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Kieler Originale „ Na, dann kommen Sie mal rein, mein Goldchen“, sagt Gerda Kinski lachend und hält ihre Wohnungstür weit offen. „Wat woll’n Se denn wissen?“ Eine Freundin der 92-Jährigen hatte unserer Zeitung den Tipp gegeben, über die umtriebige Kieler Seniorin zu berichten. Gerda Kinski hat viel zu erzählen.In der rund 55 Quadratmeter großen Wohnung in der Fichtestraße öffnet sich das pralle Leben. Überall hängen selbstgemalte Aquarelle, Fotos, Erinnerungen. Und Gerda Kinski sprudelt nur so. Keine Minute bleibt sie in ihrem Sessel sitzen. Immer wieder steht sie mit ihrem Stock auf, holt einen selbst verfassten Text für die Seniorenzeitschrift „Alternative“ hervor, zeigt ein Foto von sich und Günter Grass („wir stammen beide aus Danzig“) oder legt mal schnell eine CD ein. „Die habe ich mit einer befreundeten Japanerin, die Klavierlehrerin ist, aufgenommen. Ich kann zwei Töne über dem hohen C singen.“ Hell perlen Schubert- und Schumann-Lieder aus den Boxen. Wunderschön. 15 Jahre lang hat sie im philharmonischen Chor gesungen, jetzt im S-Chor an der Kieler Oper. Auch schauspielerische Ambitionen hatte sie einst. „Bei meiner Aufnahmeprüfung fürs Schauspiel hat sich der Kieler Schauspieler Dieter Borsche über meine Darstellung köstlich amüsiert“, sagt sie und ihre Augen funkeln vor Freude. „Ich brach nämlich mit dem Sofa zusammen.“ Geklappt hat es damals nicht mit ihren Theaterträumen, aber später fand sie als Unterhalterin beim Danziger Heimatbund oder der Awo eine Bühne. „Ja, ich wäre gerne Schauspielerin oder Opernsängerin geworden“, sagt sie. „Aber heute weiß ich, dass ich das nervlich nicht durchgestanden hätte.“ Im öffentlichen Dienst im Versorgungsamt sei sie deshalb sehr zufrieden gewesen. Vorsichtig kramt sie mehrere handgeschriebene Zettel aus einem Papierstapel hervor. „Ich bin ja auch so was wie eine Journalistin. Hier hab’ ich mich schon mal selbst interviewt“, sagt sie grinsend. Normalerweise handeln ihre selbstverfassten Texte aber von ihren Mitmenschen und lustigen Begebenheiten, aber auch von Missständen und Missverständnissen. Oft dichtet sie auch. Was ihr diebischen Spaß bringt. Auch wenn sie erzählt. Sie liebt es, ihre Freundinnen zum Lachen zu bringen und mit ihnen ein „Bierchen zischen“ zu gehen oder wenn der Schnaps aus ihrer Heimat fließt, das berühmte „Danziger Goldwasser“. Sie hat tausend Ideen, was ältere Menschen tun könnten, „außer Pillen zu schlucken“. So schrieb sie an den NDR und bot an, im Radio „Döntjes, Geschichten, Gedichte in danziger und ostpreußischer Mundart“ vortragen zu dürfen. „Dazwischen hätte ich Mundharmonika spielen und auch was vorsingen können.“ Eine Antwort habe sie aber leider nie bekommen. „ Soll ich uns mal eben ein paar Pellkartoffeln machen?“, fragt sie plötzlich. Aber die Zeit rennt. Als der Fotograf ein Foto machen will, lobt er ihre schönen Zähne und sie muss lachen. „Ja, meine Zähne sind wie Sterne, zur Nacht kommen sie raus.“ Geheiratet hat Gerda Kinski nie. „Das hat sich nicht ergeben. Und nach dem Krieg gab es ja auch kaum Männer. Mein erster Freund, mein Verlobter, mein Vater – alle sind gefallen.“ Die Stadt Kiel liebt sie. Nach der Flucht 1945 mit Mutter Anna und Schwester Inge waren die drei Frauen erst in Dänemark interniert und bauten sich dann zwei Jahre später in der Landeshauptstadt eine neue Heimat auf. Früher lebte sie ein Haus weiter. Vor 15 Jahren zog sie dann vom vierten in den zweiten Stock in die Fichtestraße. „Ich liebe es, hier am Fenster zu stehen und die Menschen zu beobachten oder den Mond zu bewundern. Aber irgendwann werd’ ich die Treppen nicht mehr schaffen“, sagt sie. 32 Stufen überwindet sie jeden Tag, denn mit dem Rollator zieht es sie an die frische Luft. Im Seniorenheim steht sie auf der Warteliste. „Aber eigentlich will ich hier gar nicht raus.“„ Irgendwie hab’ ich alle überlebt“, sagt Gerda Kinski. „Vor einem Jahr traf ich mal eine Kollegin auf dem Markt, die sagte nur: Mensch, Frau Kinski, Sie leben immer noch. Wie lange wollen Sie denn noch leben?’“ Kichernd fügt sie hinzu: „Darauf antwortete ich nur: ,Mit Ihrer gütigen Erlaubnis noch eine Weile’.“ Aber nicht immer ist der Kielerin zum Lachen zumute. „Manchmal ist es so arg, dass ich beim Arzt nur ankündige, dass ich nun reif für die Notschlachtung bin.“ Die Verengung des Wirbelkanals und hoher Blutdruck machen ihr zu schaffen. „An ganz schlimmen Tagen lege ich einen Abschiedsbrief auf den Tisch“, erzählt sie etwas stiller. „Aber bisher konnte ich ihn morgens immer wieder zerknüllen.“Dann zitiert sie
Sokrates,
„Wer weiß, ob der Tod nicht das größte Geschenk
an den Menschen ist“, und lehnt sich entspannt im Sessel zurück.
„Man wird sehen.“ Aber einen Wunsch hat sie dann
doch noch. Nämlich dass alle Menschen den Satz von
Albert Einstein beherzigen:
„Das Denken der Zukunft muss Kriege unmöglich
machen.“ Schlimm genug, dass sie einen Krieg miterleben musste.
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