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    Über einen Aufstand, den es nie gegeben hat  
    von Arthur 
    Hermann 
    Dieser 
    Beitrag wurde 2001 in der in Chicago, USA erscheinenden litauischen 
    Monatszeitung „akiraèiai“ veröffentlicht. | 
    
    
     |  In der Geschichte kennen wir 
viele Versuche von Herrschenden historische Geschehnisse zu verheimlichen oder 
die Gesellschaft in die Irre zu führen, in dem man Geschehnissen eine positive 
Deutung gibt. So wird die Besetzung eines Gebietes zu einer Befreiung, eine 
Intervention zu einem Aufstand, ein Staatsstreich zu einer Revolution usw.. Oft 
geschieht es, daß die Gesellschaft so eine Interpretation toleriert und manchmal 
sogar zustimmt. Mit der Zeit wird so eine Interpretation dann zu einem Mythos. 
Es muß sehr viel Zeit vergehen und große gesellschaftliche Veränderungen geben, 
bevor man sich solcher Bewertung entsagt. Eine solche Bewertung war 1917 der 
bolschewistische Umsturz in Rußland, der dort bis hin zu einer Revolution des 
Volkes aufgewertet wurde. Ein ähnliches Beispiel ist der sofort nach dem Ersten 
Weltkrieg in Deutschland entstandene Mythos, daß angeblich liberale und linke 
Politiker wie auch Juden die Reichswehr verraten hätten und Deutschland deswegen 
den Krieg verloren hat (Dolchstoßlegende). In vielen Staaten Europas gab es im 
zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ähnliche Interpretationen. 
Alle diese Interpretationen sind heute schon längst aufgeklärt und unter der 
richtigen Bezeichnung eingeordnet worden: Staatsstreich, Intervention oder 
direkt als ein irreführendes Argument. Nur in Litauen leben immer noch 
irgendwelche Mythen, denen man, obwohl von einzelnen Historikern schon 
aufgeklärt und offen gelegt, in der populären litauischen Historiographie und 
Publizistik immer noch nicht entsagen will. Eines solcher Geschehnisse ist 
die Besetzung des Memelgebietes 1923. Um das Ausland und auch die eigene 
Gesellschaft irre zu führen, wurde sie als ein aufstand der Memelländer selber 
gegen die das Land verwaltenden Franzosen ausgegeben. Der Begriff des 
memelländischen Aufstandes ist so tief in das Bewußtsein der Litauer verwurzelt, 
daß sogar der historische Nachweis, daß es dort in Wirklichkeit keinen Aufstand 
gegeben hat und es nur ein von Kaunas ausgehecktes Planspiel war, einfach nicht 
zur Kenntnis genommen wird. Auch der Nachweis, daß das Land von litauischen 
Militär und Schützeneinheiten besetzt wurde und die Bewohner dieses Gebietes, 
mit kleinen Ausnahmen, daran überhaupt nicht teilgenommen haben, genügt hier 
nicht. Polen hat schon längst die Interpretation, daß der Marsch von 
Scheligowski nach Vilnius die Folge eines Tumultes gewesen war, aufgegeben.  Es 
wäre daher an der Zeit, daß auch die Litauer der Besetzung des Memellandes den 
richtigen Namen geben würden. Es wäre nicht schwer, diesen Vorgang zu begründen, 
man könnte sogar stolz auf ihn sein und darauf hinweisen, daß er letztlich dem 
Gebiet gut bekommen ist. Warum aber wird immer noch, 
nicht allein in der Presse, sondern auch in der halboffiziellen Historiographie, 
nicht nur der Begriff des Aufstandes verwendet, sondern auch immer noch zu 
beweisen versucht, daß er wirklich stattgefunden hat? Sogar den Historikern, die 
eine Besetzung nicht negieren, fehlt der Mut, sich des Begriffes Aufstand völlig 
zu entsagen. Weil sich dieser Begriff so fest im Bewußtsein der litauischen 
Gesellschaft verwurzelt hat, setzen sie ihn nur in Anführungszeichen. 
Möglicherweise würden sonst die litauischen Leser überhaupt nicht verstehen, 
wovon hier die Rede ist. Und was soll man hier noch zu 
all den Aktivitäten vieler anderer Litauer sagen? Immer noch wird von ihnen 
jedes Jahr der Jahrestag des Aufstandes gefeiert und dementsprechende Reden 
geschwungen. Sogar in den neuesten Werken, wie die „Kleinlitauische 
Enzyklopädie“ wimmelt es von Begriffen des Aufstandes und der Aufständischen, 
als ob die Welt auch heute immer noch betrogen und um dieses Gebiet gekämpft 
werden müßte. Offensichtlich entsteht ein so 
langlebiger Mythos aus zwei Ängsten. 1. Die Angst, wenn es bekannt würde, daß 
Litauen dies Gebiet seinerzeit besetzt hat, es dadurch das Anrecht darauf 
verlieren könnte. Diese Angst jedoch läßt sich heute durch nichts mehr 
begründen, denn die jetzigen Grenzen Litauens sind durch alle Staaten anerkannt 
worden. Und die ehemaligen Bewohner des Gebietes, richtiger gesagt, deren 
Nachkommen, haben sich schon lange mit ihrem Schicksal abgefunden und stellen 
keine Forderungen. 2. Die größere Angst der Litauer ist jedoch, daß sie sich mit 
der zugegebenen Besetzung eines für das eigene Herz so angenehmen Gefühls, das 
ihnen ihre bisherige Rolle als Opfer vermittelt, entsagen müßten.  Und 
gleichzeitig müßten sie damit auch anerkennen, daß sie nicht besser und nicht 
schlechter waren als alle anderen Nationen auch, die dort Gewalt anwendeten, wo 
sie die Stärkeren waren und dort klein beigaben, wo sie die Schwächeren waren. Die litauischen Historiker, die 
die damaligen Geschehnisse als eine Besetzung bezeichnen, werden heute 
selbstverständlich von Litauen nicht bestraft oder beschuldigt: aber ihrer 
Argumentation hört einfach niemand zu. Vytautas Þalys, der als Erster zu diesem 
Ergebnis gekommen war, konnte sein Buch nur in Deutschland herausgeben (Ringen 
um Identität. „Warum Litauen zwischen 1923 und 1939 im Memelgebiet keinen Erfolg 
hatte“. Lüneburg, 1993, zweisprachig). In Litauen ist dieses Buch beinahe 
unbekannt geblieben. Vergangenes Jahr hat Vygantas Vareikis an der „Vytautas des 
Großen Universität“ zu Kaunas in seiner Dissertation die Teilnahme der 
litauischen Schützen an der Intervention dargelegt. Dort hat er energisch die 
Theorie des Aufstands abgelehnt. Da aber dieser Begriff so tief in der 
Historiographie der Litauer verwurzelt ist, benutzte er ebenfalls das Wort 
„Aufstand“ wenn auch nur in Anführungsstrichen. Da die litauische Gesellschaft 
über die Geschehnisse 1923 bisher immer noch wenig informiert ist, ist eine, 
wenn auch sehr geraffte Wiederholung der Ausführungen von Þalys und Vareikis 
angebracht. Im Sommer 1922 informierte E. 
Galvanauskas, der Premierminister Litauens Olsenhausen, den deutschen 
Botschafter in Kaunas, über die Pläne Litauens zur Besetzung des Memelgebietes. 
Die Regierung Deutschlands signalisierte ihre Zustimmung. Im September 1922 
wurde dem litauischen Generalstab die Vorbereitung der Intervention und die 
Suche nach einem Führer aus den Reihen der Preußisch-Litauer für den „Aufstand“ 
befohlen. Da sich kein Preußisch-Litauer für diese Aufgabe bereit stellte, wurde 
Jonas Polovinskas, der Leiter der Gegenspionage beim Generalstab dazu bestimmt. 
Er legte sich ab dann den preußisch-litauischen Nachnamen Budrys zu. Da es keine 
Hoffnung gab, die Bewohner des Memelgebietes zu einem Aufstand zu bewegen oder 
sie wenigstens dazu zu bringen, sich mit einer wesentlichen Anzahl an einer 
Besetzung zu beteiligen, wurde beschlossen, dafür die Hilfe der 
Schützenvereinigung Litauens zu nutzen. An der am 16. November 1922 abgehaltenen 
Präsidiumssitzung der Schützenvereinigung nahm auch Erdmann Simonaitis, Mitglied 
des Memelländischen Direktoriums, teil. Er versicherte nochmals, daß die 
Memelländer keinen Aufstand organisieren werden, und daß dieser im Namen der 
Preußisch-Litauer von Litauen selbst gemacht werden muß. Gleichzeitig schlug 
Simonaitis der Schützenvereinigung vor, aus zuverlässigen Preußisch-Litauern ein 
Hilfskomitee zu formieren, in dessen Namen dann die Intervention durchgeführt 
werden könnte. Der Leiter der Schützenvereinigung Krëvë fuhr mit einigen 
Vertretern nach Deutschland, um dort mit der Heeresleitung zu verhandeln. Es 
wurde ihnen zugesichert, daß der Einmarsch des litauischen Heeres und der 
Schützen in das Memelgebiet nicht behindert werden wird. Gleichzeitig gelang es 
den Litauern in Deutschland mit einem Preisnachlaß Waffen einzukaufen. Als es am 18. Dezember 1922 
deutlich wurde, daß die Botschafterkonferenz am 10. Januar 1923 das Memelgebiet 
zu einem „Freistaat“, also zu einem selbständigen Ländchen erklären wird, wurde 
schnell aus einigen prolitauischen Preußisch-Litauern das Hilfskomitee für das 
Memelgebiet gebildet und dem Heer, wie auch der Schützenvereinigung der Befehl 
zur Bereitstellung zum Feldzug erteilt. Mit der Eisenbahn wurden sie an die 
Grenze gebracht, wo sie dann, in Zivil umgekleidet, die litauisch-memelländische 
Grenze überquerten und bis zum 15. Januar das ganze Gebiet besetzten. Die 
Bewohner des Gebietes verhielten sich passiv, nur von den französischen Soldaten 
und einigen Polizisten hat es schwachen Widerstand gegeben. Nach dem Ersten Weltkrieg hat 
es mehrere solcher Interventionen gegeben, die als Aufstände, Unruhen oder sonst 
wie bezeichnet wurden. Während aber z. B. damals die Bewohner des Vilnaer 
Gebietes sich deutlich für den Anschluß an Polen aussprachen und General 
Scheligowski, wie auch die Mehrheit seiner Soldaten aus diesem Gebiet stammten, 
verlangten nur sehr wenige Memelländer einen Anschluß an Litauen und beteiligten 
sich kaum an der Besetzung. Polovinski hatte zwar Ende 1922, als er aus 
Erkundungsgründen das Memelgebiet bereiste,  versichert, daß mehr als die Hälfte 
der Bewohner dieses Gebietes einem Anschluß an Litauen zustimmen würden. Er 
hatte sich jedoch nur mit einigen sehr prolitauisch eingestellten Memelländern 
getroffen und nur das gehört, was er hören wollte. Denn eine damals gerade vor 
einem Jahr durchgeführte Befragung hatte es sehr deutlich gemacht: von den 71858 
Wählern hatten sich 54429 für einen Freistaat ausgesprochen. Polovinski selbst 
wies aber darauf hin, daß die Memelländer nicht an einen Aufstand dächten. 
Bleibt jetzt nur noch zu klären, wieviel Memelländer sich den Einmarschierenden 
zugesellten. Später wurde von 300 gesprochen, nur ist es unklar, ob dies während 
der Besetzung oder erst danach geschah. Denn sofort nach der Besetzung des 
Gebietes hatte Polovinski eine Gebietsarmee gegründet, wo den dort Eingetretenen 
sehr gut gezahlt wurde. Ihr Kern bestand zwar aus litauischen Schützen, aber es 
wurden auch Memelländer angenommen. Diese Armee wurde am 24. Februar 1923 durch 
die Eingliederung in das reguläre Herr Litauens aufgelöst. Die Gesellschaft Litauens hat 
den Anschluß des Memelgebietes an Litauen als die Rücknahme ihres eigenen Landes 
gewertet. Wenn auch historisch gesehen so eine Denkweise falsch ist, denn dieses 
Gebiet hatte nie zum litauischen Staat gehört, so konnte doch argumentiert 
werden, daß Litauer hier lebten und Litauen somit irgendwelche Rechte auf dieses 
Gebiet besäße. Aber dann hätte dies 1923 sofort klargemacht werden müssen, etwa, 
daß jetzt Litauen mit dem Aufstand gegen die unrechtmäßige französische 
Verwaltung sein Gebiet zurückgenommen hat. Nur in diesem Fall könnten wir heute 
über einen Aufstand sprechen. Doch der Welt wollte man damals unbedingt 
beweisen, daß die Memelländer selbst mit ihrem Aufstand einen Anschluß an 
Litauen wollten. Nach dem erfolgten Anschluß 
interessierte Litauen allerdings nur das Territorium, nicht aber die Bewohner 
des Memelgebietes selbst, denn Litauen schenkte ihren Hoffnungen und Forderungen 
kaum Aufmerksamkeit. Das hat der Historiker Vytautas Þalys nachgewiesen. Selbst 
die wenigen prolitauischen Memelländer mußten bald erfahren, daß die Großlitauer 
sie weder schätzten noch für die Ihrigen hielten. Litauen schickte seine 
Verwaltungsbeamten massiv in das Memelgebiet. Diesen Herkömmlingen wurden gute 
Voraussetzungen für Arbeit und Unterkunft geboten. Besonders dadurch wurde 
dieses Gebiet, für dessen Lithuanisierung anderweitig kaum etwas gemacht wurde, 
eher entlithuanisiert. Nach 1945 wurde durch die 
kommunistische Regierung Litauens diese Politik im breiteren Maße fortgesetzt. 
Noch vor der Besetzung Memels 1945 wurde in Vilnius geplant, wie dieses Gebiet 
neu besiedelt werden sollte. Man hatte es aus Angst, daß sich ein Zustrom von 
Russen in dieses Gebiet schnell vollziehen könnte, sehr eilig, setzte damit aber 
gleichzeitig auch die Politik der Vorkriegszeit fort. Die Bedingungen dazu waren 
jetzt günstiger, denn im Gebiet waren nur wenige Urbewohner verblieben. Die nach 
dem Krieg zurückkehrenden Memelländer wurden zwar nicht nach Deutschland 
ausgewiesen, aber in ihre Wohnungen und auf ihre Höfe durften sie nicht. Diese 
wurden den litauischen Neusiedlern überlassen. Erst Ende 1947 wurde den 
Memelländern litauischer Herkunft die sowjetische Staatsbürgerschaft zuteil und 
ihnen erlaubt, Bürger der SSR Litauens zu werden. Aus jetziger 
Sicht war es dem Memelgebiet günstig 1923 zu Litauen gekommen zu sein, denn 
sonst würde es heute zum Kaliningrader Gebiet gehören. Wenn es damals diese 
mutige Aventüre Litauens mit der Besetzung des Memelgebietes nicht gegeben 
hätte, wäre von Stalin 1945 das Memelgebiet sicher nie Litauen überlassen 
worden. So war schon sehr früh vorgesehen worden, dieses Gebiet Litauen zu 
überlassen. Dadurch hat es bei der Eroberung im Winter 1944/45 weniger gelitten, 
auch wurde mit den dort verbliebenen Menschen etwas milder als in Ostpreußen 
umgegangen. Sie wurden nach Beendigung des Krieges auch nicht vertrieben, wie es 
im Könisgberger Gebiet durch die Russen geschehen ist. Heute freuen sich die aus 
Deutschland zu Besuch kommenden ehemaligen Memelländer und ihre Nachkommen 
darüber, daß ihr ehemaliges Gebiet zu Litauen gekommen ist. Darum gibt es heute 
absolut keinen Grund an dem Mythos festzuhalten, daß es 1923 ein Aufstand der 
Memelländer gewesen ist. Es ist an der Zeit mit dem Betrug anderer und sich 
selbst aufzuhören, denn durch diese Lüge wird auch das litauische Volk selbst 
beschädigt und gequält
 
  
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    Quelle:Tolkemita Mitteilungen / waistsennei I/2002,
 Informationsschrift für Prußen und Prußenfreunde
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