Die Nächte blieben schlaflos
Die Fluchtszenen machten durch ihre Eindringlichkeit
betroffen
Ein Beitrag von Ruth Geede
Skepsis war angesagt:
„Die Flucht“ war als „historischer Zweiteiler“ avisiert, zugleich aber als
Spielfilm mit fiktiver Handlung, in deren Mittelpunkt eine Frau im Zwiespalt der
Gefühle steht, die sich aber den harten Forderungen, die Krieg und Flucht
stellen, unterordnen müssen. Gegenüber anderen Verfilmungen, die auf
historischen und damit länger zurückliegenden Vorgängen beruhen, ist es
fraglich, ob man diesen Spielfilm so apostrophieren kann, denn – wie auch die
Drehbuchautorin und Produzentin Gabriela Sperl ausführt – behandelt er ein
Thema, das in fast jede deutsche Familie hineinreicht. Die Härte des Geschehens,
die vor allem die ostpreußische Bevölkerung traf, hat das Leben vieler
Vertriebener bestimmt und ist auch nach 62 Jahren noch spürbar. So gesehen sind
wir, die in das Thema durch das eigene Erleben eingebunden sind, Zeitzeugen und
müssen zwangsläufig den Film aus diesem Blickwinkel betrachten. Daß er in uns
Emotionen weckt, die im Alltag nur unterschwellig vorhanden sind, ist
selbstverständlich, auch daß diese zu unterschiedlichen Beurteilungen führen
müssen. Obwohl ich mich bemüht habe, den Spielfilm als solchen zu bewerten,
gelang es mir nicht, meine Empfindungen zu unterdrücken, wollte es wohl auch
nicht. Die Nächte blieben schlaflos.
„Der Film ist besser
als sein Ruf. Er ist kein Ersatz für die Realität und spiegelt nur Bruchteile
der Wahrheit wider, denn die persönlichen Erlebnisse fehlen ja. Diese sind bei
jedem Menschen unterschiedlich. Leid ist stets individuell. Solche Tragödien
brennen sich in die Seele und nur selten weichen sie dem Vergessen“ (Christa
Pfeiler-Iwohn)
Zu gravierend waren die
Eindrücke, die vor allem durch die Fluchtszenen entstanden, die durch ihre
Eindringlichkeit betroffen machten. Anders als reine Dokumentarfilme, die durch
Kommentare erläutert werden, ist es hier das direkte Geschehen, das auch die
Zuschauer berührt, die sich bisher mit dem Thema Flucht nicht auseinandergesetzt
haben, nicht konnten oder wollten. So gesehen hat ein Spielfilm wie dieser auch
Informationsgehalt, mag er durchaus an manchen Stellen zu Widersprüchen reizen.
Darüber kann und wird diskutiert werden, auch über manche Unstimmigkeiten und
Anachronismen, die sich wohl in jeder so enorm aufwendigen Produktion ergeben.
Das Land hat jedenfalls mitgespielt: Am beeindruckendsten ist die Flucht über
das zugefrorene Frische Haff mit Schneesturm und Einbruch des Fluchtwagens, die
grausame Kälte, der Angriff der russischen Tiefflieger, der Tod in der endlosen
Eisweite – das ist großartig gefilmt.
„Ein aufwühlender Film.
Hervorragend in Konzeption und Darstellung mit künstlerischer Leistung bis ins
Detail, bewirkt er das Nichtvergessen. Der Schmerz des Verlassens der Heimat
sitzt immer noch tief. Mag er dazu beitragen, daß die Erinnerung an die Kultur
und Landschaft bei der nachfolgenden Generation erhalten bleibt.“ (Christian
Papendick)
Und gespielt. Man muß
dem Film zugestehen, daß er sehr gut besetzt ist bis in die kleinsten
Nebenrollen. Was man als Vertriebener, der sein eigenes Schicksal gespielt
sieht, befürchten mußte, trat nicht ein: Die Akteure wirkten jedenfalls in den
Fluchtszenen authentisch. Vielleicht, weil sich Schausteller wie Statisten beim
Dreh im eisigkalten Litauen der Härte des östlichen Winters stellen mußten. Wie
die Hauptdarstellerin Maria Furtwängler, die bei den sie fast überfordernden
Strapazen am liebsten aus dem Treck ausgeschert wäre, aber so der Rolle der Lena
eine noch stärkere Glaubwürdigkeit verleihen konnte. Für sie die herausforderndste Aufgabe in ihrem bisherigen Schauspielerleben, die von ihr
eine gewisse Gratwanderung verlangte.
„Klar ist mir, daß der
Spielfilm, in den viel Herzblut reingesteckt wurde, nicht das wirkliche Ausmaß
unserer Vertreibung und die unermeßlichen Leiden von Frauen und Kindern auf dem
Fluchtweg aufzeigen konnte. Ich hoffe, daß eine unbefangene, offene Diskussion
über unser Schicksal in der Öffentlichkeit möglich wird.“ (Anita Motzkus)
In ihrer Rolle als ledige Mutter aus einem
alten Adelsgeschlecht, die den vorgegebenen Konventionen nachgibt und den ihr
vorbestimmten Mann heiraten will, sich aber dann in einer emotionalen Verbindung
mit einem französischen Kriegsgefangenen zu verstricken scheint, war ein
Abdriften ins Klischeehafte zu befürchten. Konzessionen, die eben an einen
Spielfilm mit starkem Unterhaltungswert – und hohen Produktionskosten – gemacht
werden. Maria Furtwängler, schon vom Typ her die Idealbesetzung, wirkte am
stärksten in jenen Situationen, die Verantwortung und einen kühlen Kopf
verlangten. Vor allem das Abblocken der Gefühle, das die Menschen in den
schwersten Stadien der Flucht zeichnete, bringt sie hervorragend zum Ausdruck.
In einer zusammenbrechenden Welt, in der die Menschen alles verlieren, was ihr
Leben bestimmt hatte: Heimat und Habe, historisch Gewachsenes, Geborgenheit,
Unversehrtheit an Leib und Seele, Idole, die für sie glaubhaft gewesen waren.
„Ein beeindruckender
Film. Gut, daß das Thema einem breiten Publikum so realistisch vermittelt wird.
Kleine Unstimmigkeiten in den Darstellungen können der Regie verziehen werden.
Allerdings fällt auf, daß sich die historische Beratung offenbar mit den
Verhältnissen auf einem adligen Gutshof in Ostpreußen nicht besonders gut
auskennt.“ (Hans Graf zu Dohna)
Was bleibt, was kommen könnte, will der Film an seinem Ende aufzeigen, das aber
gegenüber den starken Szenen aus dem Endkampf um Ostpreußen, zu denen auch die erschütterndste – die Vergewaltigung der flüchtenden Frauen durch die russischen
Horden – gehört, abrupt abfällt. Die Handlung erscheint zu komprimiert und
dürfte für manchen Zuschauer, der sich bisher nicht mit dem Titelthema
beschäftigt hat, schwer verständlich sein. Immerhin, und das bleibt
unbestritten, wird durch das hier voll eingesetzte Instrumentarium, über das
eine solch aufwendige Spielfilmproduktion verfügt, dieses bisher von den Medien
weitgehend gemiedene Kapitel deutscher Geschichte Millionen von Menschen vor
Augen geführt, die sich sonst nicht für dieses Thema interessiert hätten. Wie
Gabriela Sperl sagt: „Die Zeit ist da, die Dinge offen auszusprechen.“ Es dürfte
viel gesprochen werden!
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