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Paris, den 6. März 1923. Die von der BK (Botschafterkonferenz) nach Memel entsandte Sonderkommission beabsichtigt nicht, in diesem Bericht auf die schweren Verhandlungen zurückzukommen, die sie mit den Insurgentenführern zu dem Zwecke führte, den alliierten Hauptmächten die Möglichkeit zur freien Entscheidung über das Gebiet zu geben. Über die Schwierigkeiten der Aufgabe und über die Resultate hat sich die BK aus den an sie gerichteten Telegrammen genügend informieren können. Die Kommission beschränkt sich hier darauf, die dank den an Ort und Stelle angestellten Untersuchungen erzielte Wahrheit über einige sehr komplizierte, das MG (Memelgebiet) betreffende Fragen festzustellen, die die litauische Diplomatie und Propaganda mutwillig verschleiert und verdreht hat, und der BK gleichzeitig mit unparteiischen Belegen einige Gedanken mitzuteilen, die ihr vielleicht bei den Verhandlungen über das Memeler Statut von Nutzen sein können. Trotz gegenteiliger Behauptung der Mitglieder der litauischen Regierung und ihres Vertreters in Memel kann nicht abgestritten werden, daß der Gewaltstreich (coup de force) vom 10. Januar [1923] von der Kownoer Regierung erdacht, vorbereitet und eingeleitet worden ist. Erwähnenswert sind folgende Daten: Am 3. Januar [1923] begeben sich der litauische Vertreter für Memel, Filius, und der spätere Präsident der Insurgentenregierung, Simonaitis, gemeinschaftlich nach Kowno. In den Besprechungen am 4. Januar [1923] wird der Angriff auf das MG beschlossen. Das litauische Kriegsministerium erläßt sofort die nötigen Befehle. Soldaten und Offiziere der regulären Armee vertauschen ihre Uniformen mit Zivilkleidern. Vom 6. Januar [1923] ab werden sie auf Befehl der Militärbehörden mit einem ihnen unbekannten Ziel abtransportiert. Der Führer des Insurgentenheeres, der sich bei Unterzeichnung der im MG ausgehängten Aufrufe Budrys nennt, heißt in Wirklichkeit Polovinski und ist Oberst. Die Kommission nannte ihm seinen Namen und seinen Rang, wogegen er nicht protestierte. Zu erwähnen ist, daß Waffen, Munition und Lebensmittel für die „Freiwilligen'" von der Kownoer Regierung geliefert wurden. Das Geld gaben hauptsächlich die amerikanischen Litauer. Besondere Beachtung verdient auch das Datum, an dem der Gewaltstreich beschlossen wurde, der 4. Januar [1923]. Zu dieser Zeit trafen in Kowno Informationen über die ersten Resultate der Pariser Konferenz über die Reparationsfrage ein. Andererseits aber kann man sich fragen, ob die litauische Regierung, ohne dazu ermutigt worden zu sein, sich erdreistet hätte, ihre Truppen gegen das von den Großmächten besetzte Gebiet zu werfen. In diesem Zusammenhang kann die Tatsache nicht unerwähnt bleiben, daß gerade in dem Augenblick, als der litauische Gewaltstreich in Memel vor sich ging, die deutsche Regierung in Kowno ihren Vertreter akkreditierte und dadurch die Herzlichkeit der deutsch-litauischen Beziehungen hervorhob. Auch ist die Intervention der Bolschewikiregierung in der Memeler Frage und die Entsendung eines Sowjetabgeordneten nach Memel nicht zu vergessen. Es muß bemerkt werden, daß die militärischen Bemühungen Litauens von Anfang an recht stark waren; man schätzt, daß 2' bis 3000 Soldaten der regulären Armee die Grenze des Gebiets überschritten haben. Wenn die litauische Regierung es für nötig hielt, einen so großen militärischen Apparat gegen eine französische Jägerkompagnie zu verwenden, so tat sie es deshalb, weil sie wußte, daß ihre „Freiwilligen" nicht nur von der Mehrheit der Bevölkerung nicht unterstützt werden, sondern daß sie auch sonst keinen Rückhalt finden würden, außer bei einem Teil der Memeler Litauer, der sich um die Taryba scharte und deren Zahl nach Angaben, die der Vorsitzende des Hilfskomitees und der moralische Führer der Taryba, Herr Jankus, der Kommission machte, vor den Ereignissen des 10. Januar nicht größer als höchstens 8' bis 10000 Personen (1) war. Um die Gefühle und Bestrebungen der memelländischen Bevölkerung besser zu verstehen, ist es nötig, einen kurzen Überblick über die Geschichte des MG zu geben. Memel, die älteste deutsche Stadt in Ostpreußen, hat niemals zu Litauen gehört. Im 13. Jahrhundert (2) trafen Ritter vom Schwertbrüderorden, einem Zweige des Deutschen Ordens, aus Riga kommend, auf der Stelle ein, wo heute Memel steht, bildeten dort eine Kolonie und bauten eine Burg. Damals waren die Bewohner des nördlichen Gebietsteiles Letten, die des südlichen Gebietsteiles Litauer (3). Hinsichtlich der Rasse sind die Litauer, Letten und alten Preußen Brüder. Sie gehören alle zur baltischen Familie, und es ist kaum nötig zu erwähnen, daß sie mit den Slawen nichts gemein haben. Die Bewohner des MG wurden stark germanisiert. In der Stadt wohnen fast nur Deutsche (4). Anders kann es ja auch nicht sein, da die deutsche Grenze seit 500 Jahren (5) (6) unverändert geblieben ist. Diese Tatsache ist sehr wichtig. Sie bringt Konsequenzen mit sich, auf welche die Kommission aufmerksam geworden war, von denen sie aber sich selbst zu überzeugen für nötig hielt. So fuhr sie bis an die Grenzet Litauens. Die Ostgrenze des MG, die frühere russisch-deutsche Grenze, stellt eine wirkliche Scheidung ohne Übergang zwischen zwei verschiedenen Zivilisationen dar. Mindestens ein Jahrhundert trennt sie voneinander. Es ist eine richtige Grenze zwischen West und Ost, zwischen Europa und Asien! Hier ist die Bildung so weit fortgeschritten, daß nicht einmal unter den Dorfbewohnern, von denen eine große Anzahl litauisch und deutsch zugleich spricht, Analphabeten zu finden sind. Eine große Anzahl guterhaltener Wege verbindet die Dörfer untereinander. Die Gebäude sind wohlgebaut und bequem. Das Land wird nach den neuesten Methoden bearbeitet. Der Kleinbesitz entfaltet sich ebenso wie der Großbesitz. Dort dagegen sind die Dorfbewohner verelendet; nur die im russischen Heer gedienten Männer haben ein wenig rudimentäre Bildung genossen. Wege sind wenig oder überhaupt nicht vorhanden. Der Bauer, der das Land nicht zu säubern und zu düngen versteht, läßt es zwei Jahre brach liegen, bis er es neu bestellt. Die Holzbude, in der er wohnt, ist klein und schmutzig. Die Bodenreform hat jetzt alles desorganisiert; wenn sie bis zu Ende durchgeführt sein wird, dann wird sie den ganzen litauischen Großgrundbesitz vernichten, der schon heute sehr gelitten hat und der bisher die einzige einigermaßen organisierte Landausbeutungsform darstellt. Es können auch noch andere Unterschiede angeführt werden. Die Bewohner Großlitauens sind Katholiken, dagegen sind die Bewohner des MG Protestanten. Die litauische Sprache hat sich nicht in gleicher Weise dies- und jenseits der Grenze entwickelt. Ein großer Teil der Litauer memelländischen Stammes fürchtet sich vor einem Anschluß an Litauen ohne genügende autonome Garantien, denn sie wissen ganz gut, was sie dann zu erwarten hätten: Heeresdienst, hohe Steuern, Verteuerung des Lebensunterhalts um 400%, z. T. infolge der Einführung sehr hoher Zölle, Desorganisation des Wirtschaftslebens, Bestechungswesen und Günstlingswirtschaft, - Dinge, die allen Gebieten anhaften, die sich aus den Trümmern Rußlands gebildet haben. Andererseits zeigen sich aber auch die Deutschen des MG weniger an ihr deutsches Vaterland gebunden, als die in den anderen Gebieten des Reiches wohnenden Deutschen. Das mag darauf zurückzuführen sein, daß die Regierung Ostpreußens auf sie als auf ein armes Volk sah und unter Außerachtlassung Memels Königsberg bevorzugte, oder, daß sie sich, wie in vielen Grenzstädten, aus völkisch sehr verschiedenartigen Elementen zusammensetzen. Die ausgezeichnete Verwaltung des Gebiets durch den Oberkommissar der alliierten Hauptmächte hat vielen Memelländern gezeigt, daß sie in einem weise verwalteten kleinen Staat ihre Angelegenheiten besser erledigen und infolge geringerer Steuern schneller wohlhabend werden können als ihre Brüder in Königsberg. Ohne Zweifel haben diese Gründe auch den größten Teil der Bewohner dazu veranlaßt, eine Lösung zu begrüßen, die die Konstituierung des Gebietes als Freistaat in sich schloß. Bei vielen Besprechungen konnte die Kommission dieses feststellen. Während sich sämtliche Führer der Deutschen, mit denen die Kommission zusammentraf, für einen Volksentscheid über die Unabhängigkeitsfrage des MG aussprachen, zeigte kein Taryba-Litauer den Wunsch nach einem Plebiszit. Diese Tatsache zeigt deutlicher als alle Statistiken, daß die Mehrheit der Bevölkerung nicht litauisch ist (7). Andererseits kann man augenscheinlich in wirtschaftlicher Hinsicht sagen, daß Memel der Hafen Litauens ist, wobei aber zu bemerken ist, daß, solange nicht geeignete Bahnen vorhanden sind, nur der Teil des Gebiets diesen Ausgang zum Meer wird benutzen können, der an den Memelfluß grenzt. Aber Memel ist zumal der Hafen des Gesamtbeckens (8) dieses gewaltigen Stromes. Einen neuen Beweis dieser Wahrheit liefert die Statistik. Vor dem Kriege, als der Memelstrom den polnischen und russischen Produkten offen stand, setzten sich die über Memel ausgeführten Holzmengen zusammen wie folgt:
Ohne Zweifel hat Litauen seit 1920 - seit diesem Jahr hindert die Kownoer Regierung die Durchfuhr polnischen und russischen Holzes auf der Memel - seine Holzausfuhr gesteigert, was es um so leichter tun konnte, als es die Konkurrenz der polnischen Hölzer, die von besserer Qualität sind, nicht zu fürchten hatte. Aber die litauischen Behörden sind mit einer unmäßigen Ausbeutung der Wälder vorgegangen, die schon von den Deutschen während des Krieges einem intensiven Einschlag unterzogen worden waren. Litauen wird eine solche Beanspruchung nicht mehr lange aushalten können, und es ist ein bedeutender Rückgang der Produktion und Ausfuhr seiner Hölzer vorauszusehen. Außerdem ist noch etwas anderes zu bemerken. Wie die meisten Häfen kostet auch der Memeler Hafen, statt einen Ertrag abzuwerfen, viel Geld und bildet deshalb eine Last für den Staat. Dank der sehr klugen alliierten Verwaltung hat das Gebiet das seltene Glück gehabt, nicht nur sein Budget auszugleichen, sondern noch einen Überschuß zu erzielen, der es ihm gestattete, bedeutende Arbeiten an der Vertiefung, Verbesserung und Vergrößerung des Memeler Hafens vorzunehmen. Die Haupteinnahmequelle des MG sind jedoch die Zölle. Wenn Memel durch den Anschluß an Litauen seiner Zollautonomie verlustig ginge und keine festen Garantien dafür erhalten würde, daß für den Ausbau bzw. Unterhalt des Hafens die nötigen Summen bereitgestellt würden, dann ist zu befürchten, daß der verlassene Hafen bald versandet. Übrigens enthielt der Memeler Zolltarif unter der alliierten Verwaltung nur ganz niedrige Sätze (10) für Ein- und Ausfuhr und fast gar keine Verbote. Ganz im Gegensatz hierzu ist das litauische Zollsystem protektionistisch im Übermaß; die Einfuhrzölle gehen bis zu 50% des Wertes (11). Die Ausfuhr ist verboten, vorbehaltlich einer Genehmigung des litauischen Handelsministers. Sie wird im übrigen durchweg besteuert; die des Holzes (12) mit 10 bis 25 Litas (13) pro Kubikmeter. Die Durchfuhr ist ohne Genehmigung des zuständigen Ministers verboten. Außerdem ist in der Praxis für jede Einfuhr die von einem litauischen Konsul ausgestellte Bescheinigung des Wertes der eingeführten Waren erforderlich. Diese Bescheinigung muß in den Einzelheiten ganz genau sein; fehlt eine von ihnen, so erhöht sich der Tarifsatz um 50 %. Wenn die Waren nicht in einer ganz kurzen Frist nach der Ausstellung der Bescheinigung an der Grenze ankommen, wird der Wert nicht mehr nach dem Einkaufspreise taxiert, sondern nach dem jeweiligen Tageskurse. Die Zollbeamten haben das Recht, alle Waren, deren Wert nicht ganz genau deklariert worden ist, zu konfiszieren und versteigern zu lassen. Für Fakturen, Zertifikate, Deklarationen und die fast immer erforderlichen Dokumente sind hohe Stempelgebühren zu entrichten. Der Handel wird also nicht nur durch die Zolltarife erschwert, sondern auch durch einen Wust von Scherereien. In politischer Hinsicht und im Interesse der Allgemeinheit wäre es letzten Endes besser, wenn Memel unter der Kontrolle eines vom Völkerbund ernannten Oberkommissars unabhängig bleiben würde. Der Torwächter des in Memel seinen Ausgang findenden Riesengebiets darf nicht in örtliche Streitigkeiten verwickelt werden. Er hat unter Berücksichtigung der Gesamtinteressen den Hafen verständnisvoll und vorsichtig zu verwalten. Wenn man berücksichtigt, daß ein gut ausgebauter Hafen und die Entwicklung und das Wohlergehen des Gebiets im allgemeinen Interesse liegt, so wäre nach Ansicht der Kommission die Konstituierung Memels als unabhängiger, von einem Oberkommissar beaufsichtigter Staat die bei weitem beste Lösung. Die Kommission weiß jedoch sehr gut, daß die Memeler Frage nicht abstrakt gelöst werden kann und daß die Hoffnungen, die die Antwort (14) des Obersten Rats an Graf Brockdorff-Rantzau vom 16. Juni 1919 in Kowno erweckt hat, in den voreingenommenen Augen der von der Idee der Wiedererrichtung Groß-Litauens geplagten Litauer eine Art Verpflichtung bildeten, Memel an Litauen anzugliedern. Wofern nicht die Alliierten sich bewogen fühlten, gegenüber der Kownoer Regierung eine sehr kräftige Politik zu treiben, die dieselbe gezwungen hätte, den freien Transit auf der Memel zu gewährleisten, so war der Anschluß eine politische Notwendigkeit. Aber die Alliierten, denen das MG gemäß dem Versailler Friedensverträge übergeben worden ist, haben die Pflicht, darauf zu achten, daß der Anschluß unter Bedingungen erfolge, die dem Hafen auch weiterhin die wichtige Rolle belassen, die er als Ausgang des Memelstrombeckens spielt. Der Beschluß der BK, der zu gleicher Zeit der Kownoer und der Memeler Regierung mitgeteilt worden ist, hat die Bedingungen treffend auseinandergesetzt, unter denen Litauen die Souveränität über das MG erhalten wird; er hat aber nicht alles genau umschreiben können. Deshalb will die Kommission das Augenmerk der Konferenz auf einige Präzisierungen richten. Der Kownoer Seim nahm in seiner Sitzung am 25. Januar [1923] (15) den Beschluß der Heydekrüger Taryba, der den Anschluß des MG mit autonomen Garantien in Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit, Schule, Kultus, Landwirtschaft, Sozialversicherung und inneren Angelegenheiten verlangte, mit großem Enthusiasmus auf. Die Zoll-, Staatsangehörigkeits- und Beamtenfragen, die doch auch von besonderer Wichtigkeit sind, wurden in dem Manifest aber nicht erwähnt. Da Bestimmungen über diese Fragen ebenfalls in dem organischen Statut des MG und in der Konvention, die laut Beschluß der Konferenz mit Litauen abgeschlossen werden soll, enthalten sein müssen, will die Kommission darüber einige Aufklärung geben. Zuerst erscheint es ihr notwendig, darauf hinzuweisen, daß die Übergabe der Souveränität über ein Gebiet nicht unbedingt auch eine Zollunion zur Folge haben muß. Zum Beispiel war Finnland, das vor dem Kriege auch einen Teil Rußlands bildete, in der Zollfrage vollständig unabhängig (16). Es wäre zu wünschen, daß auch das MG seine Tarife selbständig regeln könnte, da die Zölle die wichtigste Einnahmequelle darstellen und die Erhaltung und der Ausbau des Memeler Hafens große Summen verlangen. Sollte die Kownoer Regierung, was anzunehmen ist, in diesem Punkt Zugeständnisse nicht machen wollen, dann müßte darauf bestanden werden, daß zur Erhaltung des Hafens ein Teil der Einnahmen aus den Zöllen dem Gebiet garantiert wird. In diesem Zusammenhang ist es angebracht, auf die am 24. November 1922 abgeschlossene Konvention hinzuweisen, die die Bedingungen des Eintritts der Freien Stadt Danzig in die Zollunion mit Polen festlegt. Der von beiden Teilen abgeschlossene Vertrag bestimmt, daß die Zolleinnahmen Polens und der Freien Stadt Danzig in eine gemeinsame Kasse fließen und daß die Stadt einen der Bewohnerzahl entsprechenden Teil erhält, der mit 5 multipliziert wird. Diese Berechnung ist festgesetzt worden, weil ein Danziger mehr einführt, als fünf Polen. Auch für Memel könnte eine Proportion der Zolleinnahmen festgestellt werden dadurch, daß der Wert der Ein- und Ausfuhr auf je einen Bewohner des MG und Litauen errechnet wird. Wenn man z. B. das erste Vierteljahr 1922 nimmt, so betrug der Wert pro Kopf für die Einfuhr nach Litauen 490 Mark und für die Ausfuhr 321 Mark, dagegen in Memel die Einfuhr 4430 Mark und die Ausfuhr 3.307 Mark. Daraus folgt, daß ein Memelländer in dem fraglichen Vierteljahr so viel eingeführt hat wie 9,4 Litauer und so viel ausgeführt hat wie 11,2 Litauer. Es müßte der ungefähre Durchschnitt aus diesen Ziffern genommen und dann der memelländische Teil des Quotienten mit 10 multipliziert werden, um das zu erhalten, was Memel als Anteil an den Zolleinnahmen zustehen würde. Auch die Frage der Staatsangehörigkeit der Memeler Bürger ist sehr wichtig. Falls es schwer sein würde, für die Memeler eine andere StA als die litauische zu erhalten, dann müßte wenigstens, wie es in Galizien (17) der Fall war, bestimmt werden, daß den Memelern litauische Pässe mit der Bemerkung „Memelländer" zu erteilen sind. Diese Pässe müßten die memelländischen Behörden ausstellen, die allein in der Lage sind, die Mitteilungen über Geburt und Wohnsitz der Gebietsangehörigen in zuverlässiger Weise nachzuprüfen. Die Frage des Staatseigentums ist deshalb von großer Bedeutung, weil die Einnahmen aus den Staatsforsten im Budget des Memeler Gebiets die zweite Stelle einnehmen. Deshalb wäre es auch zu wünschen, daß das frühere, dem Deutschen Reich gehörige Gut und Eigentum nicht an Litauen, sondern an das MG fällt. Bei dieser Gelegenheit muß bemerkt werden, daß die Kownoer Regierung die Ausbeutung ihrer Wälder mit solcher Nachlässigkeit und Unkenntnis der Grundsätze der Forstwirtschaft betrieben hat und noch betreibt, daß es zu bedauern wäre, wenn auch die Wälder des MG dieser Methode verfallen würden. Eine andere Frage, die Aufmerksamkeit verdient, ist die Beamtenfrage. Gegen eine Verwendung von litauischen Beamten im MG würde nichts einzuwenden sein, wenn auf Grund dessen nicht auch die memelländischen Beamten beanspruchen könnten, in der Verwaltung Litauens zugelassen zu werden. Eine solche Verwendung könnte schwerwiegende Folgen haben. Die Deutschen des MG, die gebildeter und intelligenter als die Litauer sind, würden schnell die höchsten Stellen erreichen und auf diese Weise die Oberhand des Reichs Litauen gegenüber noch vergrößern. Unter diesen Verhältnissen scheint es besser, wenn Memel seine eignen Beamten behält. Die Einstellung von litauischen oder aus Deutschland kommenden Beamten in memelländische Beamtendienste müßte entweder ganz verboten oder wenigstens begrenzt werden. Die Kommission unterbreitet diese Vorschläge der BK zur Beachtung. Sie weiß, daß es unter den heutigen Verhältnissen sehr schwer sein wird, die Litauer zu ihrer Annahme zu bewegen. Sie werden sich nur unwillig einer Einmischung der Alliierten in die Beziehungen Litauens zum MG unterwerfen, denn sie erstreben im Grunde die reine, glatte Annexion. Die Kommission hat mit den Litauern zu lange in Verbindung gestanden, als daß sie nicht wüßte, daß Verhandlungen mit den Litauern sehr schwer sind. Außerdem ist die Frage des MG so eng mit der litauisch-polnischen Grenzfrage verbunden, daß es unmöglich wäre, die erstere früher zu lösen als die zweite, die nach Ansicht der Kownoer Regierung grundlegend ist. Selbst dann, wenn die litauische Regierung das Memeler Statut gemäß den von der Kommission zum Ausdruck gebrachten Wünschen annehmen würde, möchte die Kommission behaupten, daß, solange nicht gute Beziehungen zwischen Kowno und Warschau wiederhergestellt sind, sämtliche Versprechungen der litauischen Regierung über das MG und den freien Transit nur auf dem Papier stehen. Aus diesem Grunde hält es die Kommission für ihre Pflicht, die BK auf die Notwendigkeit hinzuweisen, daß das Memeler Statut unter die Kontrolle des VB (Völkerbund) gestellt wird. Paris, den 6. März 1923. gez. Clinchant, Aloisi, Fry
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Abkürzungen:
französischer Originaltext
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