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Milbradt-Rede

 


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Hermann Sudermann


Gedenkschrift - 70 Jahre LO-NRW

70 Jahre LO Landesgr. NRW
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Rede des sächsischen Ministerpräsidenten, Prof. Dr. Georg Milbradt,
beim Deutschlandtreffen der Ostpreußischen Landsmannschaft
am 22. Mai 2005 in Berlin

Sehr geehrter Herr von Gottberg,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich freue mich, dass ich heute am Abschlusstag Ihres diesjährigen Deutschlandtreffens zu Ihnen sprechen darf. Ich grüße alle heimatvertriebenen Ostpreußen und deren Angehörigen, die den oft weiten Weg nach Berlin auf sich genommen haben, um sich gemeinsam ihrer Heimat zu erinnern.

In den Jahren 2000 und 2002 sind Sie zu Ihren Deutschlandtreffen nach Sachsen gekommen, in die Neue Messe nach Leipzig.

Vielen Dank!

Die Neue Messe in Leipzig ist natürlich ein großartiger Ort, um sich zu treffen. Vor allem aber liegt Leipzig in Sachsen, wohin es nach dem Kriegsende vor 60 Jahren eine Million Vertriebene verschlug; im Gebiet der ehemaligen DDR waren es rund vier Millionen und damit fast ein Drittel der damaligen Bevölkerung.

Die Vertreibung war in der DDR immer ein Tabu. Die Vertriebenen galten offiziell als Umsiedler und hatten über ihr Schicksal Stillschweigen zu bewahren. Sie durften sich nicht organisieren, um ihre Kultur und die Erinnerung an die verlorene Heimat zu pflegen. Es war ihnen lediglich gestattet, sich tatkräftig am Aufbau des zerstörten Landes zu beteiligen, und das haben sie mit beispielhaftem Einsatz auch getan.

Nach der friedlichen Revolution in der DDR waren auch die dort lebenden Vertriebenen endlich frei, über ihr Schicksal zu sprechen und in den neugegründeten Vertriebenenverbänden ihre Kultur und Identität zu pflegen. Aber Deutschland war mit anderen Themen beschäftigt. Von Ostdeutschland ist seit 1990 ständig die Rede, aber gemeint ist natürlich nicht Ihre Heimat, sondern die fünf neuen Bundesländer, die für Sie Mitteldeutschland sind. Angesichts der ungeheuren Aufgabe, die der Aufbau Ost darstellt, ist es kein Wunder, dass im heutigen Ostdeutschland oft anderes auf der politischen Tagesordnung stand, als die legitimen Forderungen der Vertriebenen nach Anerkennung des ihnen angetanen Unrechts und die Erinnerung an das alte Ostdeutschland, die ehemaligen preußischen Provinzen jenseits von Oder und Neiße.

Aber seit einigen Jahren bewegt das Thema der Vertreibungen wieder viele Menschen auch bei uns in Sachsen und in den anderen neuen Bundesländern. Bücher wurden geschrieben, Filme gedreht, Diskussionsrunden veranstaltet, die sich mit dem Vertreibungsunrecht auseinandersetzten.

 

Mehr als fünf Jahrzehnte lang haben wir Deutschen die grauenvollen Abgründe unserer Geschichte zwischen 1933 und 1945 erforscht. Wir haben dokumentiert, welches Unrecht Deutsche an ihren Mitmenschen und Nachbarvölkern begingen, welches Leid sie über die Welt brachten und welche ungeheuerlichen Verbrechen sie am jüdischen Volk verübten. Wir haben der entsetzlichen Wahrheit ins Angesicht geblickt, versucht zu verstehen, wie so etwas geschehen konnte und beim Aufbau der Bundesrepublik die Konsequenzen gezogen. Die Ablehnung jeder Form von Rassismus und das Einstehen für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte.

Wir haben angesichts der so genannten ethnischen Säuberungen auf dem Balkan und angesichts des Genozids an den Tutsi in Ruanda begriffen, dass es sich um hochaktuelle Probleme handelt. Verbrechen, von denen viele in Deutschland hofften, dass sie nie mehr vorkommen würden. Weltweit sind mehr als 40 Millionen Menschen Flüchtlinge, und fast jeden Tag kommen neue hinzu, beispielsweise in Darfur, wo die Vertreibungen entgegen allen UN-Resolutionen weitergehen. Das machte und macht die von den Nazis begangenen Verbrechen nicht weniger schrecklich. Das konnte und kann keine Ausrede dafür sein, einen Schlussstrich unter diesen düsteren Teil unserer Vergangenheit ziehen zu wollen. Geschichte kann man nicht abrechnen, nicht entsorgen.

Aber es lenkte den Blick darauf, dass auch Deutsche Opfer von schrecklichen Verbrechen geworden waren. Man kann nicht die Vertreibung der Afrikaner in Darfur durch arabische Milizen richtigerweise verurteilen und zugleich über die Vertreibung von mehr als 15 Millionen Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges schweigen. Man sollte Mitleid empfinden mit den traumatisierten Menschen in den Flüchtlingslagern dieser Welt. Aber man sollte auch Mitgefühl mit den Vertriebenen bei uns und ihren traumatischen Erfahrungen haben. Wir dürfen das Unrecht der Vertreibung nicht verschweigen oder gar leugnen, nur weil es für manchen politisch nicht opportun oder gar politisch inkorrekt ist.

Insbesondere die Kommunisten, aber auch nicht unmaßgebliche Kräfte in Westdeutschland waren bestrebt, den Mantel des Schweigens über das Schicksal der Vertriebenen zu breiten. Wer an das Unrecht erinnerte, das ihnen angetan worden war, wurde als Revanchist diffamiert, wer von Deutschen als Opfern sprach, wurde als Feind des Friedens und der Völkerverständigung oder gar als Neofaschist in die rechte Ecke gestellt.

Doch seit einigen Jahren ist das zum Glück besser geworden. Gerade der dem linken Spektrum zuzuordnende Schriftsteller Günter Grass hat mit seiner Novelle „Im Krebsgang“ dafür gesorgt, dass wieder über Flucht und Vertreibung gesprochen wurde und über die Millionen von Menschen, die damals die Hauptlast der deutschen Niederlage zu tragen hatten.

Auch dank dieser Debatte sehen heute, 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, viele Menschen genauer hin und erkennen, dass die Befreiung vom Nationalsozialismus nur die eine Seite dieses Kriegsendes war. Die andere Seite waren Flucht und Vertreibung, Besatzung und neue Unterdrückung in den von der sowjetischen Armee besetzten Ländern.

Gewiss, diese Vertreibung hatte eine Vorgeschichte. Es waren Deutsche, die zuerst die fundamentalen Menschenrechte verletzt hatten. Es waren Deutsche, die einen Krieg gegen die Menschlichkeit geführt hatten und auch vor dem Mittel der Vertreibung nicht zurückschreckten. Diese Schuld muss gesühnt werden. Aber Schuld kann immer nur individuell zugerechnet werden. Man kann nicht ein ganzes Volk vor Gericht stellen und bestrafen, sondern nur den einzelnen Täter. Es gibt keine Kollektivschuld, wohl aber eine Kollektivscham.

Zugleich gilt der Satz: Unrecht kann nicht neues Unrecht legitimieren. Deutsche haben mit dem Vertreibungsunrecht begonnen, hier in Berlin, als sie 1933 beschlossen, ihre jüdischen Mitbürger ins Exil zu treiben, ihnen ihre Heimat und ihre Identität als Deutsche zu nehmen und sie später auch zu ermorden.

Von meinen Eltern habe ich erfahren, dass nach 1939 ihre polnischen Nachbarn aus der ehemaligen Provinz Posen diskriminiert und vertrieben wurden, um das Land zu germanisieren.

Das gleiche Schicksal von Flucht und  Vertreibung aus ethnischen Gründen traf bei und nach Kriegsende auch die Deutschen, deren Familien seit Jahrhunderten in Ostpreußen, Pommern, Schlesien, im Sudetenland oder anderen Regionen Mittel- und Osteuropas lebten. Alle diese Vertreibungen waren ungerechtfertigt, denn nichts kann Menschenrechtsverletzungen rechtfertigen. Heimat aber ist ein Menschenrecht, weil sie mehr ist als der Ort, an dem wir zufällig leben.

Heimat ist, wie es die Charta der deutschen Heimatvertriebenen ausdrückt, der Ort, in den Gott die Menschen hineingestellt hat. Der Ort, der mit seiner Geschichte, seiner Landschaft, seiner Sprache und seinen Menschen die Identität eines jeden von uns prägt. Heimatvertriebene verlieren daher mehr als nur ihre materiellen Bindungen, ihr Hab und Gut. Sie werden – und das finde ich das Schlimmste – auch ihrer Identität beraubt. „Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat zu trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten“, formuliert die Charta der Heimatvertriebenen.

Dieser Identitätsverlust ist schmerzlicher als der materielle Verlust. Das wird schon immer so empfunden. Das Wort Elend leitet sich ab von dem altsächsischen Adjektiv eli-lendi, was bedeutet: in fremdem Land, ausgewiesen. Wer des Landes verwiesen wurde, wen die Strafe der Verbannung traf, ging ins Ausland und damit ins Elend. Der Verlust der eigenen Identität galt früher als schreckliche Strafe. Und das ist bis heute so.

Wir betrachten des Recht auf Heimat deshalb als ein Menschenrecht. Es ist genauso unveräußerlich wie jedes andere Menschenrecht. Die Vertreibung aus der Heimat ist eine Menschenrechtsverletzung, die durch nichts zu rechtfertigen ist. Und erst recht gibt es keine Rechtfertigung für Repressalien gegen Wehrlose, gegen Frauen und Kinder. Das weltweite Entsetzen angesichts der ermordeten Kinder in Beslan hat das deutlich gezeigt.

Unrecht darf aber nicht mit Unrecht vergolten werden. Es ist den deutschen Heimatvertriebenen deshalb hoch anzurechnen, dass sie in ihrer Charta vom 5. August 1950 auf Rache, auf Vergeltung verzichtet haben. Das war in einer Zeit, als die Wunden der Vertreibung noch frisch waren. Mehr noch: Die deutschen Heimatvertriebenen haben damals den Völkern der Welt ein großartiges Versöhnungsangebot gemacht:

„Wir rufen Völker und Menschen auf, die guten Willens sind, Hand anzulegen ans Werk, damit aus Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird.“

Meine Damen und Herren,

55 Jahre später ist diese bessere Zukunft angebrochen. Deutschland und Europa sind wieder vereint. Hinter uns liegen sechs Jahrzehnte des Friedens und wachsenden Wohlstands.

Die Millionen deutscher Heimatvertriebenen haben dazu einen maßgeblichen Beitrag geleistet, beim wirtschaftlichen Aufbau des Landes wie bei der friedlichen Integration Europas. Damit ist auch insbesondere die Leistung der Vertriebenen in der DDR gemeint, die über ihr Schicksal nicht sprechen durften und darunter sehr gelitten haben. Doch auch sie haben ihre Heimat nicht vergessen, haben ihr Brauchtum weiterhin gepflegt und an die jüngere Generation weitergegeben. Diese Beharrlichkeit hat sich 1990 ausgezahlt, als das Recht auf Heimat in die sächsische Verfassung aufgenommen wurde. Darauf können die Vertriebenen und darauf können wir in Sachsen stolz sein.

 

Vor allem aber haben die Heimatvertriebenen sich von Anfang darum bemüht, freundschaftliche Kontakte zu den Menschen in ihrer alten Heimat zu knüpfen. Ohne das Engagement der heimatvertriebenen Ostpreußen und ihrer Familien beispielsweise gäbe es heute wesentlich weniger Leben in den Alltagsbeziehungen von Deutschen, Polen, Russen und Litauern. Denn sie beließen es nicht dabei, ihre alte Heimat zu besuchen. Sie haben dort auch Menschen kennen gelernt, für die Ostpreußen genauso Heimat war oder geworden war, die genauso an der Landschaft hingen und die historische kulturelle Vielfalt zu schätzen wussten.

Sie konnten die anfängliche Angst und Skepsis überwinden, die ihnen entgegengebracht wurde. Und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kamen sie nicht, um ihr Eigentum zurückzufordern. Sondern im Gegenteil um zu helfen, bei der Restaurierung von Kirchen, bei der Erhaltung von Friedhöfen, beim Ausbau von Bibliotheken.
Die Heimatkreisverbände der Landsmannschaft Ostpreußen engagieren sich hier in besonderer Weise. Sie übernehmen in vorbildlicher Weise Patenschaften mit polnischen Gemeinden, die nicht nur der deutschstämmigen Bevölkerung zugute kommen, sondern genauso den Polen – nicht mit irgendwelchen Rückforderungen im Hinterkopf, sondern aus Liebe zur Heimat.

Sie errichten Sozialstationen, schicken Hilfstransporte, helfen bei der Einrichtung von Alten- und Kinderheimen. Bei meinen Besuchen in Polen sehe ich immer wieder mit Freude, wie das Land aufblüht.

Für dieses großherzige und völkerverbindende Engagement möchte ich Ihnen ganz herzlich danken!

Deutsche und polnische Kommunalpolitiker treffen sich regelmäßig zu kommunalpolitischen Kongressen, die Bernhard Hinz so treffend als Teil der „eigenständigen kommunalen Außenpolitik“ der Heimatvertriebenen bezeichnet hat.

Ich freue mich ganz besonders, dass der nächste Kommunalpolitische Kongress der Landsmannschaft Ostpreußen im Oktober dieses Jahres in Dresden stattfinden wird, und ich darf Sie alle herzlich einladen, unsere Landeshauptstadt zu besuchen, die wir in den vergangenen 15 Jahren wieder wunderschön hergerichtet haben.

Mit ihrem vorbildlichen Engagement haben die Heimatvertriebenen, ihre Kinder und Enkel Brücken gebaut. Brücken in die gemeinsame Vergangenheit, die wir als europäische wieder erkennen. Brücken in der Gegenwart, zu unseren Nachbarn. Und Brücken in die Zukunft, in der die Regionen, die bisher von Grenzen zerschnitten worden sind, wieder europäisch sein werden.

Dass diese Brücken auch begangen werden, zeigt nicht zuletzt die jüngste Reportage des langjährigen ZDF-Korrespondenten in Moskau, Dirk Sager. Er berichtet in seinem Film „Königsberg – ferne fremde Heimat“ auch von den neuen Bewohnern, die in der Stalinzeit unter erbärmlichen Bedingungen nach Ostpreußen verpflanzt worden waren. Für sie ist die Geschichte ihrer Dörfer und Städte kein Tabu mehr – im Gegenteil: sie wollen ergründen, was einst den Reichtum dieser Kulturlandschaft ausmachte, den Reichtum ihrer neuen Heimat.

Umgekehrt akzeptieren die Heimatvertriebenen, dass die Menschen, die seit sechs Jahrzehnten dort leben, wo früher Deutsche lebten, auch ein Recht auf ihre neue Heimat haben. Heimat ist in diesem Verständnis nicht nur eine Erinnerung an eine Jahrzehnte zurückliegende Vergangenheit, sondern auch Gegenwart und Zukunft. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat das zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in die Worte gefasst:

 

„Die Völker Europas lieben ihre Heimat. Den Deutschen geht es nicht anders. Wer könnte der Friedensliebe eines Volkes trauen, das imstande wäre, seine Heimat zu vergessen? Nein, Friedensliebe zeigt sich gerade darin, dass man seine Heimat nicht vergisst und eben deshalb entschlossen ist, alles zu tun, um immer in Frieden miteinander zu leben. Heimatliebe eines Vertriebenen ist kein Revanchismus.“

Nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten haben die Heimatvertriebenen das immer wieder demonstriert. Ganz im Sinne der großen Ostpreußin Marion Gräfin Dönhoff, die gesagt hat:

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass der höchste Grad der Liebe zur Heimat dadurch dokumentiert wird, dass man sich im Hass verrennt gegen diejenigen, die sie in Besitz genommen haben. Wenn ich an die Wälder und Seen Ostpreußens denke, an die weiten Wiesen und alten Alleen, dann bin ich sicher, dass sie noch genauso unvergleichlich und schön sind wie damals, als sie meine Heimat waren. Vielleicht ist dies der größte Grad der Liebe: zu lieben, ohne zu besitzen.“

In diesem Geist sind die Heimatvertriebenen zu Vorreitern der europäischen Einigung geworden. Im Geist des Friedens, der Versöhnung, der Toleranz und der Achtung der Menschenrechte haben die Vertriebenen die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen.

Nach dem Krieg meinten viele, die Lehre laute: „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus.“

Dieser Satz verlangte und verlangt von uns, kriegerischen Bestrebungen und der nationalsozialistischen Ideologie entschlossen entgegenzutreten, Kriegstreibern und Rassisten in den Arm zu fallen. Wie schwierig die Umstände und wie groß die Herausforderungen auch immer sind, Nationalismus, Rassismus und Gewalt sind keine Lösung.

Aber schnell wurde deutlich, dass diese Antwort unzureichend ist.

Denn dieser Satz diente der DDR als staatslegitimierende Legende. Der sogenannte Antifaschismus rechtfertigte erneute Unfreiheit, Unterdrückung und Verfolgung, diesmal im Namen der kommunistischen Ideologie. Auch die Heimatvertriebenen mussten das leidvoll erfahren.

Antinationalsozialismus allein kann also nicht die Antwort sein.

Vielmehr müssen wir uns gegen jede Art von Unfreiheit und Unterdrückung wehren, auch wenn sie sich einen noch so humanistischen und fortschrittlichen Anstrich gibt.

Die wichtigste Lehre aber, die auch die Heimatvertriebenen gezogen haben, lautet: Wir müssen jeden Tag aufs neue für Freiheit und Demokratie eintreten, für Selbstbestimmung und die Menschenrechte jedes Einzelnen, für Toleranz und Weltoffenheit.

Denn nur dort, wo die Würde jedes Menschen respektiert wird, wo Meinungsfreiheit herrscht, wo Vielfalt gelebt wird und sich die Interessengruppen um einen fairen Interessenausgleich, um tragbare Kompromisse bemühen – nur dort haben Unfreiheit, Unterdrückung und Menschenrechts-verletzungen keine Chance.

 

Deshalb hat sich die Landsmannschaft Ostpreußen vor fünf Jahren von der Jungen Landsmannschaft Ostpreußen getrennt, weil sie rechtsextremistisches Gedankengut vertritt, dessen Folge schon einmal Krieg, Gewalt und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen sind, und eben auch die Vertreibung der Deutschen.

Deshalb auch haben sich die deutschen Heimatvertriebenen auf den Weg der Versöhnung begeben, und sie haben sich auch nicht von den Anfeindungen derjenigen beirren lassen, die ihnen Heimattümelei oder revanchistische Umtriebe nachsagten, die sie zu diffamieren und auszugrenzen versuchten.

Das war nicht leicht und dafür verdienen Sie alle großen Respekt!

Die Landsmannschaft hat den Dialog gesucht, von dem das Motto des Deutschlandtreffens spricht. Einen Dialog, der immer wieder an unsere Vergangenheit anknüpft. Denn nur, wer sich seiner Identität, seiner Herkunft sicher ist, kann sich einer anderen Kultur öffnen, ohne dass er sich von ihrer Andersartigkeit bedroht fühlt. Nur wer sein eigenes Volk liebt, kann andere Völker achten.

Das ist letztlich der Sinn von Heimat: verwurzelt zu sein, geborgen zu sein, Halt und Orientierung zu haben. Doch ohne sich selbst und die eigene Kultur absolut zu setzen. Denn wohin es führt, wenn ein Volk sich absolut setzt, das wissen wir Deutschen und das haben unsere Nachbarn leidvoll erfahren.

Wir sind es den Millionen von Opfern schuldig, weiterhin im Gespräch zu bleiben über Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Wir dürfen das Gespräch, das nach dem Ende des zweiten Weltkrieges so mühevoll begonnen worden ist, nie wieder abreißen lassen.

Mehr noch: wir müssen uns gegen alle wehren, die diesen Dialog stören wollen. Wir müssen denen Einhalt gebieten, die wieder mit nationalistischen Ideen und Parolen auf Stimmenfang gehen, und zwar hier bei uns in Deutschland wie leider auch in unseren Nachbarländern.

Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Radikalen die Zukunft Europas ruinieren, an der auch wir so lange und beharrlich gearbeitet haben. Das Menschenrecht auf Heimat ist bei solchen Leuten – das sage ich ganz ausdrücklich – denkbar schlecht aufgehoben.

Aber auch, meine Damen und Herren, wer einfach unter die Vergangenheit einen Schlussstrich ziehen will, tut unserem Dialog keinen Gefallen.
Denn wo Denk- und Sprechverbote herrschen, ist ein Gespräch nicht möglich – und damit auch eine Verständigung nicht. Schweigen schafft Misstrauen, und das kann auf Dauer nicht gut sein für Europa, auch wirtschaftlich nicht. Schließlich braucht auch ein einheitlicher europäischer Markt Vertrauen.

Was für ein wichtiges Kapital Vertrauen ist, das zeigt die Erfolgsgeschichte der europäischen Einigung. Und sie zeigt auch, dass Europa mehr ist als eine große Freihandelszone mit 455 Millionen Konsumenten. Europa ist eine Gemeinschaft von Menschen mit gemeinsamer Geschichte, Kultur und Werten.

Das sind die Ideen der Antike und die jüdisch-christliche Geistestradition. Dazu gehört auch die Renaissance, die den einzelnen Mensch in den Mittelpunkt rückt. Ebenso wie die Aufklärung, die den Gebrauch des Verstandes und Toleranz lehrt – wir alle denken dabei an den Königsberger Immanuel Kant.

 

All diese Geisteskräfte haben Europa geprägt. Jahrhundertelang haben wir Europäer das Individuum in den Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns gestellt. Die Würde des Menschen, die Achtung des freien Willens, die Kraft des menschlichen Verstandes ist Grundlage und Ausdruck unserer europäischen Kultur, unserer gemeinsamen europäischen Wurzeln jenseits unserer verschiedenen Sprachen.

Auf dieser Grundlage entstand seit dem Mittelalter unsere gemeinsame europäische Identität. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Wiedervereinigung Europas am 1. Mai vergangenen Jahres konnten wir uns auf diese Identität stützen, auch wenn sie oft verschüttet war. Sie ist, auch dank der Heimatvertriebenen, in den fast sechs Jahrzehnten von Diktatur und Spaltung in Europa nicht verloren gegangen. Das ist das Ergebnis des Dialoges, der auch in Zeiten der Teilung Europas nie abgebrochen ist, und der den deutschen Heimatvertriebenen, ganz besonders am Herzen lag – getreu dem Motto: „Im Dialog der Heimat dienen.“Diesen Dialog über Kultur- und Sprachgrenzen hinweg müssen wir immer wieder führen, so wie wir jeden Tag aufs neue um die Demokratie ringen müssen, die so leicht zu verlieren und so schwer zurück zu gewinnen ist. Beides setzt nicht nur eine gewisse Bereitschaft voraus, sondern auch das Wissen darum, was geschieht, wenn wir den Dialog abbrechen und uns von der Demokratie abwenden.

Wir erinnern deshalb zu Recht immer wieder an das Leid der Opfer des Nationalsozialismus. Und wir werden das auch tun, wenn keiner der Überlebenden von Krieg und Holocaust mehr lebt.

Genauso werden wir die Erinnerung an die heimatvertriebenen Deutschen und an den großartigen Beitrag wach halten, den Deutsche in den vergangenen Jahrhunderten zur Entwicklung von Regionen beigetragen haben, aus denen sie vertrieben wurden. Das Erinnern sind wir den Opfern und unseren Vorfahren schuldig.

Die Heimatvertriebenen haben sich dieser Aufgabe in vorbildlicher Weise gewidmet. Sich zu erinnern ist aber unser aller Pflicht. Niemand darf sich dem Erinnern entziehen, denn Geschichtsvergessenheit und bewusstes Verdrängen sind der Nährboden für neues Unglück. Das Erinnern an das, was tatsächlich geschah, ist kein Revanchismus und keine Verfälschung oder Relativierung der Geschichte. Im Gegenteil: Niemand hat das Recht, das Erinnern zu verbieten oder zu diskreditieren.

Die Geschichte der ehemals deutsch besiedelten Gebiete wach zu halten, an das Schicksal der Vertreibung zu erinnern und einen Dialog mit allen Völkern zu führen ist die Aufgabe jeder neuen Generation. Der Bundespräsident hat in seiner Rede zum 60. Jahrestag des Kriegsendes gesagt, dass er  großes Zutrauen zu den Jungen hat.

„Sie lassen sich nichts vormachen und fallen nicht auf falsche Versprechungen herein. Sie ringen um eigene Antworten und misstrauen jedem, der ihnen erzählt, er hätte schon alle Antworten. Sie sind weltoffen und stehen zu ihrem Land. Sie wissen, was ihre Eltern – die Generation der Kriegskinder – aufgebaut haben, und sie wollen etwas Eigenes leisten.“

Genau so sehe ich das auch, und deshalb bin ich zuversichtlich, dass die Jugend den Dialog fortführen wird, den Sie, die Heimatvertriebenen, mit Ihrer Charta vor 55 Jahren begonnen haben.

Sie wird dieses Gespräch auch weiterhin in Gang halten und im Interesse künftiger Generationen Europas Zukunft mitgestalten. Wir alle, die Jungen und die Alten wollen ein Europa, das das Recht auf Heimat von ganzem Herzen bejaht.

Allen Ostpreußen ein herzliches Glück auf!

Quelle:
www.sachsen.de/de/bf/reden_und_interviews/reden05/2005_05_21_milbradt.htm


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