Das Vertriebenengesetz sollte auch
ihnen die Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft erleichtern: Mutter mit Kindern im Flüchtlingslager Harkenbleck bei Hannover. |
»... wie ein Grundgesetz der Vertriebenen«
Vor 60 Jahren wurde das Bundesvertriebenengesetz verkündet
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Mit Interesse begleitete das Ostpreußenblatt sein Entstehen
von Manuel Ruoff
Am 22. Mai 1953 wurde die erste Fassung des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge im Bundesgesetzblatt verkündet. Zwei Wochen später trat es in Kraft. Heute kennen insbesondere Heimatvertriebene das Bundesvertriebenengesetz vor allem wegen des Paragrafen 96 betreffs der Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen und Flüchtlinge und Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Aber das war nicht immer so.
Abgesehen von diesem Paragrafen 96 betrifft das Bundesvertriebenengesetz mit seinen acht Abschnitten Allgemeine Bestimmungen, Verteilung, Rechte und Vergünstigungen, Behörden und Beiräte, Aufnahme, Namensführung, Beratung, Kultur, Forschung und Statistik, Strafbestimmungen sowie Übergangs- und Schlussvorschriften heutzutage eher die Spätaussiedler als die Heimatvertriebenen. Das war nicht immer so, wie der Name bereits vermuten lässt. Das spiegelt sich auch in der Berichterstattung in der größten Vertriebenenzeitung der Bundesrepublik Deutschland, dem Ostpreußenblatt.
Bereits zwei Jahre vor dem Inkrafttreten stellte die Zeitung unter der Überschrift „Ein Gesetz als Charta der Vertriebenen“ den Kern des Gesetzes beziehungsweise des damaligen Gesetzentwurfs als eine Reihe von Bestimmungen vor, „die für das Schicksal der Vertriebenen sehr wichtig sind“. Was damals für den Gesetzentwurf galt, gilt heute nicht weniger für das Gesetz: „Es ist natürlich unmöglich, in einem kurzen Zeitungsaufsatz den Inhalt eines so wichtigen Gesetzesantrages erschöpfend wiederzugeben.“
Erst im übernächsten Jahr, in der Nummer 10 vom 5. April 1953, konnte das Ostpreußenblatt berichten: „Das Frühjahr 1953 hat auch die Vertriebenen mit allerlei Hoffnungen erfüllt. Allein es scheint, wir haben etwas zu viel erwartet und zu wenig daran gedacht, dass, wo immer Entscheidungen von Menschen abhängen, es auch allzu leicht menschelt. Freilich hat der Bundestag, wenn auch unter wenig erbaulichen Begleitumständen, das Vertriebenengesetz verabschiedet und wir sind damit nach vielen Jahren des Wartens und Zeitvertrödelns einen wesentlichen Schritt vorangekommen.“ Mit den „wenig erfreulichen Begleitumständen“, die auch dafür verantwortlich waren, dass sich die Gesetzesverabschiedung so lange hinzog, ist der Streit zwischen westdeutschen sowie ostdeutschen (und mitteldeutschen) Landwirten beziehungsweise deren Interessenvertretungen um die Verteilung des westdeutschen Grund und Bodens im Allgemeinen und deren Regelung im Vertriebenengesetz im Besonderen gemeint. Dieser „Bauernkrieg“, wie das Ostpreußenblatt ihn humorvoll nannte, war auch die Ursache, dass sich die Gesetzesverabschiedung länger als ursprünglich erwartet hinzog.
Mit „Grüner Front“ meint die „Ostpreußen-Warte“ – das von Hellmuth Kurt Wander herausgegebene und vom Eichland-Verlag in Göttingen verlegte „Heimatblatt aller Ost- und Westpreußen“, so der Untertitel – die Interessenvertretung der westdeutschen Landwirte, wenn es dort in der April-Nummer unter der Überschrift „Vertriebenengesetz verabschiedet“ heißt: „Das Bundesvertriebenengesetz ist nach heißen und harten Kämpfen vom Bundestag am Mittwoch, den 25. März mit Dreiviertelmehrheit verabschiedet worden, so dass es in Kürze in Kraft treten wird. Die Funktionäre der ,Grünen Front‘ hatten in den Beratungen der letzten Wochen alles aufgeboten, um die für die heimatvertriebenen Bauern günstigen Bedingungen zu Fall zu bringen. Sie können den traurigen Ruhm für sich in Anspruch nehmen, dass ihnen ihr kurzsichtiges und engstirniges Vorhaben im Großen und Ganzen gelungen ist. Die um ihre Wiederwahl in den Bundestag besorgten Vertreter der ,Grünen Front‘ haben einen echten Ausgleich verhindert und damit zahllosen ostvertriebenen Bauern die Möglichkeit genommen, im Westen wieder sesshaft zu werden. Die turbulenten Szenen im Bundestag bei den Beratungen über das Vertriebenen-Gesetz bewiesen, wie sehr gewisse Volksvertreter von einem gesamtdeutschen Denken und Fühlen entfernt sind.“
Nach dieser Abrechnung mit der „Grünen Front“ führt die Zeitung aus, was trotz deren Widerstands von der bevorzugten landwirtschaftlichen Ansiedlung von Vertriebenen im Vertriebenengesetz übriggeblieben ist, beispielsweise, „dass bei der Vergabe von Neusiedlerstellen das neu anfallende Siedlungsland nach Fläche und Güte ,mindestens zur Hälfte‘ den Vertriebenen zuzuteilen ist. Die Einheimischen sind ,gleichrangig‘ zu berücksichtigen. Die ursprünglich im Gesetz vorgesehene Steuer- und Abgabenvergünstigung in Fällen der Einheirat von Vertriebenen fiel dagegen auf Drängen der ,Grünen Front‘ fort. Auch die Bestimmung, dass landwirtschaftliche Gebäude und Ländereien für die Ausstattung eines sogenannten wüsten Hofes in Anspruch genommen werden könnten, fiel der Opposition der ,Grünen Front‘ zum Opfer. Das Gesetz bestimmt jetzt lediglich, dass nur solches Land in Anspruch genommen werden kann, dass sich im Eigentum des Bundes und der Länder befindet. Private Ländereien können für die Vertriebenenansiedlung nur dann beansprucht werden, wenn sie schlecht bewirtschaftet sind. Hierdurch wird die pachtweise Inanspruchnahme von Land also erheblich eingeschränkt.“
Trotz dieser Einschränkungen und der beklagten Erfolge der „Grünen Front“ – ein Begriff, den Kenner der österreichischen Geschichte eigentlich eher mit der in der Ersten Republik durch den Landbund für Österreich gegründeten Bauernwehr verbinden – stimmten auch die Vertriebenenvertreter in der Regierungskoalition für das Vertriebenengesetz. Der damalige Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Linus Kather, der für die Regierungspartei Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE) im Deutschen Bundestag saß, begründete diese Zustimmung mit den übrigen Teilen des Gesetzes.
Auch der Bauernverband der Vertriebenen fällte auf seiner Mitgliederversammlung ein letztlich positives Urteil über das Gesetz: „Die heimatvertriebenen Landwirte haben lange auf dieses Gesetz warten müssen. Die Bestimmungen des landwirtschaftlichen Teiles erfüllen nicht alle Erwartungen, die auf die notwendige Landbeschaffung gesetzt wurden. Dennoch sehen wir in dem Gesetz die Grundlage und Voraussetzung zur beschleunigten Eingliederung und damit zur Erhaltung des ostdeutschen Bauerntums. Wir danken allen denen, die unbeirrt für dieses Gesetz eingetreten sind.“
Am 24. April 1953 stimmte schließlich auch der Bundesrat zu. Unter der Überschrift „Vertriebenengesetz wird Wirklichkeit“ war dann am 1. Mai in den „Ostpreußischen Nachrichten“, die von der gleichnamigen Verlags- und Vertriebsgesellschaft im Haus der ostdeutschen Heimat in Berlin herausgegeben wurden, auch zu lesen, warum das Gesetz trotz der als unzulänglich empfundenen landwirtschaftlichen Bestimmungen seitens der Vertriebenen eine breite Zustimmung fand: „Mit dem Bundesvertriebenengesetz ist neben das Lastenausgleichsgesetz, in dem die Entschädigung aller durch den Krieg und die Kriegsfolgen Betroffenen geregelt wird, so etwas wie ein Grundgesetz der Vertriebenen getreten. In dem Gesetz wird zum ersten Mal eine eindeutige Definition der Begriffe ,Heimatvertriebene‘, ,Vertriebene‘ und ,Sowjetzonenflüchtlinge‘ gegeben und ihre Rechte und Vergünstigungen einheitlich geregelt. In dem Gesetz werden die besonderen Eingliederungsmaßnahmen für die einzelnen Berufsgruppen der Vertriebenen zusammengefasst und festgelegt. Beschränkungen im geltenden Landes- und Gemeinderecht, die darin bestehen, dass die Ausübung von Rechten an besondere Beziehungen wie Geburtsort und Wohnsitz zu einem Land oder einer Gemeinde geknüpft sind, werden in Zukunft für die Vertriebenen entfallen. Das Gesetz sieht auch eine grundsätzliche Gleichstellung mit den Einheimischen auf dem Gebiet der Sozialversicherung vor und enthält eine Schuldenregelung für die Vertriebenen. Das Gesetz enthält weiter einen Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung.“
Rückblickend lässt sich feststellen, dass die Integration der Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland gelungen ist wie kaum eine andere Eingliederung von Flüchtlingen vergleichbarer Größenordnung in der Geschichte. Der Erfolg hat viele Väter. Wenn es auch umstritten sein mag, inwieweit dieser eine Folge des Bundesvertriebenengesetzes, des damit nicht zu verwechselnden Lastenausgleichsgesetzes, des Einsatzes der Vertriebenen oder der Solidarität der Westdeutschen ist, so ist er selber doch nicht zu leugnen.
Allerdings ist es auch gerade diese gelungene Integration, die jenen Gegnern der Vertriebenen im In- und Ausland in die Hände spielt, die auf eine biologische Lösung setzen. Da die der Erlebnisgeneration folgenden Generationen in der Regel in relativem Wohlstand aufgewachsen sind beziehungsweise aufwachsen und in Staat und Gesellschaft nicht gegenüber Gleichaltrigen benachteiligt werden, ist häufig kein Leidensdruck, keine Sehnsucht nach der Heimat der Vorväter, in der es einem vermeintlich besser ergehen würde, vorhanden. Wenn nicht ohnehin global gedacht wird, findet häufig eine Identifikation mit der bundesdeutschen Gegend statt, in der man geboren und aufgewachsen ist. Dort hat man eine Kindheit in geordneten Verhältnissen verlebt, ist als Gleicher unter Gleichen behandelt worden. Das geht im Zweifelsfall sogar so weit, dass eine Hamburger Studentin mit Vertriebenenhintergrund ernsthaft meinte, sie sei froh, dass ihre Eltern vertrieben worden seien, denn so lebe sie in einer pulsierenden Weltstadt statt in der Pampa.
Es ist nicht zuletzt auch die in dieser Aussage
zum Ausdruck kommende Kombination aus fehlender Identifikation mit den
Vertreibungsgebieten und Unwissenheit über deren hohen kulturellen
Entwicklungsstand, die den Paragrafen 96 heute wichtiger denn je macht. Denn vor
60 Jahren waren die materiellen Probleme groß, aber dafür war die Bedeutung der
Vertreibungsgebiete noch präsent. Heute ist es eher umgekehrt. Für viele
Multiplikatoren in den Medien, aber auch in den staatlichen
Bildungseinrichtungen endet Deutschland an Oder und Neiße, und das nicht nur in
der Gegenwart, sondern auch rückwirkend für die deutsche Geschichte. Da ist der
Paragraf 96 ein Anknüpfungspunkt zur Gegenwehr.
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