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Teil 3

 


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Der lange Anlauf zum Zweiten Weltkrieg
Die Annexion des Memellandes im Januar 1923 - Teil 3
von Brigadegeneral a. D. Gerd Schultze-Rhonhof

Die Reaktionen aus Berlin und Kaunas auf die prodeutschen Landtagswahlen im Memelland sind so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm. Der „Stellvertreter des Führers“ Rudolf Heß erläßt am 2. Februar 1939 an die deutschen Dienststellen im Memelgebiet und im Deutschen Reich eine streng geheime Weisung, „daß jedes Hinarbeiten deutscher Parteistellen nach dem Memelgebiet zu unterbleiben habe, daß vor der Hand jeder Konflikt mit der litauischen Regierung zu vermeiden sei und daß die memeldeutsche Führung für die Durchführung dieser Weisung verantwortlich gemacht werde”.

Die deutsche Reichsregierung übt sich also in Zurückhaltung. Die litauische Regierung läßt die Entwicklung im Memelland zunächst frei laufen, ehe sie im Februar wieder auf die Bremse tritt. Die Zweisprachigkeit wird nun auch bei den litauischen Behörden im Memelland zur Pflicht. Die Unterrichtssprache richtet sich fortan nach den Elternwünschen.

Die litauische Staatssicherheitspolizei muß das Gebiet verlassen, auch wenn sie weiter als Bahn- und Grenzpolizei verkleidet die deutschen Memelländer überwacht. In den Schulen werden die litauischen Staatswappen entfernt und mit ihnen auch die Bilder von Staatspräsident Smetona. Doch trotz all dieser Konzessionen drängt die Stimmung der Bevölkerung immer heftiger auf den Anschluß an das deutsche Mutterland. Im litauisch orientierten Teil der memelländischen Bevölkerung kommt es bald zu Gegenreaktionen. Prügeleien zwischen Jugendlichen beider Nationalitäten und eingeworfene Fensterscheiben zeigen, daß die Temperaturen auf beiden Seiten steigen. Am 12. März stören 600 Litauer, davon 450 mit Gewehren, eine deutsche Feierstunde an einem Gefallenenehrenmal. Die Feier und die Störung werden von der jeweils anderen Seite als schwere Provokation betrachtet.

Am 15. März 1939 marschiert die Wehrmacht in „Böhmen und Mähren“ ein. Die Deutsch-Memelländer nehmen das für sich als gutes Omen und hoffen als nächstes auf einen Einmarsch deutscher Truppen in das Memelland. Der im Dezember neu gewählte Landtag ist vom litauischen Gouverneur inzwischen noch immer nicht zu seiner ersten Sitzung einberufen worden. An diesem 15. März hält der Vertreter der deutschen Parteienliste Dr. Neumann vor dem Landtagsgebäude eine öffentliche Rede. Er beklagt die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Memelländer. Er prangert den wirtschaftlichen Niedergang des Gebiets unter litauischer Herrschaft an, und er verlangt vom Gouverneur, den Landtag bis zum 25. März zu seiner ersten Sitzung einzuberufen. Zwei Tage später gibt Dr. Neumann Vertretern der Agentur Reuter und des Daily Telegraph ein Interview, in dem er erstmals öffentlich erklärt, die deutsche Bevölkerung des Memellands erwarte den Anschluß an das Deutsche Reich und hoffe, die litauische Regierung werde das Gebiet freigeben. Er fügt hinzu, daß die Memelländer keine Feindschaft gegen die litauische Bevölkerung empfinden würden, auch nicht gegen die litauischen Soldaten. - Damit ist die Katze aus dem Sack.

Den Neumann-Erklärungen folgen litauische Anfragen in Paris und London. Die französische Regierung stellt fest, daß sie keine Garantie für Litauen gegeben habe. Die englische antwortet ausweichend sibyllinisch. Die Litauer, welche die Memelkonvention bisher oft nicht beachtet haben, finden nun unter deren Dach auch keinen Schutz. Am 20. März, nachdem Litauen in Paris und London keinen Rückhalt findet, reist Außenminister UrbŠsys nach Berlin zu Ribbentrop. Der deutsche Minister, der sich bisher in Bezug auf Memel stets öffentlich zurückgehalten hat, nutzt nun die ausweglose Lage des litauischen Kollegen. Er weiß, daß Litauen das Memelland einst ohne Recht und mit Gewalt genommen hat, daß es die Memelkonvention die längste Zeit nicht eingehalten hat, daß die Memelländer sich mit übergroßer Mehrheit für das Deutsche Reich entschieden haben und daß Litauen nun bei den Siegermächten keinen Rückhalt findet. Von Ribbentrop beginnt das Gespräch mit UrbŠsys mit der Feststellung, daß die Memelländer zurück zu Deutschland wollen. Dann stellt er UrbŠsys vor die Wahl. „Es gibt zwei Möglichkeiten“, so von Ribbentrop, „eine freundschaftliche Regelung mit nachfolgendem freundschaftlichem Verhältnis zwischen den beiden Ländern. Hierbei würden wir wirtschaftlich großzügig sein und die Freihafenfrage zu Gunsten Litauens lösen. Anderenfalls ist nicht zu sehen, wo die Entwicklung endet. Kommt es im Memelgebiet zu Aufständen und Schießereien, wird Deutschland nicht ruhig zusehen. Der Führer wird blitzartig handeln und die Situation wird dann von den Militärs bestimmt.“

Von Ribbentrop beendet das Gespräch mit dem Angebot eines Vertrages, der beides regeln soll, die Rückkehr Memels und den Freihafen für Litauen. UrbŠsys erbittet Bedenkzeit von ein paar Tagen, doch von Ribbentrop setzt nach und rät, „allerschleunigst einen Bevollmächtigten zum Abschluß des Vertrags zu entsenden“. Der litauische Minister kehrt noch am selben Tag zurück nach Kaunas.

Am Folgetag berät das litauische Kabinett ab 14 Uhr das deutsche Angebot, das ja offensichtlich keine andere Wahl mehr läßt. Um 19 Uhr fällt der Entschluß, das Memelland zurückzugeben. Dann wird Staatspräsident Smetona von der Entscheidung unterrichtet. Um 0.20 Uhr informiert das Presseamt die Medien. Am Tag danach, dem 22. März 1939, schließen beide Länder den von Deutschland angebotenen Vertrag, der das Memelland zurück ins Reich bringt und Litauen einen Freihafen in Memel und gewisse Rechte garantiert. Fast zeitgleich gehen Noten der litauischen Regierung an die in London, Rom, Paris und Tokio, die nach Artikel 15 der Memelkonvention als Signatarmächte dieser Konvention „der Übertragung der Souveränitätsrechte über das Memelgebiet zustimmen“ müssen. Die angeschriebenen Mächte bekunden, daß sie nichts gegen die Rückübertragung des Memellands an Deutschland unternehmen werden. So wird das Memelgebiet am 22. März 1939 völkerrechtlich wieder deutsch.

Schon in der Nacht zum 23. März beginnt das litauische Militär, vertragsgemäß aus Memel abzurücken. In den frühen Morgenstunden marschieren dafür drei nahe stationierte deutsche Heeresbataillone von Tilsit kommend ein, und ein Dutzend Schiffe der Kriegsmarine legt im Memeler Hafen an. Die ganze Übergabe ist kein kriegerisches Unternehmen.

Der Anschluß des Memellandes entspricht dem Willen der großen Mehrheit der betroffenen Bevölkerung, und er folgt einem völkerrechtlich gültigen Vertrag. Man kann gewiß nicht sagen, daß der Verzicht der Litauer ein Akt des freien Willens ist. Er ist wohl mehr ein Akt der Einsicht, mit der man zurückgibt, was man nicht länger halten kann. Am 15. Mai 1939 erkennt die britische Regierung die Rückkehr des Memellandes in einer Note an, in der sie schreibt: „Ihrer Majestät Botschaft … hat die Ehre, das [deutsche] Außenministerium im Auftrag des Außenministeriums Ihrer Majestät davon in Kenntnis zu setzen, daß Ihrer Majestät Regierung des Vereinigten Königsreichs entschieden hat, die deutsche Vereinigung mit Memel de jure anzuerkennen. …”

Diese de-jure-Anerkennung ist insofern bemerkenswert, als sie in England und bei den anderen Erste-Weltkrieg-Siegermächten bald danach vergessen ist. Auf der Siegerkonferenz von Potsdam 1945 legen der britische Premier Churchill und US-Präsident Truman gemeinsam fest, was nach ihrer Lesart „Deutschland“ ist. Für sie ist es das Deutschland in den Grenzen von 1937 ohne Memel. Auch das Internationale Militärtribunal von Nürnberg erklärt die Heimkehr Memels in ihrem Urteil 1946 zu einer von sechs Verletzungen des Versailler Vertrags. Dies Urteil übergeht, daß die Regierungen Englands und Frankreichs der Rückgabe 1939 auf litauisches Befragen nicht widersprochen und den Artikel 99 des Versailler Vertrags damit selber aufge- hoben haben. Es übergeht die „de-jure-Anerkennung“ der britischen Regierung, mit der die Briten 1939 sagen, daß ihre Anerkennung „von Rechts wegen“ geschieht und nicht etwa aufgrund der geschaffenen Fakten oder infolge von Gewalt.

Die Mächte von Versailles haben den Streit der Litauer und der Deutschen um Memel 1920 angelegt. Wenn dieses keine böse Absicht war, ist es zumindest eine Unsinnstat gewesen. Ein Stück-chen Land und die Bevölkerung vom Mutterland zu trennen, ohne zu wissen, wem das alles letzten Endes zugesprochen werden soll, ist ein zerstörerischer Akt ohne Sinn und Weisheit. Die Erste-Weltkrieg-Sieger, die stets vorgegeben haben, sich für Demokratie, Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Völker eingesetzt zu haben, haben sich im Memelland kein einziges Mal um Recht und Freiheit der betroffenen Bevölkerung geschert. Der Schuldanteil der Litauer an dem Streit ist nicht geringer. Sie haben das Gebiet 1923 in einem kriegerischen Akt erobert. In den 15 Jahren ihrer Herrschaft haben sie die Rechtsgrundlage für das Zusammenleben der Memeldeutschen und der Kleinlitauer so oft unterlaufen und gebrochen, daß das seit jeher friedliche Verhältnis beider Gruppen schnell vergiftet worden ist. Litauen ist auch nicht so vital und attraktiv gewesen, daß es die Chance hätte haben können, den zwangseingebürgerten Deutschen als Vielvölkerstaat ein neues Heimatland zu werden. Der dritte Sünder ist der Völkerbund, der als Friedenswächter über das Memelland von Anfang an versagt hat.

Die Heimkehr des Memellandes innerhalb nur einer Woche von der ersten öffentlichen Forderung des Dr. Neumann bis zum Abschluß des Vertrags und die schnelle Anerkennung durch die Siegermächte sind ein weiterer Erfolg für Adolf Hitler; der letzte in einer langen Kette von Erfolgen. Ohne die Sieger von 1918 hätte es keine Rückkehr deutscher Truppen in die Rheinlandgarnisonen geben müssen, hätten das Saarland, die Sudetengebiete und das Memelland nicht wieder angeschlossen werden müssen und hätte es kein Österreich geben müssen, das gegen den Willen von Volk und Parlament zur Eigenstaatlichkeit gezwungen worden ist. Das alles hätten die Sieger in Versailles und Saint-Germain ohne einen Hitler regeln können, wenn sie in Zukunft Frieden mit den Deutschen hätten haben wollen.

Nach der Kette von Erfolgen nimmt es nicht Wunder, daß Hitler erstens nun versucht, die deutsche Stadt Danzig an Deutschland anzuschließen, und daß er dabei zweitens die Erste-Weltkrieg-Sieger nicht mehr richtig einschätzt.

Neben allen Revisionen, die sich Hitler von der Saar bis an die Memel auf die Haben-Seite schreiben kann, bleiben nun nur noch zwei Fragen offen: die nach der Rückkehr Danzigs und die nach der Rückgabe der früheren deutschen Kolonien durch die Siegermächte.


 
Vertragsgemäßer Einmarsch des Marine-Landungskorps in Memel: „Dieses Land bleibt ewig deutsch“, ist auf dem Plakat rechts zu lesen. Das früher zu Ostpreußen gehörende Territorium war nach dem Ersten Weltkrieg gemäß dem Versailler Vertrag von französischen Truppen besetzt worden. 1923 annektierte Litauen das Gebiet, in dem von 1926 an der Ausnahmezustand herrschte. Am 23. März 1939 marschierten Truppen des Deutschen Reiches im Memelland ein. Adolf Hitler erließ im Einvernehmen mit litauischen Regierungsvertretern an Bord des Panzerschiffes „Deutschland“ ein Gesetz über die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich. Foto: dpa
 

Quelle:
Preußische Allgemeine Zeitung / Das Ostpreußenblatt, Folge 29, 19.7.2003. Seite 7


 

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