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„So etwas fasse ich
überhaupt nicht an!“ Sommersemester 2008. In der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel liest der Direktor am Historischen Seminar, Rudolf Jaworski, über „Polen im 20. Jahrhundert“. Der große Hörsaal ist nur mäßig besetzt: vielleicht ein Dutzend ältere Gasthörer und kaum mehr Studenten folgen der Vorlesung. Grundsätzlich Abweichendes von der in der Bundesrepublik üblichen polonophilen Geschichtsdeutung bzw. dem gleichlautenden, jenseits von Oder und Neiße immer noch nationalchauvinistische Züge offenbarenden polnischen Verständnis erfährt man allerdings nicht vom für osteuropäische Geschichte zuständigen Lehrstuhlinhaber, nichts etwa über die ständige Bedrohung, der sich das Deutschland der Weimarer Republik durch Polen ausgesetzt sah, nichts über die teilweise brutalen Methoden, mit denen Polen vor 1939 die über dreißig Prozent der Bevölkerung ausmachenden nationalen Minderheiten (nach Jaworskis eigener Angabe „Arbeits- und Interessenschwerpunkt“) in seinen Grenzen entweder polonisieren oder vertreiben wollte, nichts über Polens Anteil am Ausbruch des Krieges. In der Darstellung Jaworskis erfüllte der polnische Staat stets nur die Opferrolle gegenüber den aggressiven Nachbarn. Am Ende des Zweiten Weltkrieges wies Polen über sechs Millionen Tote auf, wie der Professor die amtliche von der polnischen Regierung veröffentlichte Verlustzahl weitergab. An dieser Stelle meldete sich einer der „Altkommilitonen“. Er erinnert an einen älteren wissenschaftlichen Beitrag, der die zweifelhafte Ermittlung dieser Verlustzahlen zum Inhalt hatte. So habe Polen nämlich auch die Verluste der Bevölkerung in den damals deutschen Ostprovinzen wie Allenstein, Köslin, Stettin, Breslau, Oppeln und Gleiwitz mit hinzugezählt, die wohl kaum als polnische Opfer zählen dürften. Jaworski zeigte sich überrascht; davon habe er noch nie gehört. Der Frager erbot sich, den von ihm zitierten Aufsatz zu beschaffen. Schon bei der nächsten Vorlesung präsentierte der Student eine Fotokopie des 18seitigen Aufsatzes „Die polnischen Kriegsverluste 1939-1945“ aus der Zeitschrift für Politik, dem renommierten Organ der Hochschule für Politik München aus dem März 1977. So nahm das Mitglied der deutsch-polnischen Schulbuchkommission, das sich gern der Freundschaft seiner polnischen Fachkollegen rühmt, den ihm unbekannten Aufsatz widerwillig entgegen, blickte rasch darauf und warf ihn demonstrativ mit einer großen Geste auf das Pult. Jaworski, der bislang durch Temperamentsausbrüche kaum aufgefallen war, brauste auf und rief dazu laut: „Der ist von Schickel! So was lese ich nicht!“ Allgemeines Erstaunen breitete sich aus. In die fragenden Gesichter der Studenten entgegnete der 64jährige Dozent hektisch, er kenne diesen Schickel. Das sei ein „kalter Krieger“, der schon in den fünfziger Jahren „gehetzt“ habe. Den Einwand eines Studenten, daß er doch einen Aufsatz, den er zugegebenermaßen nicht kenne, auch nicht verurteilen könne, beantwortet Jaworski mit aller Beharrlichkeit: „Jawohl! So etwas fasse ich überhaupt nicht an!“ In der Tat hat Alfred Schickel, Gründer und Betreiber der unabhängigen „Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt“ (ZFI), seit vielen Jahren durch eigene Archivstudien immer wieder Unruhe in die staatlich etablierte Historikerzunft gebracht (JF 26/08), indem er seinen Fokus auf geschichtspolitisch unbequeme Fragestellungen lenkte. So machte er - der als angeblicher „Kalter Krieger in den fünfziger Jahren“ noch Schüler auf der Jesuitenschule war - beispielsweise auf sich aufmerksam, als er im Rahmen seiner Forschungen zum deutsch-polnischen Verhältnis im Zweiten Weltkrieg nachwies, daß in jedem der insgesamt zwölf Offizierslager für polnische Kriegsgefangene in Deutschland nicht nur jeweils eine Bibliothek mit einem Bücherbestand von bis zu 25.000 Bänden vorhanden war, sondern daß in den meisten Offizierslager sogar „Lageruniversitäten“ funktionierten. Polnische Professoren hielten Vorlesungen und veranstalteten Seminare zu den verschiedensten Themen. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes versorgte die Lageruniversitäten mit Lehr- und Lernmitteln. Als Schickel diese Forschungsergebnisse in den siebziger Jahren veröffentlichte, wurden sie von vielen der großen deutschen Zeitungen aufgegriffen und fanden nicht zuletzt darum Beachtung, weil die Vorgänge in bemerkenswertem Gegensatz standen zu der bis dahin in der offiziellen polnischen Diktion behaupteten Verantwortung der Deutschen für die Massaker an polnischen Offizieren, unter anderem in Katyn. In seinem Aufsatz in der Zeitschrift für Politik analysierte Schickel detailliert die amtlichen polnischen Verlautbarungen - übrigens die gleichen „Historiker“, die auch die selbst in der polnischen Bevölkerung als Lüge offenbarten Katyn-Thesen verbreiteten - über die angeblichen polnischen Verluste. Diese offiziellen Zahlen waren von polnischer Seite dadurch ermittelt worden, daß man die Einwohnerzahlen polnischer Provinzen von 1931 (letzte polnische Volkszählung vor dem Kriege) und 1946 verglich. Die Differenz wurde als die Zahl der polnischen Kriegsverluste gewertet. Erstaunlicherweise waren aber in dieser Tabelle nicht nur die Zahlen der traditionell polnischen Provinzen wie etwa Warszawa (Warschau), Łódź (Litzmannstadt), Kielce, oder Białystok genannt, sondern auch die Zahlen von Olsztyn (Allenstein), Gdańsk (Danzig), Koszalin (Köslin), Szczecin (Stettin), Zielona Góra (Grünberg), Wrocław (Breslau), Opole (Oppeln) und Katowice (Kattowitz). Es fällt schwer, ein solches Vorgehen nicht als zynisch zu bezeichnen, wenn man die toten und vertriebenen Deutschen in den damals deutschen Gebieten als polnische Verluste reklamiert. 1946 lebten in Allenstein etwa 588.000 Menschen weniger als vor dem Krieg, in Stettin betrug die Differenz 633.000, in Breslau 835.000 usw. Addiert man diese tatsächlich deutschen Verluste und zieht sie von der amtlichen Gesamtzahl der postulierten polnischen Opferzahl ab, dann bleiben etwas mehr als 2,6 Millionen Tote übrig. Selbst wenn man davon die vielen im Westen verbliebenen polnischen „displaced persons“ (DPs) abziehen würde, die sich nach 1945 als befreite Kriegsgefangene oder als Kämpfer der alliierten polnischen Westarmee für eine Auswanderung nach England oder Übersee entschieden - es bliebe immer noch eine schrecklich hohe Opferzahl.
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