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Wofür wir etwas können.
Kolumne von Stefan Scheil
„Ich kann auch nichts dafür, daß Polen zuerst mobilisiert hat.“ Mit diesen Worten über das Frühjahr 1939 hat die Vertriebenenfunktionärin Erika Steinbach vor einiger Zeit einen krachenden Skandal ausgelöst. Möglicherweise deshalb verschwieg die FAZ neulich in einem Beitrag über den „Scheinsieg der Gemäßigten“ sicherheitshalber, daß dies auch für die Tschechoslowakei des Jahres 1938 gilt. Es galt schließlich, 75 Jahre Münchener Abkommen zu bewältigen.
Dabei sind die Fakten klar und gesichert. Am 21. Mai 1938 machte die tschechoslowakische Armee mobil und löste damit eine gesamteuropäische Krise aus, da man allgemein erwartete, kurz vor einem Krieg zu stehen. Als Grund für diesen Schritt wurden von der Regierung in Prag angebliche deutsche Truppenbewegungen genannt. Diese Behauptung hatte allerdings einen Schönheitsfehler: sie war frei erfunden.
Es folgten Dementis aus Berlin und Kontrollreisen westlicher Militärattachés auf der vergeblichen Suche nach deutschen Truppenbewegungen. Das Außenministerium bestellte den tschechoslowakischen Botschafter ein, und Minister Ribbentrop mahnte ihn an, Prag müßte mit den Falschmeldungen aufhören, sonst würden solche Truppenstationierungen eines Tages noch Realität werden. Nach ein paar Tagen hob die Tschechoslowakei schließlich die Alarmbereitschaft auf, und in Europa entstand der verbreitete und wohl gewollte Eindruck, Deutschland sei vor der tschechischen Entschlossenheit zurückgewichen. In Prag klopfte man sich auf die Schulter.
Vor 75 Jahren viele gegenseitige Bedrohungen und Provokationen
Weniger bekannt ist übrigens, daß ein einflußreicher britischer Politiker namens Winston Churchill über seine guten Kontakte nach Prag die dortige Regierung vorher aufgefordert hatte, die Nationalsozialisten zu provozieren. Wörtlich sagte er: „Er würde 50:1 wetten, daß Deutschland in nächster Zeit die Tschechoslowakei nicht angreifen werde. Er sagte ausdrücklich, er würde es vorziehen, wenn die Tschechoslowakei einen Krieg hervorrufen würde.“ Zugleich sagte er für das Jahr 1938 den sicheren Sieg in einem solchen Konflikt voraus. Das war am 21. April 1938. Im Prager Außenministerium fertigte man eine entsprechende Notiz an.
Die Einlassungen von FAZ-Redakteur Rainer Blasius über eine ausschließlich von der NS-Führung ausgehende Dynamik hin zu Krise und Krieg werden von den Fakten nicht gedeckt. Und nicht nur das. Auch der „Anschluß“ Österreichs – den er ebenfalls einer deutschen Initiative zuschreibt – hätte kaum zu dieser Zeit oder in dieser Form stattgefunden, hätte nicht Österreichs Kanzler Schuschnigg mit Londoner Rückendeckung versucht, die Nationalsozialisten durch eine – verfassungswidrige – Blitzabstimmung zu übertölpeln. Er wollte sich den Volkswillen zur dauerhaften Unabhängigkeit bescheinigen lassen. Sicherheitshalber sollten nur Stimmzettel mit „ja“ ausgegeben werden.
Es gab vor 75 Jahren viele gegenseitige Bedrohungs- und Provokationsszenarien. Mobil gemacht wurde an entscheidenden Stellen nicht zuerst in Deutschland. Für diese vergangene Realität der Jahre 1938/39 „kann heute niemand etwas“. Dafür, daß sie verschwiegen wird, aber schon.
Stefan
Scheil, Historiker, 1963 in Mannheim geboren, Studium der Geschichte und
Philosophie in Mannheim und Karlsruhe, Dr. phil. 1997 in Karlsruhe. Er ist
Autor zahlreicher Buchveröffentlichungen zur Vorgeschichte und Eskalation
des Zweiten Weltkriegs, sowie zum politischen Antisemitismus in Deutschland,
träger des Gerhard-Löwenthal-Preises für Journalisten 2005, verheiratet und
Vater von zwei Kindern. |
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