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Späte Anerkennung für Wolfskinder Über 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erhalten die sogenannten Wolfskinder die Möglichkeit, einen Antrag auf Entschädigung zu stellen. Eltern- und anhanglos geworden, streiften die Kinder nach dem Krieg durch die Wälder Ostpreußens, um dem drohenden Hungertod zu entgehen. Viele fanden in Litauen unter Verleugnung ihrer deutschen Identität eine neue Bleibe. Etliche mussten so hart arbeiten wie Erwachsene. Einer, der sich dem Schicksal dieser Vertreibungsopfer gewidmet hat, ist der promovierte Historiker und Germanist Christopher Spatz. PAZ-Redakteurin Manuela Rosenthal-Kappi sprach mit ihm. PAZ: Herr Spatz, wie ist es möglich, dass es mehr als 70 Jahre gedauert hat, ehe die Wolfskinder Aussicht auf Entschädigung erhalten? Christopher Spatz: Direkt nach dem Krieg hat man nicht darüber nachgedacht, Kinder zu entschädigen. Da galt die Meinung, dass junge Menschen schnell vergessen und unbelastet in die Zukunft blicken. Aktuell wurde die Frage der Entschädigungswürdigkeit von Kinderschicksalen erst in den 1990er-Jahren. In jener Zeit gab es jedoch zwei Gründe für die Nichtberücksichtigung der Wolfskinder. Zum einen hatten sie keine politischen und zivilgesellschaftlichen Fürsprecher mit ausreichend starker Stimme. Und zum anderen war in den bundesdeutschen Ämtern das Wissen um die Hungersnot in Ostpreußen fast komplett verloren gegangen. Bevor heute die Frage nach einer möglichen Ungleichbehandlung von Opfergruppen aufgeworfen wird, sollte unbedingt erforscht werden, weshalb sich in der Bundesrepublik damals niemand an eine der größten humanitären Nachkriegskatastrophen in Europa zu erinnern vermochte. PAZ: Dass die Bundesregierung nun Entschädigungsleistungen für Wolfskinder in Aussicht gestellt hat, ist sicher auch Ihr Verdienst. Durch Ihre Publikationen wurde eine breitere Öffentlichkeit auf das Problem aufmerksam. Wie bewerten Sie das? Spatz: Natürlich ist es zu begrüßen, dass die Bundesregierung die Schicksale der ostpreußischen Kinder nun anerkennt. Ich habe mit vielen Betroffenen intensive Gespräche geführt und dabei festgestellt, dass das lange Warten auf eine offizielle Würdigung ihres Lebenswegs tiefe Spuren der Enttäuschung bei ihnen hinterlassen hat. Dass dieser Zustand überhaupt problematisiert worden ist, lässt sich auf ein Zusammenwirken von Forschung, Publizistik, Presse und Fernsehen zurückführen, die sich des Themas seit gut 20 Jahren kontinuierlich annehmen. Vergessen darf man meines Erachtens auch die zahlreichen Privatleute nicht, die die hilfsbedürftigsten unter den Wolfskindern, die Mitglieder des Edelweiß-Vereins in Litauen, seit 1991 mit Geld- und Sachspenden unterstützt haben. PAZ: Die Gesellschaft für bedrohte Völker kritisiert die Bundesregierung seit Jahren wegen ihrer Weigerung, die Wolfskinder zu entschädigen. Wie erklären Sie sich diese Ungleichbehandlung der Opfer? Spatz: Die Gesellschaft für bedrohte Völker setzt sich weltweit für Kriegsfolgen- und Gewaltopfer ein und gibt den Ungehörten eine Stimme. Dabei entscheidend ist für sie nicht der Vergleich mit anderen Opfergruppen, sondern einzig die Frage nach persönlichem Leid und individueller Verantwortung. Als mich die Gesellschaft für bedrohte Völker bat, ihre Entschädigungskampagne für die ostpreußischen Kinder wissenschaftlich zu begleiten, sagte ich umgehend zu. Gemeinsam haben wir eine Informationsbroschüre erstellt, neben den Wolfskindern auch die ehemaligen Kinderhausinsassen (die sogenannten „Kinder Königsbergs“) ins Boot geholt und die Kampagne im März dieses Jahres auf der Leipziger Buchmesse der Öffentlichkeit präsentiert. Als glückliche Fügung erwies sich die Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten und „Wolfskinder-Vater“ Wolfgang Freiherr von Stetten. Mit ihm ist es der Gesellschaft für bedrohte Völker schließlich gelungen, die politischen Stellen dafür zu sensibilisieren, dass das, was die ostpreußischen Kinder nach dem Kriege leisten mussten, im Rahmen der Zwangsarbeiterentschädigung nun anerkannt und gewürdigt werden soll. PAZ: Die Wolfskinder haben bis Jahresende Zeit, beim Bundesverwaltungsamt einen Antrag auf Entschädigung zu stellen. Ist die Frist nicht zu kurz gefasst? Spatz: Die Frist ist knapp, keine Frage. Ich halte es allerdings für ausgeschlossen, dass sich eine Verlängerung erwirken lässt. Denn die Prüfung der Anträge findet ja im Rahmen der Entschädigung ehemaliger deutscher Zwangsarbeiter statt, und diese wurde vom Deutschen Bundestag bereits im Sommer 2016 beschlossen. Im Fall der ostpreußischen Kinder gilt es jetzt, alle verfügbaren Informationskanäle zu nutzen, damit die Anspruchsberechtigten schnell von der veränderten Sachlage erfahren und rechtzeitig vor dem 31. Dezember ihren Antrag beim Bundesverwaltungsamt einreichen. PAZ: Wie sollen die Wolfskinder, den Nachweis erbringen, dass sie Zwangsarbeit geleistet haben? Spatz: Das Bundesinnenministerium hat zugesichert, die zuständigen Stellen im Bundesverwaltungsamt vom besonderen Kriegsfolgenschicksal der ostpreußischen Kinder in Kenntnis zu setzen. Die Beamten in Hamm müssten nun wissen, dass den Anspruchsberechtigten ihre im frühen Lebensalter abverlangte Arbeit nicht schriftlich bescheinigt wurde. Ebenfalls wird den Beamten bekannt sein, dass viele Betroffene aufgrund ihrer starken Unterernährung Erinnerungslücken davongetragen und aus psychologischen Gründen den späteren Kontakt zu Schicksalsgefährten gemieden haben, sodass sie heute auch keinen Zeugen mehr benennen können. Angesichts dieser Umstände dürfte es im Zweifel wohl ausreichen, wenn die Antragsteller sorgfältig alle ihnen in der Nachkriegszeit abverlangten Tätigkeiten auflisten, deren Verweigerung für sie unmittelbare und schwerwiegende Folgen gehabt hätte. PAZ: Herr Spatz. Sie sind Jahrgang 1982. Was hat Sie dazu animiert, sich mit dem Thema „Wolfskinder“ zu beschäftigen? Spatz: Vor acht Jahren habe ich Deutsch und Geschichte an der Universität Oldenburg studiert. In jenem Zeitraum erfuhr ich durch Zufall vom Schicksal der ostpreußischen Wolfskinder. Der Überlebenswille dieser Kinder hat mich tief beeindruckt. Nach dem Studienabschluss war mir aber auch klar, dass ich mit meiner Masterarbeit bestenfalls an der Oberfläche des Themas gekratzt hatte. Mit Ruth Leiserowitz, der Pionierin auf dem Gebiet der Wolfskinderforschung, setzte ich mich deshalb in Berlin zusammen. Dort entwickelten wir zusammen einen Plan für mein Dissertationsprojekt. PAZ: Für Ihre Dissertation haben Sie mit vielen Wolfskindern gesprochen. Was erschüttert Sie an ihren Schicksalen am meisten? Spatz: Rückblickend würde ich sagen, dass ich auf die emotionale Wucht der Begegnungen nicht vorbereitet war, ich hatte keine professionelle Vorbildung in Gesprächsführung oder Psychologie. Es war Schwerstarbeit, und vieles, was ich hörte, wäre eher etwas für den Hausarzt, Pfarrer oder Psychologen gewesen. Während der Auswertung saß ich oft bis in die Nacht an meinem Schreibtisch und habe mir die aufgenommenen Gespräche noch mal angehört. Morgens hatte ich mitunter das Gefühl, nicht aufstehen zu können, weil das Erzählte förmlich auf mir lag. PAZ: Werden Sie sich weiter mit dem Thema Wolfskinder beschäftigen? Spatz: Es gäbe auf diesem Feld zahlreiche
Möglichkeiten für weitere vielversprechende Forschungsvorhaben. Grundsätzlich
fühle ich mich der Geschichte der „kleinen Leute“ verpflichtet, solchen
Menschen, die nicht in der Lage waren, ihr Dasein in eigenen Memoiren oder auf
andere Weise festzuhalten. Ihre häufig dramatischen Schicksale der Nachwelt
zugänglich zu machen, das sehe ich als notwendige, anspruchsvolle und zeitlos
gültige Aufgabe.
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