„Deutsche Weihnacht in Tharau wäre
ein Traum“
Ein Interview mit Hans Günter
Parplies
geführt von Moritz Schwarz
Herr
Parplies, wann werden Sie Weihnachten mit einem deutschen Gottesdienst in der „Ännchen“-Kirche
feiern können?
Parplies: Wir sind froh,
wenn wir dieses Kleinod ostdeutscher Kultur und europäischer Architektur vor dem
Verfall retten können.
Es gibt zahllose verfallende
Dorfkirchen in Ostpreußen. Warum wäre Weihnachten gerade in der „Ännchen“-Kirche
etwas so Besonderes?
Parplies: Eben weil es die
Kirche der berühmten „Ännchen von Tharau“ ist. Die im 17. Jahrhundert geborene Pfarrerstochter
wurde durch diese Ode, die zu den beeindruckendsten deutschen Volksliedern zählt,
unsterblich. Verfaßt vom Barockdichter Simon Dach, übersetzt aus dem Niederdeutschen
von keinem Geringeren als Johann Gottfried Herder und letztgültig vertont von Friedrich
Silcher, dem Vater des deutschen Volksliedes im 19. Jahrhundert, liegt ihr Geheimnis
darin, daß es das wohl schönste und innigste Liebeslied in deutscher Sprache ist.
Noch heute gehört es zu den beliebtesten Volksliedern, und es zeugt von der Kraft
und der Größe eines Textes, wenn er auch nach fast vierhundert Jahren im Volke noch
lebendig ist.
Zum Mythos des „Ännchen“ hat
auch beigetragen, daß es sich angeblich um die verschlüsselte Liebeserklärung eines
unglücklich Liebenden handelt.
Parplies: Danach soll Dach
selbst in Ännchen verliebt gewesen sein, doch entschied sie sich für einen anderen,
einen Freund Dachs. Der bestellte prompt ein Liebeslied für seine Hochzeit – und
zwar nichtsahnend ausgerechnet bei Dach! So konnte der ihr zwar seine Liebe gestehen,
aber freilich, ohne daß es ihr je offenbar wurde. Das ist natürlich eine schön erfundene,
todtraurige Geschichte. Leider ist nichts daran wahr, tatsächlich war „Ännchen von
Tharau“ eine der üblichen Auftragsarbeiten der florierenden Dichterwerkstatt Dachs.
Was aber hat das mit Weihnachten
zu tun?
Parplies: An sich hat „Ännchen
von Tharau“ mit Weihnachten nichts zu tun, die klassische deutsche Weihnacht ist
allerdings ein besinnliches Fest, und da spielt das gemeinsame Singen eine große
Rolle. Heute dominiert dagegen immer mehr der Event-Charakter, eine reizüberflutende
Dekoration, teures Schenken, und die Musik kommt von der CD. Ich glaube, in Vertriebenenkreisen
haben sich das Zusammenkommen und auch das gemeinsame Singen noch bewahrt. Denn
durch die dort stärkere Zersplitterung der Familien spielt das Zusammensein zu Weihnachten
für uns vielleicht noch eine größere Rolle.
Kein einziger Deutscher
mehr in Tharau
Weihnachten
hat für die Vertriebenen also eine zusätzliche Bedeutung?
Parplies:
Ich denke ja, denn für uns hat Weihnachten immer auch eine besondere innere
Verbundenheit mit der Heimat. Die hohe Zeit der Weihnacht ist schließlich die Kindheit.
In diesem Alter wird unser Begriff davon geprägt. Ich war etwa elf Jahre alt, als
ich meine letzte Weihnacht zu Hause erlebte. Mehr denn je ist die Heilige Nacht
also mit Gefühlen an die alte Heimat verbunden.
War die ostpreußische Weihnacht
anders?
Parplies: Das würde ich an
sich nicht sagen, Christbaum, Kirchgang, Weihnachtsgans, anderntags der Karpfen,
der zuvor noch in der Badewanne schwamm, Bratäpfel und Weihnachtslieder, das war
bei uns wie überall. Freilich lag in Ostpreußen in jedem Winter Schnee, und das
macht einen erheblichen Unterschied. Denn ohne Schnee ist die Welt im Winter trüb
und grau, mit Schnee aber hell und voller Glanz, die Welt ist wie in Watte gepackt.
Wer nach der Christvesper durch Schnee nach Hause geht, erlebt ein anderes Weihnachten.
Warum wird es keine evangelische
Christvesper mehr in der „Ännchen“-Kirche geben?
Parplies: Weil heute kein
einziger Deutscher mehr in Tharau lebt. Das Dorf hat 1945 das gleiche Schicksal
erlitten wie das übrige Ostpreußen. Die Menschen die heute dort leben, sprechen
nicht mehr unsere Sprache und haben einen anderen Glauben.
Dennoch haben Sie 1999 einen
Förderverein gegründet, um die Kirche zu retten.
Parplies: Natürlich nicht
nur wegen des Mythos vom „Ännchen von Tharau“, sondern auch, weil die Kirche in
wunderschöner Klarheit den backsteingotischen Stil der Epoche des Deutschen Ordens,
also der Zeit der deutschen Kolonisierung des Landes, verkörpert. Es sind in den
Städten die Tore, Wehrtürme und Rathäuser, auf dem Land die Ordenskirchen, die mit
ihren roten Ziegeldächern und wuchtigen Türmen weithin sichtbar sind und die vor
allem den Charakter Ostpreußens als einer einmaligen Kulturlandschaft ausmachen.
Es geht also nicht nur um den denkmalpflegerischen Erhalt eines Gebäudes, sondern
um die letzten Zeugen der deutschen Identität Ostpreußens als einer in dieser Form
einzigartigen Kulturlandschaft.
„Da habe ich den
Satz begriffen, ‘ihm ward das Herz wie Stein’“
Wäre das nicht Aufgabe der Bundesregierung?
Parplies: Realistisch gesehen
würde das den Etat jeder Regierung, auch der in dieser Hinsicht gutwilligsten, überfordern.
Selbst bei uns hier muß man ja private Spender finden, um historische Gebäude zu
erhalten.
Als Sie Tharau das erstemal besuchten,
waren Sie erschüttert.
Parplies: Es ging mir so
wie zu Ostern 1991, als ich zum erstenmal nach dem Krieg Königsberg wiedersah. Damals
habe ich den Satz aus den Märchen begriffen, „... und ihm ward das Herz wie Stein“.
Denn Tharau ist heute nur noch ein traurige Ansammlung von Hütten und heruntergekommenen
Häusern, die vom Nachbarort mitverwaltet werden. Um so beeindruckender ist es, wenn
man den kleinen Hügel hinansteigt, auf dem die imposante Kirche majestätisch thront.
Man steht dann vor einer gewaltigen Bresche in der Kirchenwand. Denn unter dem Kommunismus
diente der Bau als Magazin, und um Traktoren ins Kirchenschiff zu fahren, wurde
ein großes Loch in den Ostchor gebrochen. Wer durch die Bresche tritt, über dem
öffnet sich der Himmel der Gotik, ein wunderschönes Sterngewölbe von erhabener Schlichtheit,
dazwischen jedoch riesige Löcher, die den Blick in die Wolken freigeben, denn der
Dachstuhl war verschwunden. Und dabei ist die Kirche in Tharau noch in relativ gutem
Zustand. 85 Prozent der 224 Kirchen Nordostpreußens sind bereits so verfallen, daß
sie nicht mehr zu retten sind.
Wie regieren die heutigen Tharauer
auf die Arbeit des Förderkreis?
Parplies: Die sind davon
angetan, daß überhaupt etwas bei ihnen passiert. Und übrigens identifiziert man
sich durchaus mit dem Ännchen. So hatten Tharauer Jugendliche auf Balken in der
Kirche zum Beispiel in kyrillischer Schrift Sprüche wie „Ännchen forever!“ eingeschnitten.
Überhaupt kam ein Anstoß für unser Projekt auch durch die Fotodokumentation eines
russischen Fotografen, Anatolij Bachtin, zustande, der den Verfall der deutschen
Kirchen liebevoll festgehalten hat.
„Mit ‘Ännchen von
Tharau’ den Bundeskanzler beeindrucken“
Seit 2006 hat das Kirchenschiff
wieder ein Dach, seit diesem Jahr auch der Turm, aber der Innenausbau steht aus.
Parplies: Es war schwer genug,
die Gelder dafür zusammenzubekommen, und ohne den Besuch Kanzler Schröders in Ostpreußen
2005, in dessen Folge es gelang, zwei potente Spender aus der Wirtschaft zu gewinnen,
hätten wir das nötige Geld nicht aufbringen können. Übrigens, beim Besuch Schröders
trug ein russischer Chor ihm zu Ehren „Ännchen von Tharau“ vor, offenbar weil man
meinte, das würde auf einen deutschen Kanzler den größten Eindruck machen.
Ihr Ziel ist die vollständige
Restaurierung?
Parplies: Das ist bezüglich
der Innenausgestaltung wohl nicht realistisch. Mit dem Dach ist die Kirche erstmal
wetterfest, daß heißt, der Verfall durch Witterung halbwegs gestoppt. Jetzt geht
es darum, eine Nutzung für das Bauwerk zu etablieren, die den Bestand des Gebäudes
auf Dauer sichert. Wir waren zu diesem Zweck mit dem russischen Museum für Kunst
und Geschichte des Gebietes in Königsberg in guten Verhandlungen, das das Kirchenschiff
für Ausstellungen und damit auch für den Tourismus nutzen wollte. Durch die weltweite
Finanzkrise, die natürlich auch Rußland schwer getroffen hat, wurden diese Planungen
jetzt abrupt abgebrochen.
Am liebsten würden Sie das Gebäude
der russisch-orthodoxen Kirche übergeben. Warum?
Parplies: Weil für eine Wiederherstellung
der historischen deutschen evangelischen Kirche von Tharau eine Gemeinde fehlt.
Unser Ziel ist die Rettung des Gebäudes an sich, und nur wenn wir einen Träger dafür
finden, ist der Bestand gesichert. Wir setzen dafür jetzt auf eine Zusammenarbeit
mit der russisch-orthodoxen Kirche, die das Gebäude unter Beibehaltung seiner äußeren
Gestalt in ihre Obhut übernehmen und das Kirchenschiff längerfristig für religiöse
Zwecke nutzen will. Uns bleibt damit der Innenausbau des Turms, der auch eine kleine
Ausstellung über die Geschichte der Kirche und des Dorfes sowie eine Aussichtsplattform
erhalten soll, von der man bei gutem Wetter bis aufs Frische Haff und nach Königsberg
sehen kann. Deutsche Weihnachten in der „Ännchen“-Kirche zu Tharau, das allerdings
bleibt wohl leider für immer ein Traum.
Hans Günther Parplies ist
Mitgründer und Vize-Vorsitzender des Förderkreises Kirche Tharau und Vorsitzender
der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen. Geboren wurde der Jurist und ehemalige
Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen 1933 in Marienburg an der Nogat. Der 1999
gegründete Förderkreis sammelt Spenden zum Erhalt und Wiederaufbau der historischen
„Ännchen“-Kirche im ostpreußischen Tharau (Sparkasse Köln/Bonn, KTN 46 001 046,
BLZ 370 501 98).
Kontakt und Informationen: Förderkreis
Tharau, Am Bungert 31, 53227 Bonn, Telefon: 0228 / 44 51 61
1636 dichtete Simon Dach – oder
ein Dichter aus dessen Umgebung – das Lied „Ännchen von Tharau“, das zu den schönsten
und wichtigsten deutschen Volksliedern gehört. In siebzehn Strophen erinnert es
für die Ewigkeit an die Liebe zu der historischen Pfarrerstochter Anna Neander (1615
bis 1689) aus Tharau (ehemals Regierungsbezirk Königsberg). Die um 1320 erbaute
Kirche ihres Vaters zählt zu den architektonisch bedeutendsten Dorfkirchen Ostpreußens.
Den Krieg überstand sie unbeschadet, verkam dann aber zur Ruine. Seit 2006 laufen
Sicherungsarbeiten.
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