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Licht in der Finsternis Ich kann den Film ‘Die Flucht’ nicht sehen. Ich will nicht in die Richtung blicken, aus der ich komme. Ich will nicht in das Schlaflos-Gesicht meiner Mutter sehen. Ich will nicht den Schweiß ihrer Hand riechen, als Russen nach jungen Frauen suchten. Eine Stunde, zwei Stunden hielt mir meine Mutter den Mund zu, damit ich als Baby nicht weine und sie verrate. Ich will meine Mutter nicht sehen, wie sie mich 1.000 Kilometer auf dem Rücken trug und meinen Bruder, der schon laufen konnte, an ihr rechtes Handgelenk band.“ Was Franz Josef Wagner in seiner Bild-Kolumne im Vorfeld des ARD-Zweiteilers an die „Lieben Heimatvertriebenen“ schrieb, mag manche zum Nachdenken bewogen haben. Tu ich mir das an? Durchlebe die dunklen Monate noch einmal? Doch letztendlich war die Neugier größer: Hält das „TV-Ereignis des Jahres“ wirklich das, was es verspricht? Jedenfalls dachten wohl nicht viele wie der Bild-Kolumnist. Denn das TV-Drama bescherte der ARD und Arte Topquoten. Bis zu 2,6 Millionen Zuschauer verfolgten den Film auf Arte (Marktanteil am Gesamtpublikum 9,1 Prozent - üblich sind 0,5 Prozent). Über elf Millionen sahen dann zwei Tage später den ersten Teil im Ersten (Marktanteil 29,5 Prozent) und mehr als zehn Millionen den zweiten Teil. Kein Wunder also, daß ARD-Programmdirektor Günter Struve vom „erfolgreichsten Film im Ersten seit zehn Jahren“ sprach. Die ARD hatte den richtigen Riecher. Denn, so quotenmeter.de, „spätestens seit ‘Die Sturmflut’, ‘Dresden’ & Co. weiß man“, daß „große Geschichtsfilme, garniert mit einer Liebesgeschichte“ derzeit „unschlagbar sind“. Doch wie so oft bei dieser Kombination stellte sich so manchem Betrachter die Frage nach der Wiedergabe der Realität. Immerhin hatte sich Struve weit aus dem Fenster gelehnt: „Zum ersten Mal im deutschen Fernsehen wurde die Geschichte der Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen mit fiktionalen Mitteln erzählt.“ Doch wo endet die Geschichte, und wo beginnt die Fiktion? „Ja, es gibt durchaus viele realistische Elemente“, resümierte die Schriftstellerin Maria Frisé, die selbst die Flucht erlebte, in der FAZ, „aber leider steckt da auch viel Rosamunde Pilcher drin.“ Gerade diese „Überfrachtung mit den normalen Elementen eines romantischen ARD-Fernsehfilms“ lasse „den Film nicht nur unausgewogen erscheinen, sondern wirkt zuweilen einfach unglaubwürdig und lenkt von dem Zentralthema der Flucht ab“, erklärt auch der 20jährige Benjamin gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Dieses führe vor allem dazu, daß der Film die Jugend „nicht anspricht“. Was dann auch zutraf. Denn just in der Zielgruppe der 14- bis 49jährigen mußte sich „Die Flucht“ mit drei Millionen Zuschauern zufriedengeben. „Spröde Liebesgeschichte“, urteilt auch der Zeitzeuge Arnold A. Dittrich und kritisiert den prägenden „roten Faden“ der „kleinen, mit Selbstschuldsentenzen überfrachteten Erzählung“. Aus „der größten Geschichtstragödie ist eine flache Erzählung geworden“, erklärt der selber aus Ostpreußen geflüchtete Dittrich und ergänzt: „Gezeigt werden dumme Parteihörigkeit, Uniformeitelkeit und Hinrichtungen. Laut und deutlich wird hervorgehoben, daß die Wehrmacht nicht kämpft, sondern mordet. Eine Stunde lang werden dem Betrachter Schuldzuweisungen eingebrannt, so daß es fast erlösend wirkt, daß diese Gesellschaft einer gerechten Strafe entgegeneilt.“ Doch bei aller Kritik an der Schwarzweißmalerei möchte auch der 69jährige Ostpreuße nicht verhehlen, daß der Film Gutes bewirke - thematisiere er doch „Geschehnisse, über die seit über 60 Jahren das Leichentuch des Schweigens lag“. Ähnlich sieht es der 20jährige Jonas und rechnet der ARD trotz vielerlei Oberflächlichkeit und „leider etwas“ zu „stereotypen Charakteren“ hoch an, das Thema der Flucht überhaupt „aufgegriffen zu haben“. „Mit Aplomb sind die Ostgebiete, die Vertreibung und das Leid der Deutschen plötzlich in die öffentliche Diskussion - auch unter Jugendlichen - zurückgekehrt“ betont der Schüler und stimmt darin mit dem 26jährigen Christian überein. Auch er empfindet die „Gewichtung von Gut und Böse äußerst unpassend“, unterstreicht aber, daß er den Film „als „Lichtblick in der Finsternis der ‘Volkspädagogik’“ betrachtet und hofft, „daß die öffentliche Debatte noch einige Zeit um diese Diskussion bereichert wird“.
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