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Denkverbote gebrochen Die deutsche Zeitgeschichtsschreibung hat „die Erinnerung an die Hitlerzeit kaum in die Totalität der Weltkriegsepoche hinein ausgeweitet“ (Helmut Fleischer). Sie hat auf der zeitgeschichtlichen Bühne zwar die nationalsozialistischen Täter hell ausgeleuchtet, die anderen Akteure, von Stalin und der Sowjetunion bis zu den Angelsachsen - dagegen gern in wohltätigem Dunkel belassen. Vollends eine einseitig „antifaschistische“ Perspektive hat zu einem auf Hitler und „die Deutschen“ konzentrierten „Tunnelblick“ geführt, mit einer entsprechenden Schuldzuweisung an diese. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts wird dann vor allem geschichtstheologisch unter dem Aspekt von „Schuld und Sühne“ betrachtet, anstatt geschichtswissenschaftlich seriös das ganze historisch-politische Netzwerk von Ursachen und Wirkungen, der Vorbedingungen, Zusammenhänge und Wechselwirkungen zu untersuchen. So fragt auch der Verfasser des vorliegenden Buches, der ehemalige Bundeswehrgeneral Gerd Schultze-Rhonhof, ob es allein die deutsche Vätergeneration war, die „vom Teufel geritten nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges einen neuen Krieg vorbereitet und begonnen hat“, oder ob dieser Krieg und seine Katastrophe im Kontext des damaligen Weltgeschehens nicht „viele Väter“ hatte, daß es aber den allein auf die Deutschen gerichteten „Tunnelblick“ zu überwinden gelte und den internationalen Kontext, der bis heute in weiten Teilen der Wissenschaft und bis hinein in die gängigen Schulbücher vielfach ausgeblendet werde, in seinem ganzen Umfang auszuleuchten. Gewiß: Manches ist, wenigstens unter Fachleuten, durchaus unbestritten: der übersteigerte Nationalismus und Imperialismus aller europäischen Mächte, insbesondere der Unfriedensvertrag, das Diktat von Versailles, von dem selbst seine Väter, etwa der britische Premierminister Lloyd George und der französische Marschall Foch, schon zum Zeitpunkt seines Abschlusses befürchteten, daß es zur Quelle eines nächsten Krieges werden müsse. Insbesondere die von den Franzosen geschaffenen neuen Vielvölkerstaaten an der deutschen Ostgrenze, vor allem Polen und die Tschechoslowakei, bleiben mit ihren zahlreichen nationalen Minderheiten und deren unvernünftiger Unterdrückung labile Gebilde und gefährliche Unruheherde, die der späteren radikalen Revisionspolitik Hitlers geradezu „Steilvorlagen“ boten. Diesen Entwicklungen detailliert nachzugehen, verdient besondere Würdigung. Im Blick auf das sogenannte „Hoßbachprotokoll“ vom 5. November 1937, das bekanntlich von der Anklage im Nürnberger Prozeß als eine Art Kronbeweis für die Planung eines Angriffskrieges durch die politische und militärische Führung des Dritten Reiches bewertet wurde, gelingt dem Autor der Nachweis, daß sich die in Nürnberg vorgelegte Version auf Manipulationen, sprich Fälschungen, stützte. Auch die unmittelbare Vorgeschichte des 1. September 1939, der seit dem Sommer 1939 eskalierende deutsch-polnische Konflikt, wird sehr differenzierend dargestellt. Der Verfasser verschweigt nicht, daß Hitler durch seinen Gewaltstreich gegen Prag im März 1939 unter Bruch des Münchner Abkommens vom September 1939 bei den Westmächten bereits jeden Kredit verspielt hatte, so daß der Widerstand der Polen wie der Westmächte gegen Hitlers neue Forderungen, so maßvoll sie sich auch ausnehmen mochten (lediglich Rückkehr Danzigs zum Reich und exterritoriale Bahn- und Straßenverbindung mit Ostpreußen durch den polnischen Korridor) verständlich war. Hier verschwimmt etwas die Tatsache, daß Hitlers rabiater Ungeduld in der Abwägung der verschiedenen Verantwortungen für den 1. September 1939 eben doch das entscheidende Gewicht zukam, aus dem die Sieger dann leicht die „Alleinschuld“ des Diktators und „der Deutschen“ gleich mit konstruieren konnten. Das ändert indes nichts daran, daß diesem Buch das Verdienst zukommt, festgezurrten einseitig „volkspädagogischen“ und antifaschistischen“ Urteilen mit ihrem beanspruchten Ewigkeitswert gegenüber die wissenschaftlich legitime und notwendige Pflicht zur steten überprüfenden „Revision“ anzumahnen und auszuüben. Deshalb kann es nicht zuletzt der nachkommenden Generation und ihren Lehrern empfohlen werden in der Auseinandersetzung mit Denkverboten und Deutungsmonopolen.
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