Samo
Und von seinem Weibe singen werden,
Schrillend wie in Qual die Saiten springen,
Wenn sie unsrer Namen nur gedenken!“ 48
Mehr noch bedeutet für sie der gewaltsame Tod der Eltern
die Vernichtung ihrer eigenen Lebensquelle und damit ihrer eigenen
Lebensmöglichkeit.
„Und sie knieten nieder: ´Herzog Samo,
Eine Bitte wolle uns gewähren!
Lasst uns nicht das Leben sterben sehn,
Das uns zeugte, lasst uns früher sterben!“ 49
Es ist weniger der individuelle Tod der Eltern, der im
Ablauf der Generationen sogar natürlich wäre; es ist mehr der Verlust der
Lebensgrundlage, der hier angesprochen wird. Das Leben, „das uns zeugte“,
erscheint in anderer Form in dem „Gott unserer Väter“, „aus dessen Samen dies
Land und wir alle gekommen“ 50, oder auch in der großen Düne, die als
„Mütterchen“ ihre Kinder zum Sterben in den Mutterschoß zurückholt 51.
Die göttliche Natur verkörpert sich hier in den leiblichen, das Leben
schenkenden Eltern. Die Familie trinkt das Gift aus einem Kelch,
„Der aus klarem Bernstein war geschliffen,
Der im roten Licht des Feuers flammte“ 52
Am „kalten Herde“, dem Mittelpunkt des Hauses, finden die
Fremdlinge den Herzog, seine Gattin und die Kinder tot. Die Prußenklage beweint
den Untergang des Prußenvolkes.
„Als der Herzog Samo nun gestorben,
Als gestorben war, was ihm geboren,
Zog er nach sich, wie die Toten tun,
Seines Volkes Beste in die Erde.“ 53
Die Eroberer haben offenbar gesiegt. Sie bauten ihre
Burgen, ihre Festen, und das Volk der Prußen ist zur Minderheit geworden und
wird vergessen werden. So klagt der Sänger, der um Herzog Samo trauert:
„Wenige von uns nur sind geblieben,
Um zu klagen in den Mondscheinnächten
Über Jene, die dahingegangen,
Um zu klagen über Herzog Samo.“ 54
Er fürchtet sogar, dass der Name dieses samländischen
Fürsten vergessen wird, weil die Sprache der Prußen vergehen wird.
„Mit des Herzogs Namen wird verklingen
Jene Sprache, die um ihn geklagt.“ 55
Doch die Geschichte hat dem klagenden Sänger nicht ganz
Recht gegeben. Staunend stehen die Historiker vor dem Phänomen, dass der Name
des besiegten Volkes von den Siegern angenommen wurde: aus den Prußen wurde
Preußen, Einwandere aus allen Himmelsrichtungen wurden ebenfalls zu Preußen,
schließlich wurden ein Staat, eine Idee danach benannt 56. Und auch
die Sprache ist durchaus nicht ganz verklungen. Mehrfach wird erwähnt, dass die
Prußen keine Schrift gekannt und damit keine schriftlichen Zeugnisse
hinterlassen hätten. Inzwischen gibt es Zweifel an dieser Theorie. Zur damaligen
Zeit waren Lesen und Schreiben durchaus nicht allen Zeitgenossen geläufig, auch
im Westen nicht, und auch die Ritter machten davon keine Ausnahme. Es könnte
eher vermutet werden, als seien schriftliche Zeugnisse der Prußen bewußt
vernichtet worden 57.
Doch gab es mehrere Versuche, die Sprache der Prußen, das
Altpreußische, zu retten. Es gibt das „Elbinger Vokabular“ aus der Zeit um 1400,
das rund 800 Stammwörter in deutsch-preußisch umfasst. Von dem Dominikanermönch
Simon Grunau gibt es ein „Vokabular“, das in der Zeit 1517-1526 entstand und ein
Vaterunser in prußischer Sprache enthält 58. Schließlich ordnete
Herzog Albrecht die Übersetzung des Katechismus in die prußische Sprache an. Die
erste Ausgabe erschien 1545 in 200 Exemplaren, im selben Jahr erschien die
zweite Übersetzung unter dem Titel „Catechismus in preüßischer sprach
gecorrigieret und dagegen das deüdsche“ 59. Zudem setzte Herzog
Albrecht Tolken ein, die die Sonntagspredigt Satz für Satz übersetzten 60.
Doch die Sprache verlor sich dennoch, bedingt durch die Vermischung der Prußen,
die durchaus nicht ausgerottet wurden, mit den deutschen Siedlern. Im 17.
Jahrhundert fand man auf der Nehrung die letzten Prußisch sprechenden Leute. Die
Übersetzung des Katechismus aber (es gab insgesamt drei, 1561 erschien die
dritte Ausgabe) ist noch heute ein überaus wertvolles Dokument. Herzog Albrechts
Absicht hat sich also erfüllt.
Über zwanzig Jahre nach der Ballade vom Herzog Samo legte
Agnes Miegel einen Band Erzählungen „Geschichten aus Altpreußen“ vor, der 1926
erschien. Und hier führt sie den Leser in die untergegangene Welt der Prußen.
62 Herausragend ist die Erzählung „Die Fahrt der sieben
Ordensbrüder“. Den äußeren Anstoß gab ein Bild, das Agnes Miegel 1923 „wiedersah“
und das ihr 1911 oder 1912 zum ersten Mal begegnet war. Es war das Bild
„Ziehende Schwertritter im Winter“, das heute im Agnes-Miegel-Haus in Bad
Nenndorf in dem unverändert belassenen Wohnzimmer hängt. Agnes Miegel Biographin
Anni Piorrek schreibt dazu: „Im Jahr 1923 fällt Agnes Miegel wieder einmal das
Bild ´Ziehende Schwertritter im Winter´ in die Hände, dieselbe Lithographie des
Rigaer Malers Walter, die ihr 1911 oder 1912 eine so starke visionäre Erregung
gebracht hatte. Nun nimmt das bild wieder Besitz von ihr. Sie geht in die
Klausur, lässt sich zwei Tage von Elise einschließen und verleugnen und schreibt
- - schreibt wie in den Zeiten bester Arbeitskraft, in zwei Tagen diese
großartige Geschichte nieder bis auf den Schluss, der auch hier mehrfach
geändert wird“ 63.
Der Inhalt der Erzählung ist schnell dargelegt; Anni
Piorrek tut es mit dem Hinweis, damit jedoch wenig vom eigentlichen Gehalt der
Dichtung aussagen zu können 64: „Unter der Führung des mit einem
hohen Amt des Ordens betrauten Hauskomturs Friedrich von Wolfenbüttel haben sich
im Winter einige Ordensbrüder mit je einem englischen und burgundischen
Gastherrn des Ordens, dazu ein paar Junker und Knechte, im Samland verirrt. Sie
treffen einen alten Preußen, der sie zum Hof des sterbenden Preußenfürsten Dorgo
führt. Zum dortigen ´Zarm´, dem alten Totenmahl, haben sich viele Prußen
eingefunden. Tief erregt durch den bevorstehenden Tod ihres Fürsten fordern die
dort Versammelten nach altem sakralen Ritus drohend den Tod der deutschen Herren
als Totenopfer. Dies wird verhindert durch das Erscheinen des Prußenführers
Skurdas, des letzten, der vor vielen Jahren seinen Stamm zum aufstand führte und
der zugleich die heimliche Hoffnung aller Prußen war. Er zeigt ihnen eine
riesige eiternde Wunde in der Brust und bringt damit zum Ausdruck, dass nicht
mehr mit ihm zu rechnen sei. Er verweist auf das alte heilige Recht der
Gastfreundschaft und verspricht der wartenden Menge, dass der sterbende Fürst
ein reiches Totenopfer haben solle. Dieses Opfer erleben die Ordensritter, die
auch den totkranken Fürsten sehen dürfen, erst am anderen Morgen, als es
geschehen ist, nachdem Tiere, Knechte und die beiden kindlichen Enkel des
Fürsten durch den alten Priester der Prußen getötet worden sind. Kurz bevor der
große Prußenhof in flammen aufgeht, reiten die Ritter starr vor Grauen und
Entsetzen wieder zurück“ 65.
Doch hier gibt es eine Schilderung prußischen Lebens, deren
Genauigkeit Agnes Miegels Zeitgenossen in Erstaunen setzte. Von dem alten Prußen
geführt, der ihnen mit seinem kleinen Pferdeschlitten voranfährt, kommen die
Ritter in der Prußenburg an. Die Anlage ist von einem Holzzaun umgeben, von
Hunden bewacht, und durch ein großes, schweres Holztor fährt man „durch den Hof
an den Ställen und Scheunen vorbei vor das große niedrige Holzhaus. Aus den
kleinen Fenstern mit den grobgeschnitzten Holzsäulen kam Licht. Rotgelb
schimmerte es durch das feingegerbte Leder, das vor die Öffnungen genagelt war“
66.
Die schwere Eingangstür besteht aus einer oberen und aus
einer unteren Hälfte. Innen gibt es Deckenbeleuchtung, einen „breiten
lichterbesteckten Eisenreifen, der drin von der Balkendecke“ hängt 67.
Der Burgsaal, den die Ritter nach einer weile betreten dürfen, überrascht die
Gäste mit seiner Geräumigkeit und Ausstattung. „Es war eine lange altersdunkle
Halle, viel größer als der Bau unter dem tiefen Rohrdach es erwarten ließ, und
so wohnlich eingerichtet, dass die Köpfe des Obernitz und des Stetten sich wie
die neugieriger Jungen nach allen Seiten drehten. Sie hatten eine rauchqualmende
Höhle erwartet, nach den paar Hütten der Unfreien am Dwangste, die sie kannten.
goldbraun, wie eine uralte Bienenwabe, sah dies einem Burgsaal nicht unähnlich.
Geflochtne Binsenteppiche bedeckten den Estrich, bunte Teppiche in seltsamen
Mustern, die blaue Männer, geschnäbelte rote Schiffe, grüne und lila Kreuze und
Vögel auf hellrotem und weißem Grund zeigten, hingen von den Wänden über den
Holzsitzen. an der Ostwand war ein neuer deutscher Kamin eingebaut. aus großen
Kloben schlug das Feuer in den mächtigen Herdmantel. Ein feiner blauer Qualm kam
von dort. Zwei Mägde mit weißen Tüchern um den kopf knieten vor dem Feuer,
schwenkten glimmende Wacholderzweige und warfen Wacholderbeeren und
Bernsteingrus aus einer kleinen tonschale auf die Glut. Große Holzstühle, mit
Fellen bedeckt, standen davor“ 68.
Die Teppiche mit den „seltsamen Mustern“ haben sich bis
heute erhalten. Die Webkunst wurde in Ostpreußen gepflegt bis zur Vertreibung.
Bedeutende Webstuben gab es im Samland auf den Gütern Karmitten und Kapkeim, die
Webschule in Lyck hatte besondere Bedeutung. Nach der Vertreibung wurde die
Webkunst von der Landsmannschaft weitergegeben, und auf den gewebten oder auch
geknüpften Teppichen sind Vögel und Kreuze, Schiffe und Elche zu sehen.
Der Leser bekommt einen unmittelbaren Einblick in einen
ländlichen prußischen Großbetrieb. „In dem langen Zimmer, das fast das ganze
Seitengebäude einnahm, war für die Herren gedeckt. Nebenan war die Küche.
Feuerschein und Rauch zogen über den Schnee, Kettenrasseln, Töpfeklappern, ein
nie aussetzendes Weibergeschnatter und Gezeter klang aus der halboffenen Tür,
drang durch die Lehmwände mit Bratendunst und Suppengeruch. Vom Backofen im Hof
kam der süße Duft von frischem Brot, von Kuchen, von heißem Honig“ 69.
Die Kunst des Bratens, sowohl von „zahmen Tieren“ wie vom Wild, wird den Prußen
von allen Chronisten zugesprochen; nun stellt sich heraus, dass der berühmte
ostpreußische „Bärenfang“, das hochprozentige Getränk aus Honig und Alkohol,
auch ein prußisches Erbe sein muss. Die Honigherstellung fand der Orden vor und
nutzte sie. Heinz Georg Podehl erzählt ein „Märchen vom Beutner“, der seine
Kunst besonders gut verstand. „Überall im Walde hatte er alte Bäume ausfindig
gemacht, deren Aushöhlungen er weiter ausbaute, um in ihnen seine Bienenvölker
einzusetzen. Sobald er wieder einen hohlen Stamm gefunden und weiter vorbereitet
hatte, teilte er ein zu groß gewordenes Bienenvolk und brachte die eine Hälfte
zu diesem Baum. Er achtete darauf, dass die Ausbuchtungen ziemlich hoch in den
Baumstämmen waren, damit der caltestisklokis, der Bienenbär, nicht an den Honig
herankonnte“ 70. Nun schildert Agnes Miegel das Rezept des besonderen
Getränkes: „Die Küchentüre stand weit auf, es roch betäubend süß nach heißem
Lindenhonig und beizend nach Schnaps. Die Weiber rannten hin und her und
mischten beides in großen Holzeimern“ 71.
Den deutschen Herren wird gut aufgetischt; sie sind Gäste,
und obwohl Gegner und Sieger aufeinander treffen, wird die Gastfreundschaft
gewahrt. „Er (der Ritter Stetten) sah mit Interesse zu, wie ein paar Mägde den
Holztisch mit buntdurchwirkten Tüchern deckten, Löffel, Messer und
Lindenholzteller herauftaten. eine alte Magd, mit krausem Scheitel unterm
Kopftuch, schnitt große Scheiben von einem dunkelgrauen Brotlaib“ 72.
Schüsseln mit Rinderbraten und Geflügel werden serviert, und der englische
Ritter langt bei dem Braten kräftig zu. „Der Braten aber fand seinen Beifall,
noch mehr die mit Wacholderbeeren und Thymian gewürzte saure Brühe dazu... Der
Sieur de Beauffremont stocherte im Fleisch und hielt sich lieber an die in Milch
gekochte, mit gebranntem Honig übergossene Schwadengrütze, die eine junge Magd
auftrug“ 73. Zinnkrüge mit Bier und Holzeimerchen mit
frischgemolkener Milch werden bereitgestellt. 74.
Aber die bedienenden Knechte sind Sudauer, die beim Orden
offenbar in Frondienst stehen. „Es waren große stämmige Leute. Ihr Haar, nicht
so fahl wie das der anderen Samländer, war kurz geschoren. Sie trugen lange
graue Warpkittel mit einem eingewebten schwarzen Kreuz auf der linken Schulter.
´Wie heißt du?´ fragte der Wolfenbütteler. Der Knecht stand stramm, die Hände am
Kittel. ´S-krodzka!´ ´Ihr seid doch Sudauer!´´Jawohl.´´Wie kommt ihr her? Ihr
rodet doch am Romove!´ Der junge Knecht sah mit unbewegtem Gesicht den
Hauskomtur an. ´Der Schnee liegt zu hoch, es sind doch bloß noch die Stubben.
Bruder Gebhardt schickte uns her zum Holzen. Wir sind in Kost auf dem Hof´“
75.
Doch die Sudauer, die, wie sich dann herausstellt,
Kriegsgefangene sind, zeigen den Eroberern gegenüber ein erhebliches Maß an
Selbstbewusstsein. Das muss der englische Ritter erfahren, als er „dem einen
Sudauer in die Waden trat und ihm klarmachte, dass er wünschte, seiner
Eisenhosen entledigt zu werden. Er behielt den Mund auf, als der Sudauer ihn von
oben bis unten besah, ihm einen kräftigen Tritt zurückgab und ruhig herausging“
76.
Das anschließende Gespräch legt die aktuelle Situation
zwischen den Prußen und dem deutschen Orden dar. Die Sudauer wurden geschlagen;
nur Skurdas, ihr Anführer entkam mit einem Teil seines Adels. Ob ein weiterer
Prußenaufstand zu befürchten ist, bleibt dahingestellt. Die deutschen Eroberer
können den Prußen ihre Hochachtung nicht versagen. „Der tapfere Skurdas rückte
nicht aus. Er zog sich zurück und verwüstete sein Land. Dabei kam noch ein Teil
seiner letzten Leute um. auch sein Bruder Skomand. Ein ritterlicher Herr, bei
dem ich oft zu Gast war zur Falkenbeize“ 77. So spricht einer der
Ritter, Bruder Friedrich, der sich durchaus seiner Tapferkeit gegen die
aufständischen Prußen rühmen kann. „... als wir in der großen Wildnis am Moor
die Sudauer schlugen. Damals fielen die meisten von ihnen. Nur Skurdas entkam
mit den letzten seines Adels“ 78. Die Feinde zwingen die Sieger
jedoch zur Hochachtung, mit Bewunderung wird von ihrer Tapferkeit gesprochen.
Überhaupt fällt auf, dass sich alle, deutsche Ritter, prußische Aufständische,
Krieger, edle Frauen, die zwischen die Konflikte geraten, kennen und offenbar
achten. Man beginnt, sich mit der Geschichte zu arrangieren. So wird es zu
keinem weiteren Prußenaufstand mehr kommen. Skurdas, der von seinem Volk
verehrte Anführer im Kampf gegen die Unterdrückung, wird keinen neuen Aufstand
mehr durchführen können; der Hoffnungsträger der Prußen ist am Ende, sein
Auftritt ist ebenso beeindruckend wie vernichtend.
Die ritterlichen Gäste wissen nicht um seine Anwesenheit,
als die zusammenströmenden Prußen im Hofe der Burg immer dieselben Rufe
ausstoßen: „Komm, zeige dich! Ach, ach, zeige dich!“ 79. Sie ahnen
nicht, wer gemeint ist, bis er erscheint. Er kommt aus dem Badehaus, das
ebenfalls präzise beschrieben worden ist: „Die Badestube im Zwischenbau, aus
deren Fugen der weiße Qualm drang, Wasserplätschern und Rutenschlagen“ 80.
Nun erscheint Skurdas, eine Lichtgestalt, von den Prußen wie ein Messias
begrüßt, von den deutschen Herren sofort erkannt. „Die Menschen im Hof schrien
laut auf, es war ein einziger Schrei, und sie drängten vorwärts, um gleich
darauf sich platt auf den Schnee zu werfen. Eine blendende Helligkeit flutete
aus der schmalen Türe des Badehauses, ein paar Knechte mit Fackeln traten
heraus, schwenkten sie hin und her, dass ein Sprühregen von funken über Walm und
überdachtes Treppchen in den Schnee stob, wichen zur Seite und hielten die
Fackeln hoch. Unten aus dem Heizraum rannten ein paar Weiber heraus mit großen
Laken und Decken; die kraushaarige alte Magd lief über den Schnee, sprang behend
wie eine Junge über die Leiber der Liegenden, entriss einer Frau das Badetuch
und stürzte dem riesengroßen nackten Mann entgegen, der jetzt oben aus dem
Badehause trat, den vom Bad glühenden mächtigen blonden Körper, den langen Bart
ziegelrot leuchtend in der Fackelglut“ 81.
Der erste Eindruck rückt ihn in die Nähe des Gottes
Perkunos; der rote Bart ist beiden gemeinsam. Doch dann enthüllt gerade dieser
Bart das Zeichen des Endes. „Skurdas trat vor. Seine helle Hand hob den
glänzenden langen seidenen Bart, warf ihn seitwärts wie ein goldenes Tuch. Ein
weißer Lappen lag darunter, blank von Wachs. Er hob ihn auf. Eine lange Wunde,
dunkel und eitrig, kroch wie ein ekles Tier auf der hellen Haut. Nun der Verband
fortgenommen war, hörte man das rasselnde Atmen der breiten Brust“ 82.
Das Volke der Prußen bricht in Weinen und Klagen aus, als
es erkennen muss, dass der Befreier, der Messias, nicht mehr zum Kampfe fähig
ist. Die Männer halten an ihrem Ideal fest. „Wir sahen ihn noch einmal!“ rufen
sie schluchzend und weinend, während die Frauen die menschliche Seite
ansprechen. „So krank!“ ruft eine Frau voller Mitleid, und die alte Amme, eine
Mutterfigur, steht dem todgeweihten Helden bei. „Nur die Amme folgte ihm ganz
dicht. Sie küsste unablässig seine Schulter und weinte laut vor sich hin“
83.
Das Christentum ist da, aber bevor die heidnische Welt
untergeht –der brennende Prußenhof symbolisiert den Untergang, während das Ende
der Novelle den Fortbestand des prußischen Volkes deutlich macht-, zeigt sie
noch einmal ihre ganze Macht. Der Prußenfürst Dorgo liegt im Sterben, sein Volk
versammelt sich zum Zarm. Die verirrten Ritter führt ein alter Preuße, der sich
nur auf Nachfrage mit dem Namen „Supplitt“ vorstellt, zum fürstlichen Hofe, und
am Sterbebett offenbart er sich als Priester. „Neben ihr stand jetzt der Alte
aus dem Schlitten. Sein großer grauer Schafspelz stand offen. Er trug darunter
einen langen weißleinernen gegürteten Kittel... Er warf den Pelz ab, wickelte
mit größter Eile ein schmales Leinentuch, das ihm am Gürtel hing, um die
Stirne...“84. Seine Verschlossenheit und seine ausweichenden
Antworten unterwegs finden nun eine Erklärung. „Warum bist du jetzt unterwegs?´
fragte Bruder Zabel... Er sprach preußisch. ´Zu einem Kranken!´ ´Besprichst du?´
´Ich bespreche nicht. Die deutschen Herren haben´s verboten.“ 85.
Jetzt vor dem sterbenden Fürsten zeigt er seine Feindseligkeit. „Seine kleinen
hellen Augen unter den buschigen Brauen sahen die deutschen Herren an wie die
eines bösen Hundes“ 86.
Der Hauskomtur kennt den Fürsten und will ihn noch einmal
sehen. Er bittet die Tochter des Fürsten, den „edlen Dorgo“ noch einmal sehen zu
dürfen. „An der Westseite der Halle führten zwei fellbedeckte Stufen zu einer
Bettstatt. Sie war unförmlich, riesenhaft mit altersscharzen Säulen...“ Das
breite Bett war mit schneeweißen glänzenden Leinentüchern bedeckt, die bis auf
die Stufen hingen und auch über die Wolldecke und Pelze gebreitet waren. Nur
eine Decke aus Eisvogelbälge lag zu fußende drüber, und die breiten bunten
Bortenbänder, an denen der Kranke sich sonst aufgerichtet und an denen seine
Hände zupften, gelblich wie feines Wachs, zart und schmal wie Frauenhände
87.
Nach prußischer Sitte trägt der Fürst langes Haar und Bart.
„Der Bart des Mannes blieb ungeschoren, er galt als seine Zierde“, berichtet
Baumann 88. „Sehr alt musste er sein, wenn auch das lange Haar, der
wirre Bart um das riesige Haupt nun vom Todesschweiß dunkelgrau gefärbt war.
Tief eingesunken lagen die Augen unter der breiten Stirn über dem starken Sattel
der edlen Nase. Die Augen sahen blicklos in den Betthimmel.“ 89 Die
Prußen erweisen ihrem Herrn die ehre nach ihrer Sitte. „Aus dem Vorbau, aus dem
Hof drängten die Leute herein, die dort standen. Männer, Frauen, ein paar
Kinder, viele alte. In dem Augenblick, als die roten Vorhänge das Bett und den
Sterbenden drin freigaben, stießen sie die deutschen Herren ohne alle Scheu
zurück und warfen sich sämtlich platt zu Boden“ 90.
„Gott und die heilige Jungfrau mögen dem Fürsten ein
sanftes ende bescheren“ 91, sagt der Hauskomtur, aber der heidnische
Priester bleibt bei dem Sterbenden. Er führt die Totenriten aus, ganz nach der
Art der Väter. Der Tod des Fürsten vollzieht sich, wenn auch abgeschirmt in der
Burghalle, so doch in aller Öffentlichkeit. „Ein gellender, langgezogener
Schrei zerriss die Nacht, fegte über den Hof wie ein Peitschenknall. Die
Hallentür drüben wurde aufgestoßen, die Leder vom Fenster gerissen, hoch,
schrill, schneidend kam der Schrei von innen, ein langgezogenes Heulen von
wimmernden Frauenstimmen folgte, ein plötzlich ebenso langgezogenes, ebenso in
Wimmern ersterbendes Heulen der Hunde“ 92.
Die Ritter nehmen die Helme ab. „Sie neigten die Köpfe im
Gebet. ´Gott und die heilige Jungfrau seien ihm gnädig!´ sagte der Komtur“
93. Die Preußen aber geben sich einer ungebändigten, urtümlichen Trauer
hin. Das Geschrei drinnen und draußen wird immer lauter. „Tot, tot!´ schrien die
Weiber. „Tot, tot!´ schrien die Männer. ´Ach, tot, ach tot!´ schrie der alte
Torwächter, warf die Pelzhaube in den Schnee und raufte sein dünnes graues Haar”
94.
Es ist jedoch keine asketische, nach innen gekehrte Trauer,
die hier ausbricht; sie geht einher mit einer urwüchsigen Sinnlichkeit. „Der
ganze Hof war jetzt schwarz von Menschen, die sich Essen und Trinke zureichten,
schmatzten, schlürften, es stöhnte und rülpste vor Behagen, das heiße
Wildfleisch qualmte, der Geruch von Speck und saurem Schmand mischte sich mit
dem der Wacholderbeeren. Die Kinder, die überall herumliefe wie kleine wandernde
Bündel von Tüchern und Pelzwerk, leckten die Holzbecher aus, schleckten die
Ränder ab, sangen und kreischten. Gleichförmig hallte über all dem das
Klagegeschrei aus der Halle“ 95.
zur gleichen Zeit erliegt einer der Ritter den Reizen einer
Frau, und ein zweiter Ritter, der Zeuge dieses Vorgangs wird, will beten und
kann es nicht. „Eine Kirche!´ dachte er. `Eine Kapelle!´ Aber es war nichts mit
dem Beten. Die Gedanken liefen ihm davon wie die Hunde“ 96. In dieser
Nacht und an diesem Ort verliert der christliche Geist an Macht. „Es erhebt sich
die urtümliche Welt des heidnischen Preußentums mit so unerbittlicher Gewalt,
dass die christlichen Ordensregeln nur mit Mühe standhalten können. Wenn auch
die Ehrfurcht gebietende Gestalt des Hauskomturs unerschütterlich bleibt, so
erstehen bei den meisten anderen Ritter aus dem Erlebnis der Todesnähe und dem
Aufflackern des alten heidnischen Glaubens die durch den Orden bisher
gebändigten Wünsche, die zu den Frauen gehen... Zwei Ritter fallen vom Orden
ab...“ 97.
Die Ausstattung der Frau, die den Ritter Zabel aus dem
Orden holt, hat Ähnlichkeit mit dem Schmuck des aufgebahrten toten Fürsten, und
von dem Totenbett gehen ähnlich intensive Düfte aus wie von der lebensvollen
Frau. „Ein großes goldfunkelndes Diadem stand wie ein Heiligenschein um ihr
schönes rosiges ruhiges Gesicht. Bunte Perlenketten fielen mit ihren braunen
Zöpfen auf den leuchtend grünen ärmellosen Mantel. Bernstein und Korallenketten
hingen von ihrem vollen Nacken über das schwarzgestickte weiße Hemd bis auf das
golddurchwirkte rotgestreifte Tuch, das sie als Rock umgewickelt hatte und aus
dem langsam ihr rundes Knie sich ihm entgegenschob..“ 98 Ein „Duft
von Bernstein, Rosen und Sandel, der durch die Fensterritzen in die Winterkälte
drang“, 99 geht von ihr aus.
Reich ist der Schmuck des aufgebahrten Fürsten. „In den
frauenhaft zierlichen Händen, deren zarte Finger der Tod krümmte, hielt er ein
ungefüges riesiges Schwert. Griff und Gehenk waren von kunstvoller Arbeit von
altersschwachem Silber mit großen Amethysten in den glänzenden
Schneckenspiralen. Eine uralte Kette aus unregelmäßigen Amethysten, aus
altersrotem Bernstein, gläsernen und silbernen Kugeln hing um seinen Hals und
lag wie ein Kranz um den gelb und roten Apfel auf seiner Brust und die kreuzweis
gebundenen, an den Spitzen umgeknickten Rautenzweige. Den weißen Ärmel am linken
Arm schnürten drei Armringe, die aus Silber gedreht mit vergoldeten
Silberschnüren umwunden, wie kleine Schlangen um die Leinwand lagen. Unter den
wirren Locken blitzten die großen durchbrochenen Ohrgehänge, die von dem
bronzenen Stirnreif niederhingen und tiefe Schatten auf die eingesunkenen Augen
warfen“ 100.
Der Saal, in dem der Tote aufgebahrt liegt, ist von Kälte
beherrscht, aber „ein Sommerduft von Kräutern stieg mit dem Harzgeruch von dem
breiten Lager“ 101, unter dem auch Heu sein muss und das auf
mächtigen Kiefern- und Tannenästen ruht 102. Ansonsten aber sieht es
aus, als ob der Winter hier eingezogen wäre. „Die Halle sah anders aus als am
Abend. Stühle, Felle, Decken, die bunten Bettvorhänge –alles war schon
fortgeschafft, das Feuer im Kamin gelöscht und sorgfältig ausgekratzt... Es war
eisigkalt, wenn auch die Fenster nun wieder verhängt waren. Über sie und die
Wände, über Bettstatt und Kamin waren große, weiße, vor alter gelbliche Decken
aus kostbarem schneeweißen Tuch gebreitet“ 103.
Der verstorbene Fürst besaß den Rang eines Priesters. „Er
trug den schneeweißen Leinenrock der Waidelotten“ 104. Die Riten
leitet der alte Priester Supplitt. Junge Helfer und Klageweiber sind hinzu
gekommen. „Licht geisterte hin und her über das Totengesicht. Es kam von dem
Feuer, das in einer grünen flachen Schale zu Kopfende des Toten brannte. Sie
stand sehr hoch auf dem Flachabgesägten Stubben einer riesigen Eiche. An ihm
lehnte der alte Supplitt in seinem weißen Kittel mit der weißen Stirnbinde,
selbst wie ein toter. Zwei weißgekleidete junge Männer knieten vor ihm mit
verbundenem Mund und reichten ihm aus ihren Kitteln Kienäpfel, zerkleinertes
Harz und kleine Zweige zu. Jedesmal, wenn er mit einem flachen Silberlöffel neue
Nahrung auf die aufprasselnde und qualmende Glut in der Schale warf, neigte sich
der Alte über den toten und fragte ihn: ´Hast du nicht schöne Söhne gehabt,
tapfere?´ ´Hast du nicht schöne Töchter gehabt?´ ´Hast du nicht edle Pferde
gehabt?´ ´Bist du nicht der letzte unsrer Fürsten gewesen?´ Und schien auf
Antwort zu warten. Die kam von den in weiße Laken gehüllten Weibern, die, je
sechs und sechs, rechts und links von dem Totenlager auf dem mit Tannenspitzen
und weißem Sand bestreuten Estrich lagen, sich hin- und herwiegten und in
schrillsten Tönen kreischten: ´Und dennoch bist du gestorben! Aua, Aua! Und
dennoch bist du gestorben!“ 105.
Die Glücksgüter, die ein edler Pruße zu Lebzeiten besaß,
sollten ihm auch im Leben nach dem Tode zuteil werden, da an ein Weiterleben im
Jenseits geglaubt wurde. Man stellte sich vor, dass der Tote sein Leben in
gleicher Weise fortsetzen würde 106. Baumann spricht ausschließlich
von der Feuerbestattung bei den Prußen, die es sicherlich gegeben hat, denn sie
wurde ja vom Orden ausdrücklich verboten. doch zeugen Grabfunde auch von anderen
Bestattungsformen. In jedem Falle aber waren die Grabbeigaben reichlich; Schmuck
und Gerätschaften sollten den Toten auch in dem anderen Leben erfreuen.
Doch der heidnische Brauch verlangte auch, dass Lebendiges
den toten begleiten sollte, und dieses Gesetz entfaltet bei dem letzten
Prußenfürsten Dorgo noch einmal seine ganze Gewalt. Die Pferde und die Jagdmeute
des Fürsten werden vorgeführt. Die Prußen wissen, was nun geschieht, die Ritter
ahnen es, und auch die Tiere fühlen ihr Schicksal. Die edlen prußischen Pferde
begeistern den Engländer so, dass er „in einem Rausch“ gerät. „Von den
sudauischen Knechte geführt, kamen die Pferde des Fürsten. Voran der Beschäler,
ein glänzender Goldfuchs. Das rote Licht glitt wie Blut über seine Flanken,
seine lange bänderdurchflochtene lichte Mähne der lange falbe Schweif wehten im
Sturm... Noch sechs Pferde, Braune, Rappen, ein Scheck, aber kein Schimmel
folgten“ 107. Die deutschen Herren haben auch bereits von der
prußischen Pferdezucht profitiert; die Prußen und ihre Eroberer nutzten
gemeinsam das prußische Kulturgut. Das kann der Ritter Peterke sagen, als eine
alte Stute, „die Heldenmutter“, herausgeführt wird. „Ihr braunes Fell schimmerte
silbrig, sie war blind auf einem Auge, langsam und steif umkreiste sie den Hof,
immer noch stark, immer noch edel“ 108. ´Ja, das ist sie!´ sagte er
(der Peterke). ´Die ritt er immer damals... Dem Herrn Komtur sein Brauner, der
ist von ihrem Sohn, dem Samo. Dem Skurdas sein Gaul, der ihn damals rettete, der
Weißsock, sagten wir, der war auch von ihr“ 109.
Die kraftvolle Meute können die beiden stämmigen
samländischen Jägerjungen kaum halten 110, ein alter Sudauer trägt
die Jagdfalken. Die alten Tiere wissen offenbar genau, was ihnen bevorsteht,
nämlich das ´Opfer´, wie der Ritter Hasenkop sagt. Der alte Jagdhund „kniete
sich schwerfällig hin, bog den Hals zurück und heulte langgezogen auf. Die Stute
senkte den kopf. Sie zitterte, große Schweißflocken standen schaumig auf ihren
tiefatmenden Flanken“ 111.
Die Szene wird immer gespenstischer. Jetzt zeigt sich das
Heidentum blutrünstig und dämonisch. Der tote Fürst liegt nun für alle sichtbar
aufgebahrt, denn der Eingang ist weggebrochen worden. „Das Jammern der
Klagefrauen war verstummt. Wie Schneehaufen hockten sie neben dem Lager, still
und tödlich erschöpft. Der eine der verhüllten Jünglinge versorgte das Feuer.
Der andere stand neben dem alten Supplitt in der Vorlaube. Der Alte hatte seinen
weißen Priesterrock geschürzt, die Binde fest um den kahlen Schädel gewickelt,
die Ärmel weit zurückgekrempelt. Er sang murmelnd vor sich hin... Dabei schliff
er an einem schwarzen Stein ein langes blankes Messer“ 112.
Die Opferung selbst bleibt dem Leser erspart; er hört nur,
ebenso wie die Ritter, langgezogene Schreie. Doch ein noch grauenvolleres
Geschehen bahnt sich an. Die beiden Enkelsöhne des Fürsten, Söhne seiner Tochter
Sirguna und seines gefallenen Schwiegersohnes Herkus Monte, erschienen gleich zu
Anfang als besonders liebenswerte Kinder. Besonders der Jüngere mit dem Namen
Gaudins wird beschrieben „mit blitzenden Augen, halboffnem erdbeerrotem Mund,...
flachshellen Locken, die weit über die gestickte litauische Bluse hingen“
113. Die beiden Knaben kennen die Ritter, wissen sie zumindest einzuordnen
und gehen vertrauensvoll auf sie zu. Auch hier erstaunt das vertraute Verhältnis
zwischen den Kriegsgegnern.
Nun erscheinen diese schönen und liebreizenden Kinder in
weißen Leinengewändern und tragen einen grünen Rautenkranz auf dem Kopf. Der
kleine Gaudins erzählt den Rittern von seinen Zukunftsplänen. Er will zum Kaiser
reiten und sich dort zum Ritter schlagen lassen. Getauft ist er auch, wie sein
Bruder Herkus, und er verkündet stolz, dass er ´fein richtiger Christ´ sei, was
er mit einem goldenen Kreuz um den Hals beweist. Er ahnt nichts von seinem
Schicksal, während sein Bruder darum weiß, „Aber sein engelhaft schönes Gesicht
war so weiß wie der Leinenkittel. Schwarz brannten die großen blauen
tiefumschatteten Augen“. 114 Ernst ermahnt er den jüngeren Bruder
mitzukommen. Unbewusst sucht der Kleine Schutz bei den Rittern. „... ich will
nicht zu dem toten Großvater, ich will bei euch bleiben...“ 115 und
die Ritter möchten den Knaben bewahren. Der Friedrich von Wolfenbüttel umarmt
sie. „Sein Mantel, weich und weiß, fiel über die Knaben“ 116. Auch
die Gebete des Komturs, dessen Rosenkranz aus Bernstein und Korallen (er
erinnert an die Ketten um den Hals der Frau des Zabel und an die Kette des
aufgebahrten Prußenfürsten!) klirrt und blitzt, helfen nicht. Es ist die Stunde
der alten Götter, die noch einmal ihr Opfer verlangen, bevor die neue Zeit
endgültig heranbricht.
Das Opfer erschüttert die Ritter, als sie sich zur
Weiterreise aufmachen. „Über dem purpurnen Leinensack, der jetzt über das Haupt
des Fürsten gebreitet war, lagen die toten Söhne des Herkus Monte; der älteste
lag zur Rechten des Ahns lang ausgestreckt, die zarten Arme über der Brust
verschränkt, den kopf ein wenig zur Seite geneigt. So schnell, so sicher war der
Todesstoß geführt, dass nur ein schmaler Blutstreif auf dem weißen Leinenkittel
über dem Herzen stand, dass noch ein wenig Farbe über dem schönen Antlitz lag...
Der kleine Gaudins lag mit weitausgebreiteten Armen wie ein erfrorener weißer
Schmetterling bäuchlings auf der purpurnen Leinwand“ 117.
Opfer des Umbruches und des Widerstreites der beiden
Kulturen ist auch die Mutter der beiden Kinder. Als Tochter eines prußischen
Fürsten wurde sie im Katharinenkloster in Danzig erzogen. Sie tritt den Rittern
bei ihrer Ankunft entgegen „wie eine deutsche Edelfrau gekleidet mit Stirnreif
und weißem Schleier und weitem blauen Wollmantel mit silberner Schulterspange“
118. Darunter trägt sie ein graues Witwenkleid. „Die Frau sprach das
reine dialektfreie Oberdeutsch der Klosterschulen. Nur der bei aller Frauenhelle
weiche singende Klang der Stimme, der runde r-Laut verriet die Preußin“ 119.
Nun, vor ihren toten Kindern, erklärt sie dem Komtur, dass
sie vom Christentum abgefallen sei und nicht mehr in das Kloster zurückkehren
könne. Sie muss eine nach christlichen Maßstäben schwere Schuld auf sich geladen
haben, weil sie auf die Worte des Komturs: „Das Erbarmen Unsrer Lieben Frau
findet die Seelen“, zur Antwort gibt; „Meine nicht mehr“ 120 .
Der Leser hat die Familienverhältnisse durchschauen könne,
obwohl sie nur zweimal angedeutet werden: der Fürst Dorgo hat, nach der
Tradition der vornehmen Prußen, seinem Schwiegersohn zwei seiner Töchter zur
Frau gegeben. Die Ritter bemerken bei ihrer Ankunft „eine Frau, ein wenig
kleiner als die Frau an der Tür, zarter und schmaler, aber ihr fast gleich an
Aussehn und Kleidung“ 121.
Später, kurz vor dem Tode der Kinder, wird sie vorgestellt
als „die junge Schwester der Sirguna, die zweite Witwe des Preußenherzogs“
122. Die getaufte Christin ist also zu den Sitten ihres Stammes
zurückgekehrt. Das Recht der vornehmen, bis zu drei Frauen zu heiraten, ließ
sich vom Orden nicht unterbinden. Sirguna findet sich nun in beiden Welten
entwurzelt. Die Götter ihres Volkes und auch ihre Verwandten haben ihr ihre
Kinder genommen –ihr Vetter Skurdas verhindert die Opferung der geistlichen
Gäste und versprach dem prußischen Volk eine anderes, großes Opfer-, in den
Schoß der Kirche (und damit zu den deutschen Herren) kann sie als abgefallene
Sünderin nicht zurück. „Ich bin tot!“, sagt sie 123.
Woher hatte Agnes Miegel diese präzisen Kenntnisse der
Prußenkultur? Diese Frage beschäftigt die Forscher seit Erscheinen der
„Erzählungen aus Altpreußen“. Die detaillierten Beschreibungen und die teilweise
unbekannten historischen Bezüge sind nachgeprüft und als richtig erkannt worden.
Anni Piorrek verweist auf die Historikerin Inge Meidinger Geise und ihr Werk.
„Agnes Miegel und Ostpreußen“, Würzburg 1955. sicherlich hat Agnes Miegel
sorgfältig recherchiert, die Werke von Heinrich von Treitschke und Christoph
Hartknoch lagen ihr vor, und in Königsberg gab es das Prussia-Museum. Aber diese
Vielfalt, wie sie in Agnes Miegels Erzählung anzutreffen ist, war nachweislich
zur Zeit der Entstehung noch in keiner Quelle zu finden, so Anni Piorrek. „Prof.
Ziesemer, der Ordinarius für ostdeutsche Volkskunde an der Königsberger
Universität, einer der besten Kenner des deutschen Ordens, hat im Jahre 1943
mündlich zu berichten gewusst, dass erst vor wenigen Jahren einige Einzelheiten
des prussischen Hofes, die Agnes Miegel erstmalig schildert, nachträglich durch
wissenschaftliche Forschung bestätigt worden seien“ 124. Anni Piorrek
spricht von „dichterischem Ingenium“, das „verschlüsselte Zeichen einer
versunkenen Welt aus alten Waffen, Gerätschaften oder Schmuckstücken“ zu lesen
versteht, „die andern nicht mehr lesbar sind“ 125. Agnes Miegel
selbst antwortete auf Fragen, woher sie manche Einzelheiten habe, mit dem
Hinweis auf Traum und Intuition 126.
Am Ende der Erzählung „Die Fahrt der sieben Ordensbrüder“
geht die Prußenburg in Flammen auf, den Rittern begegnen deutsche Kinder, die
mit dem Brummtopf auf Heischegang sind; es ist Fastnacht, ein Tag vor
Aschermittwoch. Die Nacht haben sie bei „Samels Großmutter verbracht und sie
kommen aus einem Dorf, über dessen Dächern rot und wuchtig der schwere
viereckige Kirchturm“ steht 127. Das prußische Volk ist offenbar
dabei, mit den deutschen Siedlern zu verschmelzen.
Und doch: die alten Naturgottheiten blieben im Geheimen
gegenwärtig. Mehrfach schildert Agnes Miegel, wie in späteren Jahrhunderten das
Heidentum erwacht und das Volk, enttäuscht vom Gott der Christen, die Götter
seiner ahnen zu Hilfe ruft. So geschieht es in der Ballade „Das Opfer“,
geschrieben im Jahr 1920. Es ist vor der Reformation, das Samland ist
katholisch. Die Schweden belagern die Samlandküste. Sie liegen auf dem
Wachbudenberg vor Dirschkeim und fangen den Samländern die Fische fort. Eines
Tages jedoch ziehen sie ab, nachdem sie sieben Tage keinen Fisch mehr gefangen
haben; die Fischschwärme sind auf unerklärliche Weise fortgezogen. Der Amtmann
bestellt die Fischer zu sich und fragt als ersten Willem Pönopp, was vor sich
gehe:
„Es geht durchs ganze Samland über dich ein groß Geschrei:
Der Willem verlockt die Fischer zu heidnischer Zauberei.“
128
Obwohl ihm der Feuertod droht, gibt Willem, „Vierschrötig,
kurzbeinig und sonnverbrannt“ wie die andern ohne Umschweife zu, was er seinen
Kameraden in dieser Notlage angeboten hat, um den Belagerern die Nahrungsquelle
zu nehmen und sie dadurch zum Rückzug zu zwingen. „Ich weiß einen, der kann die
Fische vertreiben“ 129. Aber er verteidigt sich auch. Als Getaufte
haben sie zunächst Zuflucht zur Kirche und zum christlichen Gott genommen, doch
von da kam keine Hilfe.
„Wir rannten in die Kirche und sangen vor Angst verstört.
Aber Gott und sein Sohn Jesus haben uns nicht gehört.“
130
Nun besinnen sie sich in stummer Einmütigkeit auf die alten
Gottheiten. Hier ist es Samel Suppli, der seine Landsleute zu mitternächtlicher
Stunde zum Opferstein im Walde geführt hat und nun, von Willem Pönopp
aufgefordert, ebenso freimütig berichtet. Er ist ein Namensbruder des
Preußenpriester in der „Fahrt der sieben Ordensbrüder“ und wie dieser ein Greis.
„Er war neunzig Jahr, wolfshager mit wirrem Haar“ 131. Es scheint
eine Reinkarnation vorzuliegen, denn nach seinem eigenen Zeugnis handelten und
sprachen seine Vorväter aus ihm, als er das heidnische Widderopfer vornahm.“ Ich
kannte die Grube im Heidekraut wie dunkel es war. Meine Väter erwachten in
meinem Blut, ein fuß stand im Grund. Und sie stammelten ferne Worte durch meinen
Mund.“ 132
Sein Gebet, im weißen Gewand des heidnischen Priesters, ist
von urtümlicher Inbrunst. Es richtet sich an einen Gott des Meeres, der über
alle Fische herrscht und aus „dessen Samen dies Land und wir alle gekommen“. Der
griechische Poseidon (der römische Neptun) ist ebenfalls Herrscher des Meeres.
Diese Gottheit aber ist der Urquell allen Lebens, der männliche Samen, aus dem
Leben kommt, wie die Erde (die Düne) den Mutterschoß darstellt.
„Du Gott unsrer Väter, dem dieses Feuer brennt,
Du Herr des salzigen Wassers, den keine Name nennt
Du, dem alles gehört, was glitzernd die Flossen regt,
Du, der auf dem Haupt den erstarrten Honig des Meeres
trägt,
Du, aus dessen Samen dies Land und wir alle kommen, -
Sieh, der Schwede kam, der Feind, über deine Fluten
geschwommen.
Er sättigt sich räuberisch an unserem Fang.
Er folgte dem mächtigen Lachs im Frühling die Küste
entlang.
Die weiße Flunder, den fetten Dorsch gab ihm deine Gunst,
Für ihn kochten milchig die Wellen von des silbernen
Herings Brunst.
Sieh, du hast lange gedürstet. In deinen Stein
Rinnt wieder des jungen Widders dampfendes Blut hinein.
Wir gießen wieder darüber das Bier und den Met,
Hilf deinem bedrängten Volke, das zu dir fleht,
Von dem habgierigen Räuber nimm sein letztes glück, -
Vater, von unserem Strande zieh die Fische zurück!“
133
Der untersuchende Amtmann ist ein Christ wie alle anderen
und spricht vom morgigen Palmsonntag, vom Karfreitag und vom nahen Osterfest.
Doch den alten Heidenglauben nimmt er ernst, zumal das Opfer ja gewirkt hat: Die
Fische sind abgezogen und seit Wochen nicht zurückgekehrt, so dass der Region,
die vom Fischfang lebt, große Not droht. Er macht den Fischern die Auflage, die
Fische wieder „herbeizuzaubern“, verbietet ihnen aber zugleich das Betreten der
christlichen Kirche. Das heidnische Opfer gilt als Todsünde, aber es findet
statt; die Götter der Ureinwohner sind gegenwärtig in der mächtigen Natur und
treten von Zeit zu Zeit hervor. Hier kehren die Fische, mit Ausnahme des
Herings, am Ostersonntag zurück, und der Fang ist so reich, dass die Netze
reißen. Die Bewohner des Samlandes aber solidarisieren sich mit den Gebannten
und betreten die Kirche am Ostertag alle nicht.
„Zu Sankt Lorenz in der Kirche am Ostersonntag danach
Vor zwanzig alten Weibern der Herr Pfarrer sprach.
Die räudigen Schafe fehlten, doch die gerechten dazu,
Selbst die Orgel droben hielt heute Ruh.“ 134
Welchem Gott hier genau geopfert wird, lässt sich nur
schwer ausmachen. Perdoitos war für den Fischfang und den Handel zuständig
135, doch träfe auf ihn als rangniederes göttliches Wesen kaum die
Bedeutung allen Lebens zu.
Deutliche Konturen aber nimmt der Gott Perkunos in der
Erzählung „Die schöne Malone“ an, die 1920 in der „Ostpreußischen Zeitung“
erstmals abgedruckt wurde und ein Verweben von Sage und Wirklichkeit enthält.
„... alter heidnischer Glaube ist hier unmerklich über die Schwelle getreten“
136, sagt Anni Piorrek. Die Geschichte spielt zur Zeit der
Reformation; Ostpreußen erlebt eine zweite Epoche seiner christlichen
Geschichte. Der Ordensstaat wird abgelöst, das Land wird sich zu einem Zentrum
protestantischer Lehre entwickeln –da geht „der große Vater“ vorüber, zu dem das
Volk noch manchmal heimlich um Erntesegen bittet, wie eine alte Magd zu erzählen
weiß.
Unerhörte Begebenheiten prägen diese Novelle. Ein Kaufmann
namens Georg Höxter wandert aus dem Weserlande nach einer Küstenstadt im Osten
aus und baut dort einen blühenden Holzhandel auf. Er hat seine Schwester
mitgenommen, die schöne Magdalene, die am Vorabend ihrer Hochzeit mit dem Sohn
des Bürgermeisters „in Blitz und Feuer“ verschwindet, entführt von einem
„undeutschen“, bärtigen Mann. Doch das haben nur die Kinder des Georg Höxter
beobachtet. Der Bruder verwindet das Verschwinden seiner Schwester nie, ebenso
wenig seine Frau.
Georg Höxter III., der Enkel des Ausgewanderten, erlebt als
Besitzer des Holzplatzes Unglück und verliert Frau und Kinder. Er nimmt
Verwandte in sein leeres Haus und begibt sich auf eine Reise ins Reich zu
dortigen Verwandten. Von dort bringt er die junge Frau Elsbeth mit, die sich
bald im Osten eingewöhnt. Nur eine vertraute Freundin fehlt ihr. Auf dem
Bauernmarkt am Sonnabend vor Johanni will sie ein paar Handtücher kaufen und
kommt zu einer Lindenreihe, „unter deren Schatten die undeutschen Frauen
puppensteif und geputzt dastanden und über dem Arm ihre kunstvollen Webereien,
ihre Garnsträhnen und gestrickten Handschuhe feilhielten“ 137
„Undeutsch“ Frauen sind Litauerinnen oder Prußinnen. eine
von ihnen fällt Frau Elsbeth besonders auf, die ihr einen Sohn prophezeit und
ihr verspricht, zu ihr zu kommen, sobald Frau Elsbeth sie brauche. Mit der
Prophezeiung hat es seine Richtigkeit, und nach einer schweren Erkrankung der
Frau Elsbeth erscheint eines Tages die Fremde und bleibt in ihren Diensten.
Malone Perkuhn, so nennt sie sich, wird bald unentbehrlich im Haus, und nach der
Geburt des Sohnes soll sie Taufpatin werden, was nach einigen Bedenken über die
„Undeutsche“ geschieht, zumal sich herausstellt, dass ihr Vater denselben Namen
führte wie die Familie. Sie ist also eine ärmliche Verwandte, die aber bei der
Tauffeier eine gute Figur macht.
Im Familienkreis kommen immer wieder die Geschichten um das
lange zurückliegende Verschwinden der schönen Magdalene zur Sprache. Die alte
Sanne, eine einheimische Magd, erklärt den alten Glauben. „Damals sei das anders
gewesen, und ihre Mutter habe noch fest geglaubt –und viele andere mit ihr- ,
dass der Schiffer, der die schöne Magdalene entführte, einer von jenen gewesen
sei, und an dem goldenen Morgenstern, der in seine Hand beim werfen zurückkam,
am rollenden Donner, am roten Haar und nicht zuletzt an seinem Abscheu gegen die
weiße Kreatur (ein weißes Hündchen wurde damals vom Blitz erschlagen) hätten ihn
als den großen Vater erkannt, zu dem ihr Volk damals noch heimlich um Erntesegen
betete“ 138.
Malone hat eine unerklärliche Gewitterangst, und der
einjährige Geburtstag des Kindes wird in einem Waldhäuschen der Familie
gefeiert. Es ist ein heißer Tag, und die Hitze entlädt sich in einem tosenden
Unwetter. Frau Elsbeth glaubt, Malone sei in ihrer Kammer bei dem Großohm und
bei dem Kleinen und beruhige beide. Mit urweltlicher, geradezu dämonischer Macht
gehen blitze und Regen nieder, dazwischen hört man „den hellen jauchzenden Ruf
einer Frauenstimme“, und blitz und Donner werfen alle zu Boden. Als das Unwetter
sich verzogen hat, ist Malone verschwunden. Ob sie überhaupt in der Kammer war,
bleibt ungewiss. Ihr Kleid und ihre Schürze hängen am Bettpfosten, und draußen
im Garten finden sie Malones bunte Schürzenbänder. Die alte Sanne spricht es
aus: „Der große Vater ging vorüber!“ 139
Es galt als eine Auszeichnung, vom Blitzstrahl getroffen zu
werden, denn dann, so glaubten die „alten Heiden“, hatte Perkunos den
Betroffenen persönlich zu sich geholt und in seine Gemeinschaft aufgenommen. Der
Gott des Donners war auch zugleich der Gott des Sonnenscheins, des Regens und
des Windes, der Gott, der Gesundheit verleiht und bei Krankheiten hilft. Ihm
wurde die höchste Verehrung entgegengebracht. Man fürchtet seinen Donner und
erkennt zugleich in seinem Blitz und Gewitter das höchste Glück, die Nähe zu den
Göttern. In einer Zeit, als Preußen schon längst von der „hellen und strahlenden
Lehre Luthers“ erleuchtet ist 141 und als die Aufklärung, der Sieg
der Vernunft, nicht mehr weit ist, kehren geheimnisvolle Frauen bei den soliden,
tatkräftigen Familien ein und werden auf mysteriöse Weise entführt, bei Blitz
und Donner, wie es den Ureinwohnern als Eingreifen des höchsten Prußengottes
erschien. Das Land wird stets seine Rätsel behalten.
Agnes Miegel taucht mit ihrer Schilderung prußischer
Geschichte in noch weiter zurückliegende Jahrhunderte hinab, so in ihrer
Erzählung „Landsleute“. Diese erste der „Geschichten aus Altpreußen“ spielt im
Byzanz im 5. Jahrhundert. Dort wird eine junge Samländerin durch Intrigen zum
Tod in der Arena verurteilt, durch einen Landsmann aber in der Nacht vor der
Hinrichtung befreit. Die Erzählung spielt weitgehend im Kerker, wo die
verurteilten Frauen auf ihre Hinrichtung warten. Einer alten Kupplerin, die sie
im Laufe der Nacht „Mutterchen“ nennt, erzählt die Samländerin Ita ihre
Lebensgeschichte, berichtet von ihrer Herkunft als Tochter eines samländischen
Häuptlings, die, obwohl frei geboren, von ihren ahnungslosen Verwandten in
großer Notzeit durchziehenden Bernsteinhändlern mitgegeben wurde; ihre
Verwandten konnten nicht ahnen, dass das byzantinische Sklaverei für sie
bedeuten würde. Am Hof der Kaiserin Eudoxia hat sie eine verderbte Welt
kennengelernt, von der sie nun der alten Kupplerin berichtet, die ihrerseits
dieselben Erfahrungen hat. Von der „neuen Religion“ spricht die Alte mit
Skepsis, obwohl sie getauft ist. Sie trägt noch ihre Amulette, schenkt Ita ein
Phallus-Kettchen für künftigen Kindersegen und bricht schließlich in ein
heidnisches Gebet an die „große Mutter“ aus. Dieses Gebet ruft in Ita alle
Erinnerungen wach. Die altgriechischen Worte an die „Erzeugerin und Gebärerin“
bewirken, dass Ita sich daran erinnert, wie sie „heimlich an die Tür des
Vorratshauses geschlichen war, wo die Mutter in Kindsnöten lag“ 141.
Eine Geburt war bei den alten Prußen offenbar kein verbogener Vorgang. Frauen
und Mädchen standen um das Bett der kreißenden, die mit dem Beistand der
Stammesgenossinnen ihr Kind zur Welt bringt. Man betet und ruft „die Mutter“,
die Aufgabe der ältesten Frau. „Die Urahne hatte gebetet mit erhobenen Händen
und starren Augen wie die Alte hier und die Mutter angerufen, die der Kreißenden
beisteht und das Kind löst aus dem Mutterleib, die Weiße, die aus dem Wasser
kommt 143. Es muss wohl die Göttin Laima gemeint sein, die bei der
Geburt half und das Schicksal der Neugeborenen bestimmte 144.
„Ob die Mutter noch lebte? Ob ihr Haar wieder gewachsen war
unter dem Witwentuch?“ 145 Beim Tode des Hausherrn wurde rituell das
Herdfeuer gelöscht; der Lebensmittelpunkt des Hauses erstarb. „O der
schreckliche Tag, als die Mutter am Herd stand zwischen den laut heulenden
Nebenfrauen, den kreischenden Mägden, den singenden Männern! Als der Oheim die
weiße Lindenschale hereintrug mit dem Wasser, das er unten im Grund hinterm
Gräberberg geholt hatte aus dem Bach, als er es weinend über das Feuer
schüttete, dass der Qualm, blau und beizend, in dicken Schwaden herunterschlug“
146. Das war wohl auch die Aufgabe des Priesters, denn der Oheim wird
später mit dem „weißen Priesterlaken ums Haupt“ beschrieben.
Dabei hatte der Tod aufgrund der Jenseitsvorstellungen
nichts Beängstigendes. Neben der Erwartung, auf der anderen Seite mit demselben
Rang und denselben Ausstattungen weiterleben zu können, wird hier ein Himmel
geschildert, in dem die Verstorbenen kraftvoll und selig auf die Angehörigen
warten. Ihr Sitz ist der große Wagen am Sternenhimmel, der „Heerwagen, der durch
die Ewigkeit rollte und die Seelen ihres Volkes trug“, Ita sieht sie dort: „Da
stand der Eltervater nicht mehr wankend am Weißdornstab, wie sie ihn zwischen
Ohm und Vater gesehen, sondern hochaufgerichtet, mächtig, mit flatterndem Bart,
im funkelnden Schwertgehenk, den fuß auf dem Nacken der Unfreien, der Waldleute,
der Bezwungenen, die er getötet hatte. Da stand der Oheim, das heilige Scheit,
das immer glimmende, in der Hand, das weiße Priesterlaken ums Haupt mit dem
langen seidenweichen Haar. Da stand der Vater, herrlich wie ein
Sommersonnwendfest“ 147.
Gezeigt werden auch die Dinges des Alltags. „Alles sah sie
(Ita) wieder vor sich: das Vorratshaus, in dem es nach Kräutern und Obst roch
und rieselndem Korn, die bunte Bettlade mit den groben Decken, dem
federgefüllten Sack, der Elchhaut drüber, die große Holzkiste, auf der die
gelben tönernen Schalen standen mit den weißen Kringeln drauf“ 148.
Der Junge bekam seinen ersten Jagdspeer geschnitzt, das
Mädchen einen „Spindelstab“ aus Eschenholz mit seinem Namen in Runen darauf
geschrieben. (Also hatten die Prußen doch eine Schrift?) Und gewebte Bänder –als
„Jostenbänder“ in Ostpreußen immer gebraucht und nach der Vertreibung in
Handarbeit hergestellt- dienten als Schmuckband, als Haarband, als Gürtel
149.
Schließlich fallen Ita die Worte des Gebetes zu dem „guten
Vaterchen“ in ihrer Sprache ein, der alle Naturkräfte beherrscht, die winde und
den Schnee, um alles zum Wohle des Menschen zu fügen.
„Den Nordwind lässt er wehn, den Westenwind! Die Segel
bläst er auf, dass wir fahren können. Das Loch öffnet er, tief in der See und
füllt unsere Netze mit schönen Fischchen. Ohe, das Vaterchen, das gute
Vaterchen“ Er schickt den Nordenwind, er schickt den Ostenwind! Den Schnee lässt
er fallen, das weiße Schneechen, damit die Saat schläft, das gute Brotchen, dass
wir nicht hungern im Sommer. Den Schnee lässt er fallen, das weiße Schneechen,
dass wir nicht hungern im Winter, die Spur sehn des Räubers, des hungrigen,
gierigen, am Schafstall, die Spur sehn des Elches unten im Erlenbruch! Ohe, das
Vaterchen, das gute Vaterchen, ohe“ 150
In dem Text „Truso“ beschreibt Agnes Miegel die „Aisten“,
deren Meer fünfhundert Meilen lang ist 151, aus der Sicht ihrer
Zeitgenossen. Sie alle „wunderten sich, was es östlich von Jomsburg für
merkwürdige Leute gab! Das sah aus wie man selbst, höchstens einen Schein
weißblonder, ganz und gar nicht wie die starrgesichtigen Wendenheiden oder
Finnen –und sprach so Gottverlaßnes. Aber dafür gaben sie gern und reichlich zum
Besten an Essen und Trinken und wohnten in etwas, was einer Stadt ganz ähnlich
sah, in festgefügten Balkenhäusern, in denen große, kantige Herde qualmten.
Geschickte Leute waren es, die hübsche Krüge mit dicken Ringwülsten brannten,
die webten bunte Bortengürtel, gut zum Mitbringen für die Frauen, und brauten
einen Honigschnaps, von dem einem warm wurde vom Ilfing bis zur Schlei“ 152.
Dem „dicken Wulfstan, diesem alten Fuchskopf aus Birka“,
werden „Wunderdinge von Truso“ erzählt. „Von den Häusern mit den Vorlauben, von
den gastfreien Leuten, von ihren Metgelagen beim Häuptlingszarm mit
Wildschweinsbraten, Elchleber und riesigem Hecht am Spieß. Von der schöne,
weißblonden Häuptlingstochter mit dem vor Alter rotbraunen Bernsteinhalsband,
wie sie an der in aller Herbstglut steifgefrorenen Leiche ihres Vater klagte
153.
Von der großen Pferdehatz um die verschilfte Südbucht des
Drausen, wo alle Enten, Wildgänse und Möwen aufflatternd kreischten, als ihre
Brüder die Schöne samt Bernsteinschmuck, Pferden, Haus und hof verloren. Ja,
schön ist´ s da oben! Wulfstan, alter Räuber, Bruderherz, fahr nach Truso.
„Und Wulfstan fuhr nach Truso“ 154.
„Ihre Augen sahn hinter Tod und Grab
Und kannten nicht Raum noch Zeit.“ 155
So sprach Ina Seidel über Agnes Miegel nach ihrer ersten
Begegnung mit ihr. Sie erweckt in ihrem Werk die Welt der Prußen zu neuem Leben,
eine Welt, die in ihrer Heimat unterschwellig vorhanden war, nicht nur im
Museum, sondern im Volk und in seinem Brauchtum. Besonders auf dem Lande war das
Leben im Rhythmus der Jahreszeiten von den alten Bräuchen geprägt. In der
Karwoche wurde der „Rasemuck“ vom Heuboden verjagt, ein Kobold, der sich im
Winter eingenistet hatte, das Osterwasser, am Ostermorgen vor Sonnenaufgang
schweigend aus einem fließenden Gewässer geschöpft, brachte Schönheit und
Gesundheit, das „Schmackostern“ verhalf zu Gesundheit und Fruchtbarkeit –bei den
alten Prußen wurde eine Braut mit leichten Schlägen zum Brautbett geführt, um
die Fruchtbarkeit zu bewirken. Eine Nacht voller Urkräfte war die
Johannisnacht, eindrucksvoll festgehalten in Hermann Sudermanns gleichnamigen
Drama; bis zur Vertreibung wurde die letzte Garbe in manchen Gegenden in der
Form eines Hahnes oder eines Bockes gebunden, Verehrung für den Feldgott Curcho.
Spätestens im Schicksalswinter 1944/45 zog der letzte Zug des Schimmelreiters
durch die Dörfer, aber man bastelte „im Westen“ weiterhin das „Unruh“, ein
Mobile, das man an die Kinderwiege hängte, nicht nur zum Vergnügen der Kleinen,
sondern zur Abwehr böser Kräfte 156.
Untergegangen sind sie also bis heute nicht, die alten
Prußen mit ihren Göttern und Gebräuchen, und das Interesse an ihrer Kulturfund,
an ihrer Geschichte, verbindet heute Deutsche, Litauer und Russen. Vielleicht
spenden die alten Preußengötter nun auf diese Weise ihren Segen, wie in Agnes
Miegels Gedicht „Mainacht“:
„Und über den Lindenwipfeln
Führten im Blitzesschein
Die alten Prußengötter
Ihren ersten Frühlingsreihn,
Herden und Saaten segnend,
Schwanden sie über das Meer.
Ihre hohen Bernsteinkronen
Blitzten noch lange her.“ 157
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Quelle:
Tolkemita-Texte Nr. 58, Dieburg 2000 |
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