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»Österreich ist das, was übrig bleibt« Nach dem Ende Österreich-Ungarns hatten die politischen Kräfte in Wien mit drückenden Problemen zu kämpfen, die mit der Gründung der neuen „Republik Deutsch-Österreich“ einhergingen: Verhinderung diverser Putschversuche, Versorgung der notleidenden Bevölkerung sowie schließlich der von den Siegern des Ersten Weltkrieges diktierte Pariser Vorortvertrag – sozusagen das österreichische „Versailles“–, der Friedensvertrag von Saint Germain. Für die Eliten des alten Reiches, für Armee und Beamtenschaft, bedeutete der Zerfall der Monarchie ein schmerzliches Debakel. Wie sehr die Politiker an der Lebensfähigkeit des neuen Staates zweifelten, lässt sich schon aus der Bezeichnung „Deutsch-Österreich“ ablesen: dies war der Name, den die Nationalversammlung in Wien am 12. November 1918 dem Staat gab. Gleichzeitig wurde der Anschluss an das Deutsche Reich beschlossen. Außerdem legte ein Gesetz die Grenzen des Staatsgebietes fest: So sollte das deutschsprachige Südtirol ebenso zu „Deutsch-Österreich“ gehören wie Teile der heute slowenischen Untersteiermark mit Marburg an der Drau (Maribor) sowie das Sudetenland mit drei Sprachinseln. Diese Pläne stießen sofort auf massiven Widerstand. Die Vertreter der eben erst proklamierten Tschechoslowakei lehnten Verhandlungen über das Sudetenland genauso wie eine Volksabstimmung in den betroffenen Gebieten ab, und Südkärnten war seit dem Spätherbst von slowenischen Truppen besetzt, die den Anspruch Jugoslawiens auf große Teile Kärntens untermauerten. Daran gemessen waren die Verhandlungsziele, welche die Nationalversammlung am 7. Mai 1919 für die Friedenskonferenz formulierte, hoch gesteckt. So wollte man unter anderem für die Sudetengebiete das Selbstbestimmungsrecht gemäß dem „14-Punkte-Plan“ des US-Präsidenten Woodrow Wilson durchsetzen. Staatskanzler Karl Renner, der designierte Delegationschef, betrachtete die Ziele als überzogen. Am 7. Mai, als man bereits die Friedensbedingungen für das Deutsche Reich kannte, äußerte er sich vor seiner Abreise: „Nach der Unglücksbotschaft von gestern wird der Gang, den die Friedensdelegation jetzt unternimmt, nicht so sehr einem Gang an den Beratungstisch als einem Bußgang gleichen.“ Als die Delegation in Paris eintraf, wurde sie in Saint Germain-en-Laye praktisch interniert. Die am 2. Juni überreichten Friedensbedingungen bestätigten Renners Pessimismus voll und ganz. So sollte die Grenze der ehemaligen Kronländer Nieder- und Oberösterreich gegenüber Böhmen und Mähren die Grenze zu Tschechien bilden. Dahinter stand nicht nur der Wille der Prager Regierung, sondern auch das Interesse Frankreichs, der neuen militärischen Führungsmacht, an einer starken Tschechoslowakei als Verbündetem gegen Deutschland. Renner argumentierte hingegen, dass die betroffenen 3,1 Millionen Deutschen in einem geschlossenen Siedlungsgebiet lebten. Die Berufung Prags auf die „historischen Grenzen“ war höchst anfechtbar, denn man verwarf dieses Prinzip umgehend, als es um die Forderung nach slowakischen Gebieten ging, die innerhalb der seit etwas über 1000 Jahren unveränderten Nordgrenze Ungarns lagen. Auch im Falle Südtirols musste die Delegation eine Niederlage hinnehmen. Seit einem Geheimvertrag vom 26. April 1915 mit der Entente strebte Italien nach dem „cisalpinen“ Tirol mit seiner „natürlichen“ Grenze am Brenner. Die italienischen Vertreter pochten auf diesen Vertrag, und Präsident Wilson beugte sich der Forderung, obwohl der neunte seiner „14 Punkte“ vorgesehen hatte, die Grenzen Italiens entlang „klar erkennbarer Linien der Nationalität“ zu ziehen. Er verwarf auch den Plan einer direkten Verbindung zwischen Nord- und Osttirol entlang des Pustertales. Das Festhalten Italiens am Prinzip der Wasserscheide widersprach aber nicht nur dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, sondern war auch insofern willkürlich, als es bei kaum einer europäischen Grenze Anwendung fand und findet. Während die österreichische Delegation im Falle der Untersteiermark nachgeben musste, erreichte sie wenigstens, dass in Kärnten eine Volksabstimmung in den strittigen Gebieten angesetzt wurde. Sie erbrachte am 20. Oktober 1920 ein deutliches Votum zugunsten des Verbleibs bei Österreich. Dennoch musste Kärnten Gebietsverluste hinnehmen. Den einzigen Erfolg erzielte die Delegation, als die Siegermächte der Abtretung von Teilen Westungarns, des Burgenlandes, aber außer seiner Landeshauptstadt Ödenburg (Sopron), an Österreich zustimmten. Der Unterzeichnung des Friedensvertrages am 10. September 1919 war starker Druck der Siegermächte vorausgegangen, die sogar mit dem Einmarsch in Österreich drohten. Die Alliierten gestanden Wien nur eine Berufsarmee im Umfang von 30000 Mann zu und sicherten sich Pfandrechte auf alle Staatseinnahmen. Der Staatsname „Deutsch-Österreich“ wurde verboten. Indem die Alliierten ein verhülltes Verbot des Anschlusses an das Deutsche Reich erließen, schufen sie reichlich Zündstoff für die künftige Entwicklung Österreichs. Das Anschlussverbot, das vor allem Frankreich gefordert hatte, rief starke Emotionen in der Bevölkerung hervor. So ergaben 1921 Volksbefragungen in Tirol und Salzburg überwältigende Mehrheiten zugunsten des Anschlusses. Offenbar fühlten sich zahlreiche Bürger als Verlierer des Weltkrieges solidarisch mit den Reichsdeutschen, die ebenfalls den Krieg verloren hatten. Wenn auch der Anschlusswunsch an Aktualität verlor, verliehen ihm die Nationalsozialisten ab 1933 eine neue, brisante Stoßkraft, die eine der Voraussetzungen für den reichsdeutschen Einmarsch in Österreich 1938 bildete. Somit trat derjenige Fall ein, den Frankreich 1919 unbedingt hatte verhindern wollen. Aus heutiger Sicht übte das Anschlussverbot eine höchst zweischneidige Wirkung aus. Da auch Ungarn im Vertrag von Trianon vom 4. Juni
1920 enorme Gebietsverluste hinnehmen musste, gab es einen weiteren Staat, der
nach „Revision“ strebte. Alles in allem: 1919 hatten sich nicht die „14 Punkte“
Wilsons, sondern die Siegermächte durchgesetzt, die Österreich nur die Rolle
eines geopolitischen „Puffers“ zwischen den Nachfolgestaaten der alten Monarchie
und den am Donauraum interessierten Mächten zubilligten. So wurde das harte Wort
des damaligen französischen Ministerpräsidenten Georges Clemençeau Tatsache:
„Österreich ist das, was übrig bleibt!“ - Heinz Magenheimer
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