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Unterzeichnung des Versailler Vertrags am 28.06.1919: Anders als in der griechischen Tragödie, wo der Fluch der Atriden mit dem Ehebruch des Thyestes einsetzt, ist in der realen Geschichte der Beginn des Unheils nicht klar datierbar. Die Rekonstruktion des Geschehens, die Zuteilung von Schuld, hängen von Perspektive und Intention des Historikers ab. Was die deutsche Tragödie betrifft, die hinter allen Inszenierungen zum Gedenkjahr 2009 hervorscheint, so fanden Nachkriegsdeutsche einst Trost in Worten des Bundespräsidenten Theodor Heuß. 1932 schrieb Heuß – der am 20. März 1933 im Häuflein der Deutschen Staatspartei dem Ermächtigungsgesetz zustimmte – über „Hitlers Weg“: „Die Geburtsstätte der nationalsozialistischen Bewegung ist nicht München, sondern Versailles. […] Das politische Instrument, das den Namen Versailles trägt, ist die eigentliche Kraftquelle, von der die nationalsozialistische Bewegung seit ihrem geformten Beginn genährt wird.“ „Revisionismus“? Es geht um die Hintergründe und Fakten, die Ursachen, Voraussetzungen und Akzidentien der Tragödie, die, in den Worten der Widerstandskämpfers Hans-Bernd von Haeften, in Hitler den „großen Vollstrecker des Bösen“ fand. Die seit Fritz Fischers Kriegszielthesen vorherrschende, mit der Psychologie des Schuldprotestantismus vermengte Neigung zur deutschen Selbstanklage unterliegt längst der Revision. Die tieferen Ursachen der „deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) werden wieder in der Großmachtrivalität, in der dank Industrialisierung potenzierten Machtchancen der Eliten sowie der an nationalen Machtträumen auch materiell partizipierenden Massen erkannt. Es fehlte der geeignete Partner Von allen Faktoren, die vor 1914, den Krieg von Krise zu Krise näher rücken ließ, relativieren sich die diplomatischen faux pas, das imperiale Gebaren sowie der von England als Herausforderung wahrgenommene Tirpitzsche Flottenbau. Nicht das „unruhige Reich“ (Michael Stürmer), sondern seine bloße Existenz, sein immenser Aufstieg nach 1871, trieben die nach Abschluß der Triple-Entente (1907) im Bündnismechanismus angelagerten Spannungen zur Entladung. Ob das Reich dem von Bismarck befürchteten cauchemar des coalitions hätte entkommen können, ist eine spekulative Frage. Es fehlte der geeignete Partner, nicht zuletzt in Rußland, ungeachtet aller Friedensliebe des Zaren Nikolai II. Unverzeihlich erscheint post eventum das militärisch-strategische Korsett, das der Generalstab mit dem Schlieffen-Plan der deutschen Politik angelegt hatte. In der Julikrise 1914, in der, von Generalstabschef Moltke abgesehen, nicht die Deutschen, nicht der sprunghafte Kaiser Wilhelm II., zu den Treibern gehörten, entglitt die Entscheidung der Politik. Lord Lothian, in Versailles Privatsekretär des Premiers Lloyd George, befand 1937: „Was schließlich, nach den strategischen Tatsachen, die damals jedem bekannt waren, den Krieg unvermeidlich machte, war die Mobilmachung der russischen Armee, die den Schlieffenplan automatisch in Gang setzte.“ An dem Punkt, wo interessierte Elemente in Militär und Politik eigenmächtig die Teilmobilmachung zur Generalmobilmachung ausdehnten, finden Verschwörungstheorien ihren realen Anknüpfungspunkt. Von Sarajevo führte noch kein direkter Weg in die europäische „Urkatastrophe“ (George F. Kennan). Indes führte nach der deutschen Kriegserklärung an Rußland am 1. August 1914 die Logik des Krieges zur Oktober-Revolution, über den „Siegfrieden“ von Brest-Litowsk (3. März 1918) zum Diktatfrieden von Versailles. Und in der von den Spätfolgen von Versailles zerrütteten Weimarer Republik gelangte der als Putschist gescheiterte Weltkriegsgefreite Adolf Hitler an die Macht. Die vorübergehende Öffnung der Moskauer Archive hat die Heußsche Wahrnehmung von „Hitlers Weg“ eindrücklich bestätigt. Entgegen seinen Selbststilisierungen zählte der Wiener Bohemien Hitler anfangs zu den „Roten“. Am 26. Februar 1919 nahm er am Trauerzug für den von Graf Arco ermordeten Kurt Eisner teil, der mit dem Sturz der Wittelsbacher in München die deutsche November-Revolution eingeleitet und durch einseitige Offenlegung verfügbarer Akten einen völkerverbindenden Frieden mit den Westmächten zu erreichen vermeinte. Noch im April fungierte Hitler als Soldatenrat der Münchner Räterepublik. Die Konversion zum rechtsradikalen Judenhasser erfolgte, nachdem bei einer Protestversammlung gegen „Versailles“ ein Propagandaoffizier der Reichswehr Hitlers Rednertalent entdeckt hatte. Der im bürgerlichen Leben gescheiterte Hitler verdankt seine historische Größe dem historisch präzedenzlosen Friedensdiktat von Versailles und dem darauf gegründeten System, dem das Scheitern eingeschrieben war. Sie führten Wilson zu den Kriegsgräbern Die Rolle von Persönlichkeiten, von großen und kleinen Männern, wird derzeit parallel zu den großen „Erzählungen“ von der Geschichtsschreibung gerade wiederentdeckt. Der Anthropologe und Kybernetiker Gregory Bateson schrieb 1966: „Vier Männer setzten schließlich den Vertrag auf: Clemenceau, genannt „der Tiger“, der Deutschland zermalmen wollte; Lloyd George, der es für politisch zweckmäßig hielt, aus Deutschland reichlich Wiedergutmachungen herauszupressen und darüber hinaus wenigstens ein bißchen Vergeltung zu üben; und Wilson, der unentwegt hinters Licht geführt werden mußte. Immer wenn Wilson anfing sich zu wundern, was aus seinen Vierzehn Punkten geworden war, fuhren die andern mit ihm zu den Kriegsgräbern und flößten ihm Scham ein darüber, daß er den Deutschen nicht böse sein konnte. Und wer war der vierte? Orlando, ein Italiener.“ Das Urteil über den „Idealisten“ Woodrow Wilson bedarf der Erläuterung: Die Deutschen hatten ihn mit ihrer Friedensnote vom Dezember 1916 in seiner Vermittlerrolle gekränkt, sodann mit der Ankündigung der Wiederaufnahme des unbeschränkten U-Boot-Krieges (1. Februar 1917) über etwaige Zweifel bezüglich des Kriegseintritts der USA hinweggeholfen. Die Sprengkraft des Selbstbestimmungsrechts der Völker hat er – anders als die Briten, Protagonisten des Gleichgewichts – nicht sehen wollen. Über Details, etwa den „Brunner“ (Brenner) und die Ethnographie Südtirols, zeigte sich der Historiker Wilson uninformiert. Entgegen besserem Wissen erklärte er 1919 im Kongreß, von Geheimverträgen wie dem Londoner Geheimabkommen (26. April 1915), das den Italienern Südtirol, Dalmatien und ein Stück vom Kuchen der Türkei versprach, sowie dem Sykes-Picot-Abkommen (16. Mai 1916), welches den Nahen Osten zwischen England und Frankreich aufteilte, nichts gewußt zu haben. Von den „14 Punkten“ samt den neun Zusätzen, auf welche die Deutschen seit dem Notenwechsel im Oktober 1918 sowie „im Traumland der Waffenstillstandsperiode“ (Ernst Troeltsch) gesetzt hatten, blieben am Ende nur mehr der Völkerbund, die Zerlegung Österreich-Ungarns sowie der durch Sonderstatus für Danzig und Abtrennung Westpreußens „gesicherte Zugang Polens zum Meer“ übrig. Als am 7. Mai 1919 das Traktat der deutschen Delegation übergeben wurde, bestritt Graf Brockdorff-Rantzau „nachdrücklich, daß Deutschland, dessen Volk überzeugt war, einen Verteidigungskrieg zu führen, allein mit der Schuld belastet wird“. In den letzten fünfzig Jahren habe „der Imperialismus aller europäischen Staaten die internationale Lage chronisch vergiftet“. Die Empörung reichte im Reichstag von der USPD bis zu den Deutschnationalen. Am 12. Mai sprach Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann vor der in die Berliner Universitätsaula einberufenen Nationalversammlung: „Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt.“ Als die Sieger die Änderung des Kriegsschuldartikels 231 sowie den Verzicht auf Auslieferung der „Kriegsverbrecher“ mit dem Kaiser an der Spitze ablehnten, zerbrach die patriotische Einheit. Scheidemann und der auf Nichtunterzeichnung beharrende Graf Brockdorff-Rantzau traten zurück. Zur Unterzeichnung fuhren der neue Außenminister Hermann Müller (SPD) und der Verkehrsminister Johannes Bell (Zentrum) nach Versailles. „If I were a German, I think I should never sign it.“ Nahezu allen Beteiligten erschien der „zweite Versailler Frieden“ (Clemenceau) als Diktat. Von Woodrow Wilson ist der Satz überliefert: „If I were a German, I think I should never sign it.“ Am 22. Mai 1919 schrieb als Mitglied der britischen Delegation der südafrikanische General Jan Smuts an Lloyd George: „Ich bin überzeugt, daß wir bei der ungebührlichen Vergrößerung Polens nicht nur das Verdikt der Geschichte umstürzen, sondern einen politischen Kardinalfehler begehen, der sich noch im Lauf der Geschichte rächen wird.“ Jetzt prophezeite der „Realist“ David Lloyd George – im August 1936 machte er Hitler auf dem Obersalzberg die Aufwartung – im Hinblick auf Danzig, von dort werde der nächste Krieg ausgehen. Derlei Zitate sind anno 2009 in deutschen Schulbüchern nur noch selten zu finden. Geschichtspolitischer Reduktionismus – in absteigender Linie von Fischers Thesen zum „Griff nach der Weltmacht“ (1959/1961) über den „Historikerstreit“ 1986, die „Wehrmachtsausstellung“ 1995 bis zu Daniel J. Goldhagen, dem von Jürgen Habermas assistierten simplificateur terrible (1997) – gehört zum bundesrepublikanischen Curriculum. Selbst im Lehrplan des bayerischen Kultusministeriums für die gymnasiale Oberstufe erscheint im Kontext der Unterrichtseinheit „Die Weimarer Republik – Demokratie ohne Demokraten?“ die zentrale Problematik nur noch unter dem Rubrum „Versailles als Diffamierungsparole“. Der Stoff der Tragödie verkommt zur geschichtsdidaktischen Gebrauchsanweisung; historische Amnesie dient, der 1989/90 erneut zugefallenen nationalen Einheit zum Trotz, der Etablierung des postnationalen Wertesystems. Die Gedenksymbolik der Berliner Demokratie perpetuiert die NS-Verbrechen im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Der Vertrag von Versailles, der materiell-reale und politisch-psychologische Schlüssel zum Verständnis des 20. Jahrhunderts, gerät zur Fußnote.
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