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Wie Napoleon auf die Niederlage in Russland reagierte Während sich 30.000 Mann, die Reste der Großen Armee, die den Rückzug aus Russland überlebt hatten, erschöpft der preußischen Grenze näherten, verließ Napoleon in der Nacht zum 6. Dezember 1812 seine Truppen. Er bestieg einen Schlitten und fuhr, scheinbar unberührt von seiner schweren Niederlage, inkognito in Richtung Frankreich. Er wollte einfach nicht wahrhaben, dass sich die politisch-strategische Lage ganz wesentlich zu seinen Ungunsten geändert hatte. Zar Alexander war der große Sieger, und in dem zur Kriegsteilnahme gezwungenen Preußen regte sich Aufbruchsstimmung, wenn auch die wichtigsten Festungen noch in französischer Hand waren. Selbst in Österreich gewann die Kriegspartei unter Johann Philipp von Stadion großen Zulauf, wenn auch Außenminister Klemens Wenzel Lothar von Metternich noch abwartete und noch nicht bereit war, die Seiten zu wechseln. In Paris selbst war es im Oktober, unmittelbar nach der Räumung Moskaus durch die Franzosen, zu einem Umsturzversuch durch einen republikanisch gesinnten General gekommen, der gemeinsame Sache mit den Royalisten machen wollte. Obwohl das Unternehmen kläglich scheiterte, beunruhigte es Napoleon mehr als der Fehlschlag seines Feldzuges und bestärkte seinen Wunsch, möglichst rasch nach Frankreich zurückzukehren. Gemeinsam mit Armand de Caulaincourt traf er am Abend des 18. Dezember in Paris ein und warf sich mit dem ihm eigenen Temperament auf die Regierungsgeschäfte. Er misstraute dem einstigen Polizeiminister Joseph Fouché, dem Meister der Intrige, den er abgesetzt und entmachtet hatte, er misstraute vor allem dem Grafen Charles-Maurice de Talleyrand, seinem ehemaligen Außenminister, den er schwer gedemütigt hatte, dessen Fähigkeiten er aber insgeheim anerkannte. Talleyrand hatte seit 1808 seine Fäden zu den Gegnern Napoleons gesponnen, zu Metternich, zu den Royalisten und sogar zu Fouché, seinem verachteten Erzrivalen. Napoleon erkannte rasch, dass er unverzüglich Ordnung schaffen musste, dass der Staatsapparat eine straffe Führung benötigte. Er hielt seinen höchsten Würdenträgern eine Strafpredigt und verfügte, dass künftig in seiner Abwesenheit seine Gattin, Marie-Louise von Österreich, die Regierung führen sollte, unterstützt von ausgesuchten Beratern, denen Napoleon noch vertraute. Es galt, seine angeschlagene Autorität wiederherzustellen. Die Niederlage in Russland sei, wie er verlauten ließ, den widrigen Naturgewalten zuzuschreiben. Als gefährlichste Feinde betrachtete er die Intellektuellen, denen er eine verräterische Gesinnung in der Art der radikalen Jakobiner vorwarf. Er erkannte aber auch, dass seine bisherige Stütze, das Bürgertum, zu wanken begann, und verzichtete deshalb auf Steuererhöhungen, obwohl er dringend Geld benötigte. Was sollte nun unternommen werden? War er stark genug, um der Koalition zwischen Russland und Preußen, die sich nach der Konvention von Tauroggen anbahnte, mit Erfolg entgegenzutreten? Noch stand Eugène de Beauharnais, sein Stiefsohn, mit 13.000 Mann bei Posen, und die wichtigsten Festungen in Preußen waren von französischen Truppen besetzt. Noch standen seine Besatzungstruppen in Nordwestdeutschland bis Hamburg, im Königreich Westfalen herrschte sein Bruder Jérôme, und von den Rheinbundfürsten ging anscheinend keine Gefahr aus. Voraussichtlich hatte er bis Ende März, also bis Frühlingsbeginn, Zeit, um seine Vorbereitungen für einen neuen Waffengang abzuschließen. Allerdings trug sein Reich eine offene Wunde, die er seit 1808 nicht hatte schließen können: Spanien. Wenn auch zeitweise an die 200.000 Mann südlich der Pyrenäen eingesetzt waren, so konnten doch Napoleons Marschälle den Volkskrieg, der von zahllosen Gräueltaten überschattet wurde, nicht siegreich beenden und England ergriff unter Arthur Wellesley, dem späteren Herzog von Wellington, die Chance, zugunsten der Spanier einzugreifen. Die Herrschaft von König Joseph, dem Bruder Napoleons, war schwer bedroht, und der Kaiser konnte aus Spanien keine Truppen abziehen, obwohl er sie dringend gebraucht hätte. Obwohl Napoleon mehr oder minder entschlossen war, nochmals die Waffen in Europa sprechen zu lassen, wollte er zunächst die Meinung einiger Persönlichkeiten einholen. Am 3. Januar 1813 rief er sie zu einer Ratsversammlung in die Tuilerien. Es trafen unter anderem Caulaincourt, Außenminister Hugues-Bernard Maret, dessen direkter Vorgänger und auch Talleyrand ein. Alles dreht sich um die Kernfrage: Krieg oder Frieden? Talleyrand trat wie des Öfteren zuvor für den Friedensschluss ein und riet, Österreich als Vermittler einzuschalten. Er wusste um die Denkweise Metternichs und dass dieser die Vermittlerrolle liebend gerne übernommen hätte. Nur der Friede, so Talleyrand, könne dem Wohl Frankreichs dienen. Auch das Volk würde sich nach Frieden sehnen. Doch Napoleon wischte den Vorschlag vom Tisch: Verhandlungen würden als Zeichen der Schwäche gedeutet werden, und Schwäche könne er sich nicht leisten. Der Zar würde nämlich zur Schlussfolgerung gelangen, dass die französischen Verluste in Russland unersetzlich wären, er würde nicht zögern, seine Forderungen für den Frieden in die Höhe zu treiben, und Preußen würde im Bunde mit dem Zaren nach Rückgabe dessen streben, was ihm von Napoleon seit 1806 genommen worden war. Talleyrand riet, sich mit den Erwerbungen des Zweiten Koalitionskrieges (1798/99–1801/02) zu begnügen, die mit dem kontinentalen Gleichgewicht vereinbar zu sein schienen: Das napoleonische Kaiserreich würde immerhin die von Frankreich traditionell als ihre natürliche Grenze beanspruchte Rheingrenze unter Einschluss der südlichen Niederlande und auch seinen Einfluss in Italien behalten. Der Graf mahnte eindringlich: „Verhandeln Sie. Sie haben jetzt Pfänder in der Hand, die Sie aufgeben können; morgen können Sie sie verloren haben, und dann ist die Möglichkeit zu verhandeln ebenfalls verloren!“ Es war vielleicht der wertvollste Rat, den Napoleon je erhalten hatte. Doch er schlug die Worte Talleyrands in den Wind. Auf die Rheingrenze zurückzugehen, hieß die Machtstellung in Deutschland aufzugeben und dem aufstrebenden Preußen freie Hand einzuräumen. Hätte er mit klarem Kopf, Feingefühl und ohne falschen Ehrgeiz die Tatsachen überprüft, wäre der Entschluss zum Frieden nahegelegen. Die Bedingungen der Friedensverträge von Lunéville und Amiens, mit denen der Zweite Koalitionskrieg beendet worden war, waren bedeutend günstiger als diejenigen, die ihm die Alliierten ein knappes Jahr später anbieten sollten. Doch Napoleon überschätzte seine ihm noch verbliebenen Kräfte, vertraute seinem Stern und seiner Feldherrnkunst. Er wollte einen Sieg, einen überragenden Sieg, und dann wäre er bereit, die Friedensgesuche seiner Gegner entgegenzunehmen. Er war nur bereit, aus einer Position der Stärke zu verhandeln. Napoleon hatte die Aushebung von 350.000 Mann angeordnet, aber der Wehrwille war bereits derart gesunken, dass sich nur rund 200.000 in den Kasernen einfanden. Doch sie waren blutjunge Rekruten und mussten erst ausgebildet werden. Es fehlte an erprobten Offizieren und vor allem Kavallerie, da nur wenige Pferde den Rückzug aus Russland überlebt hatten. Dennoch war er jedem Frieden abgeneigt und setzte alles auf eine Karte. Überheblich schrieb er seinem Schwiegervater, dem österreichischen Kaiser Franz I., nach Wien: „In Frankreich steht alles unter Waffen und Eure Majestät können versichert sein, dass ich, sobald der Frühling kommt, mit Gottes Hilfe die Russen schneller verjage, als sie gekommen sind.“ Er hatte aber vergessen, dass auch seine Gegner die Frist bis zum Frühling nutzten, und er sollte seine Überheblichkeit bald bereuen.
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