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Allmählicher Aufstieg nach tiefem Fall Als Folge des am 9. Juli 1807 mit dem napoleonischen Frankreich geschlossenen Friedens zu Tilsit waren das Staatsgebiet Preußens und seine Einwohnerzahl auf etwa die Hälfte zusammengeschrumpft. Man konnte in der Tat von einem Rumpfstaat sprechen, der zudem auch noch von französischen Truppen besetzt war, so auch die preußische Hauptstadt Berlin. Der preußische Hof und die Regierung residierten in diesen schweren Zeiten in Königsberg (Pr.). Erst Anfang 1809 kehrten sie nach Berlin zurück. Die wirtschaftliche Lage der preußischen Bevölkerung war katastrophal, besonders in Ostpreußen. Der nordöstliche Teil Preußens hatte durch die Kriegshandlungen sehr gelitten. Viele Ortschaften waren völlig zerstört. Noch im Dezember 1810 war in den meisten ostpreußischen Dörfern kaum ein Gebäude wieder aufgebaut. Die Felder waren seit dem Krieg nicht mehr bestellt worden. Frühere Getreide- und Holzexporte, die zu einer erfolgreichen Vorkriegswirtschaft beigetragen hatten, fielen unter die von Napoleon gegen England angeordnete Kontinentalsperre. Das Fehlen des früher regen Außenhandels hatte erhebliche negative Auswirkungen auf die meisten Wirtschaftsbetriebe. Die Erwerbsmöglichkeiten waren in diesen Zeiten äußerst gering. Beispielsweise war bei den bedeutenden Zweigen des Textilgewerbes Wolle, Baumwolle und Seide die Zahl der Beschäftigten im Vergleich zur Vorkriegszeit um die Hälfte zurückgegangen. Hinzu kamen weitere Belastungen. Infolge der französischen Einquartierungen fielen die Mietpreise und ebenfalls die Immobilienwerte. Nach amtlichen Berechnungen preußischer Regierungsstellen betrugen die Unterbringungskosten für die französische Armee rund 218 Millionen Taler. Zu den laufenden Schulden trat noch die französische Kontribution von 120 Millionen Taler hinzu. Noch schwerer als die Bevölkerung mit ihren Privatvermögen traf es den Staat, dessen Finanzen sich in einer noch schwierigeren Lage befanden. Man könnte resümieren, daß die Auswirkungen der militärischen Niederlage Preußens und die damit verbundenen Friedensbedingungen von 1807 alle Bereiche des Lebens der Bevölkerung, des Staates und der Wirtschaft betrafen. Bei dieser wirtschaftlichen Situation Preußens sollte nicht übersehen werden, daß das vor dem Krieg vorhandene Wirtschafts- und Gesellschaftssystem Preußens keine oder nur wenige Möglichkeiten zu einer moderneren Entwicklung der Wirtschaft geboten hatte. Allerdings war bereits vor 1806 eine größere Reform in Preußen vollzogen worden. Auf den staatlichen Domänen fand eine Bauernbefreiung statt. Durch diese Maßnahme wurden 50000 Domänenbauern vor 1806 freie Eigentümer. Das waren mehr als später in der ganzen Epoche von 1807 bis 1848. Bei den nach 1807 in Angriff genommenen Reformen blieb es vorerst nur bei Plänen und Absichtserklärungen königlicher Regierungsstellen. Somit gab es auch keine einheitliche, umfassende Reformpolitik, denn die monarchistischen Kreise dieser Zeit, insbesondere im Adel und der Führung der preußischen Armee, verfolgten andere Ziele. Hinzu kam, daß auf allen Reformversuchen in Preußen der entwürdigende und auf Zerstörung gerichtete Friedensvertrag von 1807 lastete. Was den preußischen Reformern vorschwebte und sie auch wünschten, war eine "Revolution von oben" zur Bildung eines ständischen Volksstaates durch Befreiung und Erziehung der Untertanen zu mitverantwortlichen Staatsbürgern. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. stimmte den neuen Ideen zwar zunächst zu, doch war er entschlußschwach und hörte lieber auf den preußischen Adel. Andererseits konnte Preußen kein zweites Frankreich werden, denn Frankreich war mit seiner völlig anderen Struktur mit Preußen nicht vergleichbar. Die Französische Revolution von 1789 mit den elementaren Grundsätzen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit war eine bürgerliche Revolution gewesen. Die französischen Bauern verdankten letztlich ihre Befreiung von ihrer Unterdrückung einem starken Bündnis mit einem revolutionären städtischen Bürgertum, das aber in Preußen nicht vorhanden war. Führend in der preußischen Reformbewegung war Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (1767-1831) aus Nassau / Lahn. Er war ab 1804 preußischer Minister und gab den entscheidenden Anstoß zur Bauernbefreiung im Jahre 1807 und für die Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden. Zumindest teilweise wurde auch Bürgerlichen Grundbesitz erlaubt. In dieser von Stein geschaffenen Reform tritt die Ideenwelt der Freiheit des Individuums hervor. Die Städteordnung von 1808 ist fast ausschließlich Steins geistiges Werk. Der Sinn und die Aufgabe der Städteordnung sollte die Erziehung des Bürgers zur Selbsttätigkeit sein. Der Staat habe nicht das Recht, den einzelnen Bürger beziehungsweise die Bevölkerung zu bevormunden. Hinsichtlich der Vertragsverpflichtungen gegenüber Frankreich glaubte Stein zum offenen Widerstand übergehen zu können. Er scheiterte jedoch mit diesen Plänen und mußte auf Veranlassung Bonapartes seine Ministerstellung im Jahre 1808 aufgeben. Die Reformpläne Steins verwirklichte wenigstens teilweise der preußische Staatskanzler Freiherr Karl August von Hardenberg (1750-1822). Der gewandte Diplomat und liberale Rationalist zielte in seinen Vorstellungen ebenfalls auf Reformen, allerdings im monarchischen Staat ohne Betonung ständischer Selbstverwaltung. Das preußische Kabinett erließ unter dem Vorsitz Hardenbergs in den Jahren 1807 bis 1814 bedeutsame Reformen, die zum Teil auf den Plänen Steins beruhten. Zu der Bauernbefreiung trat die Abschaffung der Erbuntertänigkeit, die Ablösung der Frondienste durch die Abgabe eines Drittels des Bauernlandes an den Gutsherrn, ferner die Garantie für die Freiheit der Person, des Besitzes und des Berufes sowie die Rechtsgleichheit. Im Rahmen der Judenemanzipation wurde den jüdischen Mitbürgern die preußische Staatsangehörigkeit verliehen. Weitere Reformen betrafen die Selbstverwaltung der sogenannten Besitztümer durch gewählte Stadtverordnete, die Trennung von Justiz und Verwaltung, die zentrale Verwaltungseinteilung in Provinzen mit einem Oberpräsident, in Regierungsbezirke mit einem Präsidenten und in Kreise mit einem gewählten Landrat an der Spitze sowie die Einrichtung von Fachministerien des Inneren, des Äußeren, der Finanzen und des Krieges. Die Entwicklung der Bildungsreformen in neuhumanistischem Geist wurde Wilhelm Freiherr von Humboldt (1767-1835) übertragen, auf dessen Initiative im Jahre 1810 die Berliner Universität gegründet wurde. Einer Heeresreform in Richtung auf ein Volksheer nahmen sich Gerhard von Scharnhorst, August Neidhardt von Gneisenau und Carl von Clausewitz an. Als das Königreich Preußen im Jahre 1813
verbunden mit Rußland in den Krieg gegen Frankreich eintrat, hatte die
Reformgesetzgebung für den preußischen Staat das öffentliche soziale Leben
teilweise grundlegend verändert. Das Preußen, das sich 1813 anschickte, an der
Seite Rußlands und anderer Deutschland und Europa von der napoleonischen
Herrschaft zu befreien, war nicht mehr jenes der Schmach von
Jena und Auerstedt.
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