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Rationalität – Toleranz – Maß
Auszug aus dem Festvortrag von Prof. Dr. Harald Seubert über Preußens geistiges Erbe

Von Wilhelm von Humboldt, dem bedeutendsten Kultusminister, eigentlich: Direktor der Sektion Kultus und Unterricht im Ministerium des Innern, und großen Staatsdenker Preußens stammt das Wort: „Preußen ist mit keinem anderen Staat vergleichbar; es ist größer und will nicht bloß, sondern muß größer sein, als sein natürliches Gewicht mit sich bringt; und es muß also zu diesem natürlichen Gewicht etwas hinzukommen“.

Preußen ist, wie man weiß und aus dieser und ähnlichen Aussagen entnehmen kann, weniger ein Staat denn eine Idee.

Schier unglaublich ist die Leistung der staatlichen Genese Preußens zwischen dem großen Kurfürsten, Friedrich Wilhelm, und Friedrich dem Großen. Man denkt an das bekannte Wort: Dort, wo Friedrich den neuzeitlichen Staat etablierte, war 150 Jahre zuvor nur märkischer Sand gewesen; im Hintergrund aber der deutsche Orden seit Hermann von Salza, in seiner das abenländische Europa prägenden Kraft.

Die Bedeutung der Herrscherpersönlichkeiten scheint unabdingbar, wenn man den Aufstieg Preußens in so kurzer Zeit und unter, im europäischen Vergleich, derart einzigartigen Bedingungen erklären will. Der Große Kurfürst legte den Grund staatlicher Einheit, aus einem zerstreuten, durch den dreißigjährigen Krieg ausgebluteten Territorium. Der Aufbau modernen Beamtentums, des stehenden Heeres, ist ihm zu danken, Friedrich Wilhelm I. legte durch eiserne Strenge und Sparsamkeit den Grund für Preußens Aufstieg zum Faktor im Konzert der großen Mächte. Fontane münzte auf ihn, daß er das Fundament einer neuen Zeit geschaffen habe. Gerechtigkeit sei sein „rocher de bronze“ gewesen. Friedrich der Große hat es aus der Rückschau in seinen „Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburgs“ meisterhaft gesagt: Friedrich I, habe ein preußisches Athen, Friedrich Wilhelm I. hingegen ein preußisches Sparta geschaffen. Sein eigenes Verdienst mußte es daher sein, zwischen beidem die Balance herzustellen.

Auch Madame de Stael entging in ihrem für Jahrzehnte wo nicht Jahrhunderte den französischen Blick nach Deutschland prägenden Buch „De l’ Allemagne“ (1810) der Doppelcharakter und die Janusköpfigkeit Preußens nicht, Militärstaat war es und Kultur- und Rechtsstaat. Doch das eigentlich bleibende an Preußens Erbe besteht eben darin, daß das eine mit dem anderen balanciert und verbunden werden konnte. Wie sollte dies keine wichtige Lektion für eine Zukunft sein, in der es in einer zunehmend erschütterten, allenthalben bedrohten Weltlage darum geht, diese beiden Pole rechsstaatlich verbürgter Freiheit und Sicherheit, wenngleich unter veränderten Randbedingungen, erneut in eine tragfähige Balance zu bringen: Sicherheit und Freiheit zu verbinden, in klassischen Topoi der politischen Philosophie gesagt, die Balance zwischen

Hobbescher Einsicht in den Krieg aller gegen alle und Locke’schem freiheitlich liberalen Verfassungsstaat zuwege zu bringen. Eben hier erweist sich Preußen als tragfähig. Der Cambridge-Historiker Christopher Clark, der jüngst ein magistrales, mehr als 900 Seiten umfassendes Werk über Preußen vorgelegt hat, verweist auf Preußen angesichts der Aushöhlung offener Gesellschaften, vor allem aber auch angesichts des Neoliberalismus in England und Amerika, der Schrumpfung bürgerlicher Sicherheit und ihrer Institutionen und der Erosion von Verwaltung und Bildung. Sein Werk ist wie eine glanzvolle Bestätigung des Themas dieser Matinee: Preußen hat Zukunft!

Wahr ist es auch, daß die 200 Jahre preußischer Geschichte vom Großen Kurfürsten bis zu Kaiser Wilhelm II. große und tiefreichende historische Veränderungen und Verschiebungen zu verzeichnen haben. Und schon Hans Joachim Schoeps, der große jüdische Konservative, der wie nur wenige unmittelbar nach 1945 für die „Ehre Preußens“ eintrat, hat immer wieder darauf hingewiesen, daß sich danach sehr unterschiedliche Preußenbilder ausformten. Nichtsdestoweniger kommt es darauf an, die verbindenden Wesenszüge und Strukturzusammenhänge zu erkennen, die Preußen zu einem „ktema eis aei“, einem Besitz für immer, machen. Preußens Geschichte kennt die tiefe Krise, es kennt die Schwächeperioden nach der Regierungszeit Friedrichs des Großen, die Katastrophe der Niederlage und Besatzung, aus der die faszinierende Kräftebündelung der Reformepoche hervorgeht:

I. Preußens Idee: Rationalität und Humanität

Die Frage nach dem ktema eis aei führt unabweislich zur „Idee Preußens“. Diese Idee bewies ihre große Formkraft. Von Friedrich I., dem Sohn des Großen Kurfürsten, stammt nicht ohne Grund die Beschwörung des Grundsatzes „suum cuique“: Es gehört im Sinn dieses Wortes allerdings zu der Weisheit Preußens, daß aus dem einzelnen zwar alles herausgeholt wird, dessen er nur fähig ist, daß er in den Dienst genommen wird, dabei aber sich selbst nicht verleugnen muß. (…)

Literatur und Philosophie des 18. Jahrhunderts haben in Preußen ihr Zentrum: für Kant ist das Zeitalter der Aufklärung eins mit dem Zeitalter Friedrichs des Großen. Doch, was nicht weniger faszinierend ist und den Satz, wonach jeder nach seiner Facon selig werden solle, glänzend bestätigt: Preußen blieb das Zentrum unterschiedlicher geistesgeschichtlicher Strömungen, von Pietismus und Frühaufklärung über den Klassizismus bis hin zur Romantik. (…)

II. Toleranz und Staatsraison

Preußische Grundlektion ist es, daß der Staat der Idee bedarf. Nicht das geringste Erbe Friedrichs des Großen, des Philosophen von Sanssouci, liegt eben in der tief verwurzelten Toleranzidee, die er in der Fülle seiner staatstheoretischen Schriften entfaltete. Indifferentismus gegenüber der Religion des Volkes kann Friedrich nicht einfach unterstellt werden. Sein eigentliches Motiv ist ein tiefer Blick für die einander verwandten Moralen der Weltreligionen, wie er ähnlich eindrucksvoll in Lessings „Ringparabel“ entgegentritt. Dieser Konvergenz gegenüber wiegen dogmatische Kontroversen wenig, schon gar im öffentlichen, staatlichen Gebrauch. Denn, wie Friedrich der Große in dem Fürstenspiegel für den Herzog Karl Eugen von Württemberg 1744 schrieb: „die geistliche Religion überlassen Sie dem höchsten Wesen. Auf diesem Felde sind wir alle blind, durch unterschiedliches Wähnen in die Irre geraten“. Friedrich hatte aber erkannt, daß der Religionsfriede unerläßlich ist für die Beförderung allgemeiner Wohlfahrt. Glaubenseifer droht zu zerstören, bis hin zu Destruktion und Entvölkerung, wofür der dreißigjährige Krieg drastischen Anschauungsunterricht geboten hatte. Moses Mendelssohn konnte deshalb mit Emphase bemerken, und dies, obgleich er seine persönlichen Schwierigkeiten mit dem preußischen Regiment und seine Reserven hatte, daß er sich glücklich schätze, „in einem Staate zu leben, in welchem einer der weisesten Regenten, die je Menschen beherrscht haben, Künste und Wissenschaften blühend und vernünftige Freiheit zu denken so allgemein gemacht, daß sich seine Wirkung bis auf den geringsten Einwohner seiner Staaten erstreckt“. (…)

III. Preußischer Geist: größte mögliche Diversität in Einheit (Leibniz)

Im Blick auf die geistes- und kulturgeschichtliche Bedeutung Preußens ist eines signifikant: auf weite und besonders glanzvolle Strecken ist es kaum möglich, zwischen dem deutschen Geist und seiner Überlieferung und preußischem Geist zu unterscheiden. Die Versöhnung und Verbindung des Individuellen und des Allgemeinen spielt in den großen Gedankensystemen von Kant, Fichte, Hegel, Schelling oder Schleiermacher eine entscheidende Rolle, in einem Denken, das Idee und Wirklichkeit, aber auch Subjektivität und die Welt des Nicht-Ich miteinander zu versöhnen suchte, und dabei nicht nur auf die Sphären des absoluten Geistes, auf Kunst und insbesondere auf Religion Bezug nahm, sondern immer auch und essentiell auf die Institutionen, insbesondere den Staat. Man kann sagen, daß preußische Rechtswirklichkeiten dem Begriff ein Vorbild gaben. (…)

IV. Die Humboldtsche Universität

Die Zeit des Reformwerks 1806/07 gründete Preußen gleichsam neu: Scharnhorsts Heeresreform, das Avancement von Bürgerlichen zu Offiziersstellen unter Boyen machen diese Signatur ebenso aus, wie die Errichtung der Universität unter den Linden im Jahr 1809. Nach den Worten des Königs sollte der Staat „durch geistige Kräfte ersetzen“, was er an materiellen verloren hatte. Diese Kompensation aus der Not heraus führt eigentlich erst zu dem vollständigen Bild Preußens: Hegel hat darin in Umrissen den Weg vom Untertan zum Staatsbürger gesehen, mehr noch: vom Befehlsmechanismus, zu einem inneren Zusammenhang von Gesinnungen bis hin zu dem, gewiß nur in Annäherungen erreichbaren, Ideal einer Synthese von Geist und Macht. Vorbereitet war diese Blüte durch die Gründung der Halleschen Universität 1694, die in ihrer Amalgamierung von Pietismus und Aufklärung die bedeutendste Alma mater Deutschlands werden sollte, durch die Akademie der Künste 1696 und die Akademie der Wissenschaften 1700, die auf Leibniz zurückgeht. (…)

V. Gedenken, Gegenwart, Zukunft

Es liegt eine Asymmetrie darin, ja ein unseliger Selbstwiderspruch daß heute immer wieder die Aufklärung als (wie man sagt: letztes) Fundament der modernen Welt beschworen wird, wohingegen von Preußen nicht die Rede sein soll. Wie soll das gehen? Der Rationalstaat Preußen ist indessen Verkörperung bester Traditionen der Aufklärung. (…)

Lassen Sie mich schließen mit einer bewegenden Aussage aus dem Testament von Friedrich dem Großen, die den Kern preußischen Geistes vor Augen führt – und die damit ein Erbe Preußens formuliert, nicht nur für unsere Tage, sondern weit darüber hinaus: „Unser Leben ist ein schneller Lauf vom Augenblick unserer Geburt bis zu dem unseres Todes. Während dieser kurzen Spanne ist der Mensch dazu bestimmt, für das Wohl der Gesellschaft zu arbeiten, deren Glied er ist“.

Quelle:
Preußische Allgemeine Zeitung / Das Ostpreußenblatt Ausgabe 09/07 vom 03.03.2007


 

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