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Sowjets erobern erste größere Stadt des Reichs Die ostpreußische Stadt Tilsit wurde im Oktober 1944 zur Frontstadt. Die Rote Armee hatte das nördliche Memelufer erreicht und war noch einmal zum Stehen gebracht worden. Sie sah sich einer ausgebauten Abwehrstellung entlang der Memel gegenüber. Der einzige Übergang, die Königin-Luise-Brücke, war durch Pioniere des Panzergrenadier-Regiments 14 am 22. Oktober gesprengt worden. In Tilsit übernahm das Militär das Kommando. Die Zivilbevölkerung mußte die Stadt verlassen. In den Verteidigungsabschnitt zwischen dem Tilsiter Schloßberg und Kloken / Kuckerneese rückte die 551. Volksgrenadierdivision ein. Das Schicksal der Stadt lag nun in ihrer Hand. Die Memel und der Rußstrom stellten für die Angreifer ein ernstzunehmendes Hindernis dar. Selbst im Winter, als der Fluß zufror, war die 300 Meter breite und deckungslose Distanz mit ihrem ausgezeichneten Schußfeld schwer zu überwinden. Die Soldaten der 551. Volksgrenadierdivision waren in gut ausgebauten Stellungen auf den Angriff von Norden vorbereitet. Minensperren und Drahthindernisse, ausgedehnte Grabensysteme entlang der Uferdeiche, Bunker und MG-Stellungen, die teilweise in die Spickdämme hineingebaut waren – die Abwehrfront schien unüberwindlich. Am gegenüberliegenden Ufer lag die 115. sowjetische Schützendivision. Sie war zuvor aufgefrischt worden und beschränkte sich in den Monaten Oktober bis Januar auf gelegentliches Störfeuer und nächtliche Spähtruppunternehmen zur Aufklärung der deutschen Stellungen. Erst im Januar nahmen die Aktivitäten zu. Westlich von Tilsit, in der Gegend von Preußenhof, mußten mehrfach des Nachts russische Pioniere verjagt werden, die die Eisstärke der Memel ermittelten und das Übersetzen schwerer Waffen vorbereiten sollten. Doch ansonsten herrschte gespenstische Stille in der menschenleeren Geisterstadt. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Am 13. Januar begann die großangelegte Offensive der 3. Belorussischen Front. Der Hauptstoß zielte auf Schloßberg-Ebenrode. Das war von Tilsit 60 Kilometer entfernt und gab noch keinen Anlaß zur Besorgnis. Der Gegner auf der anderen Memelseite verhielt sich immer noch ruhig. Er unterstand einer anderen Heeresgruppe, der 1. Baltischen Front, und zeigte bisher keine Absicht zum Angriff. Währenddessen tobte im Raum Schloßberg mehrere Tage lang eine erbitterte Schlacht. Am fünften Tag, dem 17. Januar, gelang es dem 94. sowjetischen Schützenkorps, an der äußersten rechten Angriffsflanke, bei der 69. Infanteriedivision in die deutsche Front einzubrechen. Zwischen Wiesenbrück und Siebenlinden klaffte eine drei Kilometer breite Lücke, die nicht mehr geschlossen werden konnte und die sich als folgenschwer erweisen sollte. Armeegeneral Tschernjakowski, Oberbefehlshaber der 3. Belorussischen Front, erkannte die Chance. Er beorderte sein in Reserve liegendes 1. Panzerkorps unter Generalleutnant Butkow an den Einbruchsabschnitt. Sein Auftrag lautete, durch den aufgerissenen Korridor mit hohem Tempo in die Tiefe der gegnerischen Verteidigung vorzustoßen, Widerstand zu umgehen, Verwirrung im Hinterland zu stiften und aus der Bewegung heraus Tilsit in den Rücken zu fallen. In den ersten Morgenstunden des 18. Januar sammelte sich Butkows Panzerkorps im Konzentrierungsraum am Bärenfluß. Wenig später rollte als erste die 89. Panzerbrigade in den Durchbruchsabschnitt und stieß mit 40 Panzern zügig in Richtung Tilsit vor. Die auf die Insterstellung zurückgehenden Einheiten der 69. Infanteriedivision und auch der Divisionsgefechtstand, der gerade erst nach Gut Lindenthal zurückverlegt hatte, wurden überrollt. Generalmajor Rein konnte sich mit seinem Stab fluchtartig über die Inster nach Plauen retten. Ohne Rücksicht auf Flankensicherung preschten die Panzer mit dem roten Stern zur Inster vor und bildeten bei Nesten einen Brückenkopf. Das Eis der Inster wurde mit Behelfsmitteln übergangsfähig gemacht. Noch in der selben Nacht stießen die Sowjetpanzer bis Schillen und schickten sich an, Tilsit großräumig einzukesseln. Im deutschen Oberkommando des Heeres war man noch nicht beunruhigt. Der Tagesbericht meldete zu den Ereignissen des 18. Januar: „Der Feind stieß mit starken Panzergruppen nach Nordwesten bis an die Inster durch. Nach Überschreiten des Flusses gelang es dem Gegner, die Straße Breitenstein-Hohensalzburg zu gewinnen. Mit einer weiteren Panzergruppe drang er vor bis zur Memel-Inster-Stellung, wo er abgewiesen wurde. Gegenangriffe gegen diese beiden vorgeprellten Panzergruppen sind im Gange. Ein weiteres Feindvordringen nach Norden wurde verhindert. Durch Zurücknahme der Front auf die Memel-Inster-Eichwald-Stellung wird es voraussichtlich noch einmal gelingen, die heute geschlagene Frontlücke zu schließen und den Zusammenhang der Front zu wahren.“ In Tilsit fiel es schwer, diese optimistische Einschätzung zu teilen. Anschwellendes Geschützfeuer und nächtlicher Feuerschein markierten den Frontverlauf im Rücken der eigenen Stellungen. Zudem begannen die Russen am Vormittag des 19. Januar an einigen Stellen der Memel mit Aufklärungsvorstößen, um Brückenköpfe zu bilden, die deutschen Truppen in Abwehrkämpfe zu verwickeln und sie möglichst lange am Memelufer zu binden. Auch in Tilsit war es einer Schützeneinheit unter hohen Verlusten gelungen, den Fluß zu überwinden und sich am Südufer festzukrallen. Der Angriff wurde ohne Artillerievorbereitung überraschend vorgetragen. Er sollte auch von der Hauptstoßrichtung des bevorstehenden Sturms über die Memel ablenken. Die eigentliche Überraschung an diesem schwarzen Freitag sollte noch kommen. Das 54. Schützenkorps war den sich aus dem Trappener Forst absetzenden deutschen Einheiten dichtauf gefolgt. Es überwand die neue Verteidigungsstellung, noch ehe sie richtig bezogen war und trat zum Sturm auf Ragnit an. Um 17 Uhr war die Stadt von der 126. Schützendivision genommen. Oberst Tscherepanow, Kommandeur der 263. Schützendivision, erhielt den Befehl, ungeachtet der bereits zurückgelegten Marschleistung die Gunst der Stunde zu nutzen und ohne Pause auf Tilsit vorzustoßen. Seine Rotarmisten sollten die Deutschen unverhofft von hinten fassen und im Schutze der Dunkelheit in die Stadt einsickern. Die Vorausabteilung erreichte nach einem Gewaltmarsch über Girschunen die Birjohler Stadtrandsiedlung im Südosten Tilsits, wo sie auf nur schwache deutsche Infanteriesicherungen stieß. Die Posten, welche die sich nähernden Gestalten für versprengte eigene Soldaten hielten, wurden überrumpelt. Wenig später befand sich das Gebiet südlich des Mühlenteichs bis zur Neustädtischen Schule in russischer Hand. Aber auch ohne diese Überraschung war der deutschen Führung klar, daß Tilsit militärisch ausmanövriert war. Die Lage am späten nachmittag des 19. Januar war ernst. Unsicherheit machte sich breit, wozu auch aller Grund vorhanden war. Die 551. Volksgrenadierdivision hatte die Fühlung zum rechten Nachbaren verloren und mußte damit rechnen, abgeschnitten zu werden. Die 89. Panzerbrigade hatte nämlich die Reichsstraße 138 zwischen Kreuzingen und Tilsit erreicht und damit den wichtigsten Rückzugsweg blockiert. Drei motorisierte Gardedivisionen versuchten, Tilsit von Süden zu umfassen. Weitere Schützendivisionen drängten auf die Bahnlinie Tilsit–Insterburg vor. Tilsit drohte zur Mausefalle zu werden. Angesichts der Übermacht der Sowjets fiel der schwere Entschluß, Tilsit aufzugeben. Generalmajor Verhein, Kommandeur der 551. Volksgrenadierdivision, erteilte seinen Einheiten den Befehl, sich mit Einbruch der Dunkelheit vom Feind zu lösen. Eine Nachhut sollte die Stellung noch bis Mitternacht halten. Die Räumung der Stadt erfolgte in die Richtungen Heinrichswalde und Kreuzung Sandfelde. Zunächst verlief die Absetzbewegung in geordneten Bahnen, bis die deutschen Einheiten spät abends in das Flankenfeuer von Tscherepanows Vorausabteilung gerieten. Hinhaltende Rückzugsgefechte bestimmten die Situation. Sie wurde zusehends verworrener, als Artilleriefeuer von jenseits der Memel einsetzte. Die Russen nahmen die Gegend zwischen Kreuzkirche und Kallkappen unter Beschuß, in Unkenntnis der Tatsache, daß eigene Truppen bereits in der Stadt waren. Pulverdunst, Trümmerstaub und Brandschwaden legten sich über die Ausfallstraßen. Liegengebliebene Fahrzeuge, Pferdekadaver und herabhängende Stromleitungen machten auch den vorgehenden Rotarmisten zu schaffen. Die Verwirrung nutzend, gelang es den Volksgrenadieren, den Ausbruch aus Tilsit freizukämpfen. Tilsit war verloren. Nach Mitternacht flackerten nur auf dem Gelände des Verschiebebahnhofs die Kämpfe noch einmal auf. Zahlreiche Lokomotiven standen unter Dampf, als pausenlos feuernde Rotarmisten zwischen den Rangiergleisen auftauchten. Mehrere Transportzüge fielen in die Hand der Sowjets. In den frühen Morgenstunden des 20. Januar trat Ruhe ein. Die letzten Schüsse waren verhallt. Hier und da loderten Brände. Niemand kümmerte sich darum. Tilsit war seinem Schicksal überlassen. Es war die erste größere Stadt auf deutschem Reichsgebiet, die in die Hände Sowjets fiel. Radio Moskau gab den Fall Tilsits in einer Sondermeldung bekannt. Der 89. Panzerbrigade wurde der Ehrentitel „Tilsiter“ verliehen. Auf dem Roten Platz am Kreml wurde anläßlich der Einnahme von Tilsit ein Artilleriesalut von 20 Salven geschossen. Die Tilsiter erfuhren vom Verlust ihrer Vaterstadt am nächsten Tag aus dem Wehrmachtsbericht. Er meldete: „Zwischen Insterburg und Tilsit wechselten starke feindliche Angriffe mit unseren Gegenangriffen. Nach erbitterten Kämpfen konnte der Feind in Tilsit eindringen.“ Die Sowjets gaben die Stadt nicht wieder her. 1946 nahm man ihr ihren Namen.
Sie wurde von den Sowjets fortan Sowjetsk genannt. Der Name war Programm. Die
Stadt bekam ein fremdes Gewand. Die Denkmäler von Königin Luise, Max von
Schenkendorf und selbst das Elchstandbild sind nicht mehr an ihrem Platz. Am
Hohen Tor steht nun Lenin, an der Hohen Straße ein Rotarmist mit Siegerschwert
und auf dem Anger ein Panzermonument.
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