|
|
»Gott hat alles so gefügt« Die Trauerfeier fand in der restaurierten Kirche von Heiligenwalde statt. Die Lehrer der Schulen von Heiligenwalde, Waldau und Neuhausen waren gekommen, Vertreter der Bezirksverwaltung von Neuhausen und des Denkmalschutzes, ehemalige Schüler, Freunde, der Bürgermeister von Waldau, Nachbarn aus dem Dorf. Sie alle wollten Georg Gawrilowitsch Artemjew, dem langjährigen Schulleiter von Heiligenwalde, die letzte Ehre erweisen. Es war der 11. Januar 2006. Am „dritten Tag“ findet nach russischer Sitte das Begräbnis statt. Am 9. Januar 2006 war Georg Artemjew verstorben, im Alter von 67 Jahren. Ein schweres, von Krankheit geprägtes Jahr war für ihn zu Ende gegangen. Im Mai 2004 hatte er sein Amt als Schulleiter in Heiligenwalde endgültig niedergelegt, um sich nun ganz seiner Arbeit an der Restaurierung der Kirche zu widmen, die für ihn bereits anderthalb Jahrzehnte im Mittelpunkt gestanden hatte. Da meldete sich nach Neujahr 2005 ein altes Herzleiden, das sich kontinuierlich verschlimmerte. Eine Operation war nicht mehr möglich, ein Krankenhausaufenthalt, Spritzen und Tabletten sowie vor allem die Pflege seiner Frau ermöglichten ihm noch einige Monate. Einige Mitglieder des „Vereins zur Erhaltung der Kirche von Heiligenwalde e. V.“ besuchten im August 2005 mit einer Reisegruppe der „Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft“ ihre Kirche und ihr Dorf. Man verlebte einen wunderschönen Nachmittag, bewunderte die fast fertige Kirche und saß in der Schule bei einem „russischen Tisch“ zusammen, der außer Salaten, Würstchen und Süßigkeiten auch die beliebte „ucha“ (Fischsuppe) enthielt. Einige Tage später gab es noch eine private Einladung bei Georg Artemjew und seiner Frau. Es war der Abschied. Im Oktober 2005 verbrachte die Vorsitzende des Vereins, Bärbel Beutner, wie gewohnt eine Woche in Heiligenwalde. Es waren Tage voll strahlender Sonne und sommerlicher Wärme, so daß man im Garten sitzen konnte, angefüllt mit den üblichen Planungen und Abrechnungen über die Arbeit an der Kirche, aber auch mit vielen persönlichen Gesprächen. Und immer noch die Hoffnung, ein paar Jahre vielleicht noch … Die Telefonate wurden immer häufiger, je größer die Sorgen wurden. Gesegnet sei die Technik, die das problemlose Telefonieren mit dem Königsberger Gebiet ermöglicht hat! Manch einer erinnert sich noch an die abenteuerlichen Versuche, 1991 und 1992 ein Gespräch von Königsberg in die Bundesrepublik Deutschland zu bekommen. Dann der Schicksalsschlag, die Todesnachricht am 9. Januar 2006. Für die ehemaligen Bewohner des Dorfes Heiligenwalde, 22 Kilometer östlich von Königsberg gelegen, ein unersetzlicher Verlust. Ein Stück Geschichte des Dorfes und seiner Ordenskirche aus dem 14. Jahrhundert ist zu Ende gegangen. „Gott hat alles so gefügt!“ sagte Georg Artemjew oft. „Er hat euch die Flucht überleben lassen, er hat mich aus Sibirien in den äußersten Westen (ins Königsberger Gebiet) geführt, damit wir die Kirche gemeinsam retten.“ Er kam noch weiter von Osten her. Er wurde am 3. April 1938 in Ussurisk, einem kleinen Ort am Fluß Ussuri an der chinesischen Grenze geboren, wo sein Vater, Offizier der Roten Armee, stationiert war. Dort ging er die ersten Jahre zur Schule. Dann wurde der Vater nach Kasachstan versetzt, wo der Sohn in Alma Ata weiter zur Schule ging und Freundschaft mit Rußlanddeutschen schloß. Die Begegnung mit der deutschen Sprache erfolgte also im zwischenmenschlichen Kontakt, nicht erst in der Schule, wo Deutsch allerdings auch während des Krieges die erste Fremdsprache blieb. Aber auch der Vater, „Held im Großen Vaterländischen Krieg“, hatte das Interesse für die deutsche Kultur bei dem Sohn geweckt, und der Name „Georg“ — die Russen sagen „Georgi“ — war bewußt als ein deutscher Name gewählt worden. Die Familie zog nach Omsk, wo Georg Gawrilowitsch die Schule absolvierte und an der Pädagogischen Hochschule an der Fakultät für Fremdsprachen Germanistik und Französisch studierte. Beruflich übte er verschiedene Tätigkeiten aus, arbeitete als Lehrer und als Journalist und lebte einige Zeit im Hohen Norden, eine Erfahrung, von der er viel zu erzählen wußte. 1985 kam er ins Königsberger Gebiet, wohnte ein Jahr im Bezirk Labiau und zog im August 1986 nach Heiligenwalde, wo er die Leitung der dortigen Schule übernahm. Das Mitte der 30er Jahre erbaute Gebäude ist unversehrt geblieben, wie überhaupt die deutschen Bewohner, als sie 1991/92 ihre Heimat besuchen durften, vieles in ihrem Dorf vorfanden. Die Domäne war noch da mit dem Wohnhaus sowie dem Kuh-, dem Pferde- und dem Schweinestall, nun von der Sowchose „Rodniki“ genutzt. Häuser aus der Zeit prägten das Bild des Dorfes, und die alte Ordenskirche grüßte ihre Täuflinge und Konfirmanden, die am besten erhalten gebliebene Dorfkirche im gesamten Königsberger Gebiet. Die Sowchose hatte sie als Getreidelager genutzt, was zur Rettung des Gebäudes, wenn auch mit einigen Bauschäden, führte. Heimat — das sind Menschen. Oft hat der Schriftsteller Arno Surminski aus Masuren diese Worte gesagt. Für die Heiligenwalder wurde ihr Dorf wieder zur Heimat, durch Georg Artemjew. Er sprach fließend Deutsch und ermöglichte damit alle Kontakte. Durch ihn wurden die deutschen und die russischen Heiligenwalder zu einer neuen Gemeinschaft, ja zu einer Familie. „Wir feierten wie Geschwister“, lautete die Überschrift eines Berichtes über das Fest, das Deutsche und Russen zum 650jährigen Bestehen des Dorfes und der Kirche im Juni 1994 feierten. Die Handfeste von 1344 bezeugt die Grundsteinlegung der Kirche durch Volkwin von Dobrin und die Gründung des Dorfes Heiligenwalde, das wie ein deutsches Runddorf um die Kirche gebaut ist. Der heilige Wald war ein prußischer Kultplatz, den der Orden nun für den Kirchenbau auswählte; die prußischen Siedlungen, die fortan zum „Kirchspiel Heiligenwalde“ gehörten, behielten bis 1945 die alten prußischen Namen: Rogahnen, Kalkeim, Oblitten, Possindern, Willkühnen, Pogauen. Mit Georg Artemjew trat ein Historiker und Heimatforscher in die Geschichte des Kirchspiels ein. Er gehörte zu der russischen Intelligenz im Königsberger Gebiet, welche die deutsche Geschichte aufarbeiten und ihre Spuren festhalten wollte. Eine Chronik der Nachkriegsgeschichte Heiligenwaldes gibt es bereits von ihm. Die Drucklegung seiner bereits weitgehend fertiggestellten Chronik bis 1945 ist ein Projekt für die Zukunft. Sein Interesse für die Geschichte seiner letzten Heimat und sein intensives Quellenstudium brachten eine wunderschöne Frucht: die Novelle „Susannenthal“, erschienen 2000 im „Verlag Heiligenwalde“, der 1999 in der Bundesrepublik Deutschland gegründet worden ist. Die russische Fassung wurde in Tapiau gedruckt. Eine alte Sage liegt dieser anrührenden und tragischen Liebesgeschichte zugrunde, die zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges in Heiligenwalde und den umliegenden Dörfern spielt. Die Baronesse Susanne von Rippe verliebt sich in den zwielichtigen Bauern und Jäger Hans Lemke. In die dramatischen Ereignisse um diese verbotene Liebe sind authentische Personen aus der Zeit und aus der Gegend verwickelt, die Orte am Pregel tauchen auf, und mit der alten Prußin Gedune, die Heilkräuter und heilige Bäume kennt, sowie mit der prußischen Magd Suta läßt der Autor die Ureinwohner des Samlandes lebendig werden. Nicht nur den Heiligenwaldern hat er damit eine große Freude gemacht. Dreimal besuchte Georg Artemjew Westdeutschland und die dortigen Freunde. 1996 und 2001 nahm er am Kreistreffen der Heimatkreisgemeinschaft Königsberg-Land teil, ein gern gesehener Gast, der viel beachtete Reden in perfektem Deutsch hielt. 2001 signierte er zudem sein Büchlein „Susannenthal“. Seine Lebensaufgabe aber war die Restaurierung der Kirche, ein steiniger Weg, begleitet von Rückschlägen und schließlich wunderbaren Erfolgen. „Oft schaue ich die Kirche an und denke: ,Wie soll ich dich retten mit meinen schwachen Kräften?‘“ sagte er zu Beginn der gemeinsamen Bemühungen. Der Gottesdienst und das Fest 1994 waren ein Medienereignis und ein großer Anstoß an das öffentliche Bewußtsein gewesen, aber die Probleme waren den Beteiligten bewußt. Der wichtigste und erste Schritt bedeutete: Die Kirche muß einen „Herrn“ haben. Sie war wie alle öffentlichen Gebäude Eigentum des russischen Staates; es kam darauf an, einen Nutzer zu finden, der auch mitverantwortlich für die Baumaßnahmen ist. Noch hatte die Sowchose die Nutzungsrechte, die Zuständigkeiten lagen beim Denkmalschutzamt in Königsberg, nach dem Georg Artemjew die Kirche auf die Liste der denkmalgeschützten Gebäude im Königsberger Gebiet gebracht hatte. 1992 hatte man sich kennengelernt, 1993 den „Verein zur Erhaltung der Kirche von Heiligenwalde e. V.“ auf bundesdeutscher Seite gegründet, 1994 wurde der russische Partnerverein gegründet — und dann dauerte es zehn Jahre, bis man 2002 die Übergabe-Akte der Kirche in der Hand hielt. Mit der Sowchose hatte man sich gütlich geeinigt, die Bezirksregierung von Neuhausen hatte die Kirche übernommen und sie einem Gymnasium in Neuhausen zur Nutzung übergeben, so daß die Kirche nun einen „Herrn“ hatte. „Die Träume des Idioten sind in Erfüllung gegangen!“, kommentierte Georg Artemjew, der seinen Humor in dem zehnjährigen Kampf mit Denkmalschutzämtern, Sowchose und Verwaltung nicht verloren hatte. Die Restaurierungsarbeiten begannen und machten rasante Fortschritte. Die Probleme hörten jedoch nicht auf. Das Scheunentor, das in die Chorwand für die Traktoren geschlagen worden war, wurde zugemauert; die Ostwand der Kirche präsentierte sich fast wie vor dem Krieg. Innen wurden die Sakristei und der frühere Haupteingang im Anbau, im sogenannten „Waffenhaus“, renoviert, neue Türen luden den Besucher ein, eine Empore wurde eingebaut, und der herrlichste Blickfang waren die neugestalteten Fenster, die ein strahlendes Kreuz auf hellblauem Grund zeigen. Steht man bei Tageslicht in der Kirche, so leiten die Fenster Licht und Sonne hinein; ist die Kirche bei Dunkelheit innen erleuchtet, so schimmern die Fenster mit den Kreuzen in die Nacht hinaus. Dem Betrachter geht das Herz auf, wenn er das schöne Gebäude sieht, und er steht vor dem planierten Umfeld, das zur Straße hin von einem schmiedeeisernen Zaun begrenzt wird. „Heiligenwalde 1344“ steht auf dem Tor. Er weiß nicht, wieviel Kraft Georg Artemjew in jeden Bauabschnitt investieren mußte. Da gab es Ärger, weil die alten, morschen und sturzgefährdeten Bäume an der Straße gefällt werden mußten. Zuständig war das Straßenbauamt in Tapiau. Mit vielen Wegen waren schließlich alle Papiere beisammen, und als die Bäume gefällt wurden, beschwerten sich einige Dorfbewohner, denen die schriftliche Genehmigung vor die Nase gehalten werden konnte. Oder der wochenlange Kampf um die Elektrizität. Für die Beleuchtung der restaurierten Kirche waren mehr Leitungen erforderlich; außerdem sollte die Kirche elektrisch beheizt werden. Wie schwer es ist, dafür Genehmigungen zu bekommen, konnte sich auf deutscher Seite niemand vorstellen. Außer vielen Anträgen und Gängen zu den zuständigen Stellen muß man auch mal eine Flasche Kognak irgendwo stehenlassen oder ein paar Dollar verlieren. Niemand sonst kannte sich überall so aus wie Georg Artemjew. Im November 2004 waren alle Hürden bezüglich der Elektrizität genommen, und in der Silvesternacht 2004 gingen die Bauleute um Mitternacht in die Kirche. Als die Fenster in die Nacht hinaus leuchteten, kamen die Dorfbewohner, ohne vorherige Absprache, und man begrüßte in der Kirche das neue Jahr. Das soll eine Tradition werden. Das Gymnasium in Neuhausen hatte bereits für Mai 2005 ein Konzert in der Kirche geplant. Aber dann nahm man davon Abstand, denn der Fußboden mußte erst gemacht werden. Der Boden war mit Beton ausgegossen worden, und durch die schweren Traktoren waren Senkungen entstanden. Im Juli konnte ein neuer Fußboden bewundert werden, Platten, so angeordnet, daß man erkennen kann, wo früher Bänke und Gänge in der Kirche waren. Der Entwurf stammt von Günther Legat, die Finanzierung trug die Familie Kurschat. Werner Kurschat, der Schatzmeister des deutschen Vereins, starb im November 2004, und die Familie bat um Spenden für die Kirche statt Blumen. Es wollte im Jahre 2005 mit den ersten Veranstaltungen in der Kirche einfach nicht klappen. Die langen Sommerferien bis zum 1. September verzögerten Planungen von seiten des Gymnasiums, dann kam der Ankauf von Sitzmöbeln nicht recht in Gang, schließlich war es Herbst und die elektrische Heizung mußte erst noch installiert werden — aus einem Konzert wurde jedenfalls nichts. Dafür nutzte man den herrlichen Oktober für die Gestaltung des Umfeldes und für Außenarbeiten: Die Kirche wurde weiß verputzt, und drum herum kleine Tannen gepflanzt. Die erste öffentliche Veranstaltung, die in der renovierten Kirche stattfand, war die Trauerfeier für Georg Artemjew. Am Mittag des 11. Januar 2006 versammelte sich die große Trauergemeinde in der Ordenskirche aus dem 14. Jahrhundert zu den Klängen der Musik Bachs. Die Wintersonne schien durch die blau und golden leuchtenden Fenster. Gott hat alles so gefügt. Die deutschen Freunde konnten nicht teilnehmen.
In Westdeutschland, 1200 Kilometer von ihrem Heiligenwalde entfernt, das sie 61
Jahre zuvor im eiskalten Januar hatten verlassen müssen, gedachten sie des
Verstorbenen am Nachmittag nach der Beisetzung auf russische Weise. Man trinkt
Tee und einen Schluck Wodka oder Wein und spricht dazu die Worte: „Die Erde möge
ihm leicht sein und seine Seele möge in den Himmel kommen.“ B. B.
____________________________________ |