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Vertreibung 1944

 


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Das letzte gemeinsame Familienfoto: Die Eltern Glas mit ihren Kindern Karl, Fritz (Mitte) und Erna
Das letzte gemeinsame Familienfoto: Die Eltern Glas mit ihren Kindern Karl, Fritz (Mitte) und Erna

 Das Drama plagt mich noch heute“
Die Ermordung und Vertreibung der Donauschwaben in Jugoslawien ab 1944
Von Martina Meckelein

Mit vorgehaltenen Waffen treiben die Partisanen die Deutschen aus den Häusern auf die Wiese am Bahnhof. Es sind ausschließlich alte Frauen, alte Männer und Kinder. Zwei der Kinder sind Friedrich und Erna Glas. Geschwister. Der Junge ist zwölf, das kleine Mädchen zwei Jahre alt. Ihre Mutter wurde schon vor drei Monaten verschleppt, der Vater ist Soldat der Wehrmacht. Sie müssen sich in Fünferreihen aufstellen. Jeder hält einen Koffer oder eine Tasche in der Hand. Es ist ein warmer Frühlingstag an diesem 15. April 1945. Durch die Reihen marschieren die Partisanen, schreien auf serbisch ihre Opfer an. Die Partisanen packen die alten Frauen, filzen sie nach versteckten Wertsachen. Wer sie nicht freiwillig herausgibt, wird erschossen, drohen sie. Das Gepäck der Deutschen rauben sie sofort.

Dies sind die Erinnerungen von Friedrich Glas über seine Vertreibung aus seinem Heimatort Bulkes in der Batschka. Drei Tage und zwei Nächte wird er auf dieser Wiese am Bahnhof verbringen, umstellt von mit Pistolen und Gewehren bewaffneten Partisanen. Dann beginnt der Abtransport. In einem Zug, der aus Schotterwaggons mit niedrigen Wänden bestanden hat. Sein Ziel: das Vernichtungslager Jarek.

Russen verschleppten alle arbeitsfähigen Deutschen

„Ich wuchs in Bulkes auf, das liegt in der fruchtbaren Donautiefebene“, erinnert sich heute Friedrich Glas. Nunmehr ist der kleine Junge von damals, der auf sein Schwesterchen aufpaßte, 87 Jahre alt und lebt in Bayern. „Kaiser Joseph II. siedelte 1786 dort deutsche evangelische Kolonisten an.“ Auch Glas Familie gehörte dazu. Der Ort bot 2.716 Menschen Heimat und Auskommen. Glas Vater war Schneidermeister, seine Mutter Hausfrau. Dann kam der Krieg. „1943 wurde mein Vater in die Wehrmacht eingezogen, er war, weil er Serbisch und Ungarisch sprechen konnte, in Budapest stationiert.“ Dann bricht die Front zusammen, die Menschen versuchen zu fliehen. „Die ersten Partisanen, das waren militärische Einheiten aus Russen und Titos Armee, marschierten Mitte Oktober 1944 in unser Dorf ein.“ Bis dahin hatte Friedrich Glas noch keinen russischen Soldaten gesehen. „Zuerst mußten sich alle Männer zwischen 14 und 75 in der Kommandantur melden, die kamen alle ins Arbeitslager. Dann, Ende 1944, holten sie alle Frauen ins Arbeitslager, wie meine Mutter. Die verschleppten sie Weihnachten 1944 nach Anthrazit, Sowjetunion, in den Bergbau unter Tage.“ Am 15. April 1945 werden die übrigen Bewohner von Bulkes, es sind 972, zusammengetrieben. 664 von ihnen werden in den nächsten zwölf Monaten sterben.

Das Geschichtsbild der tapferen Antifaschisten, der Partisanen Titos, die gegen die bösen Deutschen ehrenhaft kämpften, mag in Serbien noch in jedem Schulbuch gelehrt werden. Mit der Realität hat es keineswegs etwas zu tun. Doch über den zigtausendfachen Mord an den Donauschwaben schweigen selbst führende serbische Persönlichkeiten bis heute. Ihre Waffen sind Hunger, Knüppel, Revolver. Ganze Familien wurden ausgelöscht. „Im kommunistischen Jugoslawien wurde das Thema der deutschen Minderheiten mit einem Tabu belegt“, ist in dem von der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung/Donauschwäbisches Zentralmuseum herausgegebenen Tagungsband „Vom „Verschwinden der deutschsprachigen Minderheiten“ zu lesen. „Die offizielle Sprachregelung hieß, daß die Deutschen „verschwunden“ seien – einerseits suggerierte der Begriff, daß sie sich mit der Wehrmacht „zurückgezogen“ hätten, andererseits wurde der Begriff euphemistisch verwendet. Rund 170.000 Donauschwaben wurden, so die Donauschwäbische Arbeitsgemeinschaft in Österreich (DAG), in Lager getrieben: „Die Arbeitsfähigen kamen in die Arbeitslager, die Arbeitsunfähigen transportierte man in die insgesamt zehn Vernichtungslager Tito-Jugoslawiens, die sich auf dem Boden der Vojvodina, Slawoniens sowie Sloweniens befunden haben. In die Vernichtungslager kamen Mütter mit Kleinkindern bis zu zwei Jahren, Kinder bis 14 Jahre, Alte über 60 Jahre und Kranke.“ Die DAG geht von 65.000 ermordeten Volksdeutschen aus.

Gerstensuppe voller Maden und Ungeziefer

Lebten vor dem Zweiten Weltkrieg rund 550.000 Deutsche in Jugoslawien, sind es heute schätzungsweise nur noch wenige Hundert. Die, die davonkamen, die überlebten, wurden in alle Winde zerstreut. Grundlage für die Enteignung, Vertreibung und Inhaftierung der Volksdeutschen in Jugoslawien waren die sogenannten AVNOJ-Beschlüsse des Antifaschistischen Rates der Volksbefreiung Jugoslawiens (Antifašisticko vece narodnog oslobodjenja Jugoslavije, serbische Schreibweise) vom 21. November 1944. Die Kommunisten sahen die Volksdeutschen als rechtlos und vogelfrei an, da sie mit dem Feind, also den Deutschen, kollaboriert hatten. Die Folgen bestanden in Vertreibung, Enteignung und Vernichtung. Allein in der Batschka errichteten die Kommunisten drei Konzentrationslager: Jarek, Gakowo und Kruschiwl.

Gedenkstätte für über 7.000 Ermordete des Lagers JarekDie KZ richteten die Kommunisten in den von den Deutschen verlassenen Dörfern ein. So war auch Jarek ein rein deutsches Dorf gewesen, eine der letzten josephinischen Gründungen. 2.000 Menschen lebten hier bis zum 7. Oktober 1944, dann gingen sie auf die Flucht. Die Heuschober waren durch die Ernte und die Speisekammern mit Nahrung prall gefüllt. Innerhalb kürzester Zeit war alles geplündert. Nachzulesen ist das auf der Internetseite „Heimat-Orts-Gemeinschaft des donauschwäbischen Dorfes Jarek in der Batschka“.

„Wir kamen in der Nacht am 17. April 1945 in Jarek an. Wir durften kein Wort sagen, wir bekamen nichts zu essen und zu trinken. Während der Entladung starb schon eine alte Frau. Unsere Bewacher hatten sie einfach vom Waggon geworfen. Unsere Bewacher waren junge Männer, reinster Mob“, erinnert sich Glas. Wieder mußten die Deutschen in Fünferreihen antreten. Sie wurden durch das Dorf getrieben, links und rechts der Straßen in die Häuser gepfercht. „Wir wohnten als Deutsche auf der westlichen Seite der Rudolfgasse, die Ungarn auf der östlichen Seite. Die wurden Anfang Juni entlassen. Wohin sie gebracht wurden, weiß ich nicht. In jeder Stube waren wir zehn bis 15 Personen. In der Küche sieben. In den Häusern gab es kein Bett, keine Decke, kein Bild mehr an der Wand. Die Brunnen waren zugeschüttet. Als erstes gruben die Frauen hinter jedem Haus ein Loch aus, als Latrine.“

Die Lagerinsassen werden morgens um fünf durch die Kirchenglocken geweckt. „Jedes Haus hatte einen Capo, der Meldung über die Anzahl der noch Lebenden und Toten machte.“ Zu essen gab es nur ungesalzene Gerstensuppe voller Maden und Ungeziefer oder ungesalzenes hartes Maisbrot. Die Menschen erkrankten an Krankheiten wie Fleckfieber, Dystrophie, Ruhr, oder einfach an Erschöpfung. Fast jeden Tag mußten wir antreten und wurden immer wieder gefilzt.“ An einem dieser Tage entdecken die Partisanen bei Friedrichs Großmutter Schmuck, den sie bisher vor der Tito-Soldateska verstecken konnte – ein paar Ohrringe. Die Partisanen schlugen die alte Frau und traktierten sie mit dem Gewehrkolben. Es wird nicht das letzte Mal sein, daß sie die Schläge der brutalen Bewacher ertragen muß, sie wird daran sterben.

Friedrich muß sich um seine kleine Schwester kümmern. Er trägt Erna auf dem Arm stundenlang herum. „Fünf Worte konnte sie sprechen. Fitzi, so nannte sie mich, Mama, Doodo, das heißt Papa, Brot und Hunger.“ Sein Cousin Karli, der ebenfalls mit ihnen ins Lager getrieben worden war, ein siebenjähriges Kind, war verstummt.

„Ich versuchte durch Betteln etwas zu Essen zu besorgen. Das war riskant. Einmal erwischte mich der kleine Bruder der Lagerkommandantin Jana Dragoljovic auf der Gasse. Er zielte mit einem Revolver auf mich und schlug dann doch nur mit dem Kolben auf meinen Kopf ein. Zwei Bulkeser Buben behaupten, sie kennen einen Bettelweg. Den würden sie ihm verraten, wenn er ihnen Nahrung besorgt. „Ich bin drauf reingefallen. Ich wurde natürlich gefaßt und kam in den Keller der Kommandantur. Als die Partisanen mich nach zwei Tagen ohne Essen und Trinken zu meinen Großeltern und meiner Schwester entließen, lag meine kleine Schwester im Sterben. Sie schaute mich nur noch mit großen Augen an. Sie ist dann gestorben, verhungert. Das ist das Drama, das mich noch heute plagt“, sagt Friedrich Glas unter Tränen. „Die beiden Buben saßen derweil auf einer Stufe im Treppenhaus und aßen etwas und grinsten mich an. Sie überlebten übrigens Jarek.“

Zwei Urgroßmütter, eine Großmutter und ein Großvater von Friedrich Glas sterben schon in den ersten Wochen im Lager. Seine Großmutter Katharina Lang, die die Ohrringe versteckt hatte, wird bei einem Bettelgang von Partisanen halb totgeschlagen, sie stirbt am 3. August.

Nach einem gescheiterten Bettelgang in die ungarische Nachbargemeinde Temerin wird am 14. September 1945 sein Schulfreund Peter Kendl durch einen Partisanen vorsätzlich erschossen und Friedrich durch einen zweiten durch einen Hals- und Hüftdurchschuß schwer verletzt.

Er schlachtet Mitte Februar 1946 mit zwei weiteren Kindern eine Katze, um zu überleben. Dabei werden sie erwischt. Mit Fußtritten und Kolbenschlägen ihrer Gewehre treiben zwei Partisanen bei grimmiger Kälte die drei Kinder zur Kommandantur. Dort wird Friedrich wieder für zwei Tage im Keller eingesperrt. Nach der Freilassung simuliert der Wachposten vor der Kommandantur eine Erschießung mit dem Gewehr. „Ich starb fast vor Angst“, erinnert er sich.

Ein anderes Mal, etwa Ende Februar 1946, schneidet er aus dem Schenkel eines gerade erschossenen Pferdes, das angeblich der Lagerkommandantin gehörte, ein riesiges Stück Fleisch heraus, um es heimlich zu kochen und zu essen. „Das war noch ganz warm.“

Die überlebenden Kinder sollten slawisiert werden

Friedrich Glas und sein kleiner verstummter Cousin Karli überleben nicht nur Jarek, sondern auch zwei weitere Vernichtungslager, Kruschiwl und Gakowo. Im April 1947 kommt Karli in ein slowenisches Kinderheim und Friedrich in eines im Banat, später in eines nach Montenegro. „Wir Kinder sollten slawisiert werden. Wir durften nur serbisch sprechen.“ Wieder versucht Friedrich zu fliehen – erfolglos. In Titograd macht er später eine Lehre als Automechaniker. „Der Meister und die Kollegen waren ausnahmslos deutsche Kriegsgefangene.“ Und dann passieren einige unglaubliche Begebenheiten, Friedrich Glas nennt sie noch heute Wunder, die ihn mit seinen Eltern wieder zusammenbringen – in Österreich. Der Vater war schon 1945 aus russischer Gefangenschaft entlassen worden, die Mutter, nach einem schweren Unfall im Bergwerk 1947.

Aber alle fünf Jahre gedenkt Friedrich Glas seiner Familie in Jarek. Und immer wieder erscheint am 27. Juni eine Traueranzeige mit dem Foto eines Kleinkindes: Zum Gedenken an den Menschen, der ihn Fitzi genannt hat.
 

Quelle:
© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG 
www.jungefreiheit.de 34/20 / 14. August 2020


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