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Zur Identität der preußischen Litauer Georg 
Gerullis (1888-1945) - aus einem 1932 erschienenen Aufsatz - (Gerullis war 
preußisch-litauischer Herkunft und stammte aus Jogaudensüdwestlich von Willkischken im Kreis Pogegen / Memelland)
 "Von einer Gutsbesitzerfamilie abgesehen, die 
sich des Hochdeutschen bediente, hörte man in Jogauden als gewöhnliche 
Umgangssprache kurz vor 1914 nur Niederdeutsch und Litauisch. Die 
ethnographische Karte gibt auf Grund der Volkszählung von 1905 40-50% Deutsche 
und 50-60% Litauer an. Da es damals in Ostpreussen zwischen Deutschen und 
Litauern überhaupt keine nationalen Gegensätze gab (und zwischen einheimischen 
Deutschen und Litauern auch heute nicht gibt), kamen Fälschungen aus politischen 
Rücksichten überhaupt nicht vor. Von Jogaudens Einwohnern waren alle selbständige 
Landwirte ´Litauer´ und der Dorfschmied sowie ein Teil der Landarbeiter 
´Deutsche´. Die ´Litauer´ waren also nicht nur zahlenmäßig, sondern auch 
wirtschaftlich überlegen. Ja, in gewisser Hinsicht sogar politisch! Denn der 
´litauische´ Landwirt ist durchaus monarchistisch und konservativ und wurde 
naturgemäss von der damaligen Regierung mit grossem Wohlwollen behandelt. An 
eine Unterdrückung der litauischen Sprache durch irgendwelche untergeordneten 
Behörden war nicht zu denken. Kurz, die Aussichten für baldige Verdrängung des 
Litauischen durch das Deutsche müssen um 1914 gering erschienen sein. Und doch 
ist es heute so weit, dass nur noch 3 alte ´Litauer´ im Dorf vorhanden sind. In 
etwa 10 Jahren werden dort ´Deutsche´ allein wohnen. Wie ist das gekommen? .... Meine Eltern sprachen untereinander und mit uns 
Kindern ausschliesslich litauisch, verstanden hoch- und niederdeutsch alles und 
sprachen auch hochdeutsch einigermassen, allerdings mit Fehlern und litauischer 
Artikulation. Niederdeutsch konnten sie nur radebrechen. Daher gebrauchten sie 
im Verkehr mit Dienstboten und Arbeitern, soweit diese gar nicht litauisch 
konnten, nur das Hochdeutsche. Denn so sehr man das Hochdeutsche schätzte und 
Sorge trug, dass die Kinder es möglichst gut erlernten, so wenig achtete man das 
Niederdeutsche. In der Dorfschule hat mein Vater nicht nur wie meine Grosseltern 
litauischen Unterricht genossen, sondern daneben auch deutschen, meine Mutter 
nur noch deutschen. (Der Konfirmandenunterricht allein fand in litauischer 
Sprache statt). Das hat sich bei meiner Generation, also bei 
denen, die um 1914 waffenfähig waren, gründlich geändert. Ich, mein um 1 Jahr 
jüngerer Bruder und mein 5 Jahre jüngerer Vetter, der bei uns aufwuchs, sprachen 
von vornherein neben- und durcheinander litauisch und niederdeutsch. Und zwar 
untereinander, mit den Dienstboten und Dorfkindern fast nur niederdeutsch, mit 
den Eltern und deren litauischen Nachbarn ausschliesslich litauisch. Hochdeutsch 
lernten wir erst vom sechsten Jahre ab in der Dorfschule. Wenn man uns nach 
unserer Muttersprache gefragt hätte, hätten wir jedoch ohne Zögern das 
Litauische genannt. Briefe wurden von uns allen nach Hause nur litauisch 
geschrieben. Der Weltkrieg hat die Germanisierung meines Heimatdorfes mit einem 
gewaltigen Ruck nach vorne getrieben. Die waffenfähige Mannschaft kehrte stark 
gelichtet aus dem Felde zurück. Die Daheimgebliebenen wurden Herbst 1914 von den 
Russen verschleppt und blieben bis 1918 in Gefangenschaft. Dann kam die 
Besetzung des Memellandes durch Litauen. Gleiche Sprache und gleiches Blut 
vermochten nicht die Entfremdung zu überbrücken, die infolge jahrhundertelanger 
Zugehörigkeit zu zwei ganz verschiedenen Kulturkreisen, dem preussisch-deutschen 
und dem polnisch-russischen, eingetreten war. Der preußische Litauer sieht mit 
Verachtung auf die pulekai ´Polacken´ herab. (Eine auffallend geringe Rolle 
spielt der Gegensatz evangelisch-katholisch). Einheimische Litauer und Deutsche, 
beide monarchistisch und äusserst rechts eingestellt, schlossen sich nun bewusst 
zusammen, während sie bisher nebeneinander einherlebten, wie etwa Evangelische 
und Katholische in Mischgebieten. Der Litauer begann, sich auf einmal seiner 
Muttersprache zu schämen. Er wollte nicht mit den Leuten von jenseits der Grenze 
verwechselt werden. Es setzte eine energische Selbstgermanisierung ein, was ja 
bei den oben geschilderten Sprachzuständen nicht schwer fiel." 
  
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